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DER GROSSE KONFLIKT

Inhalt

Einleitung

KAPITEL
KAPITEL

   Anhang


 
Einleitung

     Ehe die Sünde in die Welt kam, erfreute sich Adam eines freien Verkehrs mit seinem Schöpfer; aber seit der Mensch sich durch die Übertretung von Gott trennte, wurde ihm dies hohe Vorrecht entzogen. Durch den Erlösungsplan wurde jedoch ein Weg geöffnet, durch den die Bewohner der Erde noch immer mit dem Himmel in Verbindung treten können. Gott hat mit den Menschen durch seinen Geist verkehrt und der Welt göttliches Licht vermittels der Offenbarungen an seine erwählten Knechte mitgeteilt. „Die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben von dem Heiligen Geist.“ (2. Petr. 1, 21.)
     Während der ersten 2500 Jahre der menschlichen Geschichte gab es keine geschriebene Offenbarung. Die von Gott gelehrt worden waren, teilten ihre Erkenntnis anderen mit, und sie pflanzte sich vom Vater auf den Sohn durch die kommenden Geschlechter fort. Die Herstellung des geschriebenen Wortes begann zur Zeit Moses, und zwar wurden die vom Geiste Gottes eingegebenen Offenbarungen zu einem inspirierten Buch vereinigt. Dies geschah 1600 Jahre lang, von Mose, dem Geschichtschreiber der Schöpfung und der Gesetzgebung an, bis auf Johannes, den Schreiber der erhabensten Wahrheiten des Evangeliums.
     Die Bibel bezeichnet Gott als ihren Urheber, und doch wurde sie von Menschenhänden geschrieben und zeigt auch in dem eigenartigen Stil ihrer verschiedenen Bücher die besonderen Züge der jeweiligen Verfasser. Ihre offenbarten Wahrheiten sind alle von Gott eingegeben (2. Tim. 3, 16), gelangen aber in menschlichen Worten zum Ausdruck. Der Unendliche hat durch seinen Heiligen Geist den Verstand und das Herz seiner Knechte erleuchtet. Er hat Träume und Gesichte, Symbole und Bilder gegeben, und diejenigen, denen die Wahrheit auf solche Weise offenbart wurde, haben die Gedanken in menschliche Sprache gekleidet.
     Die Zehn Gebote wurden von Gott selbst gesprochen und mit seiner eigenen Hand geschrieben. Sie sind von Gott und nicht von Menschen verfaßt. Aber die Bibel mit ihren von Gott eingegebenen, in menschlicher Sprache ausgedrückten Wahrheiten stellt eine Verbindung des Göttlichen mit dem Menschlichen dar. Eine solche Vereinigung bestand in Christus, welcher der Sohn Gottes und des Menschen Sohn war. Mithin gilt dasselbe von der Bibel, was von Christus geschrieben steht: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ (Joh. 1, 14.)
     In verschiedenen Zeitaltern und von Menschen geschrieben, die dem Rang und der Beschäftigung, dem Verstand und den Geistesgaben nach sehr ungleich waren, bieten die Bücher der Bibel nicht nur eine große Verschiedenheit im Stil, sondern auch in der Natur der entfalteten Gegenstände dar. Die verschiedenen Schreiber bedienen sich verschiedener Ausdrucksweisen; oft wird die gleiche Wahrheit von dem einen nachdrücklicher betont als von dem andern. Und da mehrere Schreiber einen Gegenstand von verschiedenen Gesichtspunkten und Beziehungen betrachten, mag der oberflächliche, nachlässige oder mit Vorurteil erfüllte Leser da Ungereimtheiten oder Widersprüche sehen, wo der nachdenkende, andächtige Forscher mit klarerer Einsicht die zugrunde liegende Übereinstimmung erblickt.
     Da die Wahrheit von verschiedenen Persönlichkeiten vorgeführt wird, sehen wir sie auch von ihren verschiedenen Gesichtspunkten aus. Der eine Schreiber steht mehr unter dem Eindruck von der einen Seite des Gegenstandes; er erfaßt die Punkte, welche mit seiner Erfahrung übereinstimmen oder in dem Maße, wie er sie begreift oder würdigt; ein anderer nimmt sie von einer anderen Seite auf, aber jeder stellt das dar, was unter der Leitung des Geistes Gottes auf sein eigenes Gemüt den stärksten Eindruck macht, und so hat man in jedem eine bestimmte Seite der Wahrheit und doch eine vollkommene Übereinstimmung in allem. Und die auf diese Weise offenbarten Wahrheiten verbinden sich zu einem vollkommenen Ganzen, das den Bedürfnissen der Menschen in allen Umständen und Erfahrungen des Lebens angepaßt ist.
     Es hat Gott gefallen, der Welt die Wahrheit durch menschliche Werkzeuge mitzuteilen, und er selbst hat vermittels seines Heiligen Geistes die Menschen befähigt, dies Werk zu verrichten. Er hat die Gedanken geleitet in der Wahl dessen, was zu reden oder zu schreiben war. Der Schatz war irdischen Gefäßen anvertraut worden, ist aber nichtdestoweniger vom Himmel. Das Zeugnis wird vermittels der unvollkommenen Ausdrücke der menschlichen Sprache getragen und ist dennoch das Zeugnis Gottes, und das gehorsame, gläubige Gotteskind sieht darin die Herrlichkeit einer göttlichen Macht, voller Gnade und Wahrheit.
     In seinem Wort hat Gott den Menschen die zur Seligkeit nötige Erkenntnis übergeben. Die Heilige Schrift soll als eine maßgebende, rechtskräftige, untrügliche Offenbarung seines Willens angenommen werden. Sie ist der Maßstab des Charakters, der Kundgeber der Vorschriften, der Prüfstein der Erfahrung. „Alle Schrift, von Gott eingegeben, ist nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der Gerechtigkeit, daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk geschickt.“ (2. Tim. 3, 16. 17.)
     Doch hat die Tatsache, daß Gott seinen Willen dem Menschen durch sein Wort offenbart hat, die beständige Gegenwart und Leitung des Heiligen Geistes nicht überflüssig gemacht. Im Gegenteil, unser Heiland verhieß den Heiligen Geist, damit dieser seinen Knechten das Wort eröffne, dessen Lehren beleuchte und anwende. Und da der Geist Gottes die Bibel eingab, ist es auch unmöglich, daß die Lehren des Geistes dem Wort je entgegen sein können.
     Der Geist wurde nicht gegeben und kann auch nie dazu mitgeteilt werden, um die Bibel zu verdrängen; denn die Schrift erklärt ausdrücklich, daß das Wort Gottes der Maßstab ist, an welchem alle Lehren und jede Erfahrung geprüft werden müssen. Der Apostel Johannes sagt: „Glaubet nicht einem jeglichen Geist, sondern prüfet die Geister, ob sie von Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt.“ (l. Joh. 4, 1.) Und Jesaj a erklärt: ja, nach dem Gesetz und Zeugnis! Werden sie das nicht sagen, so werden sie die Morgenröte nicht haben." (Jes. 8, 20.)
     Große Schmach ist auf das Werk des Heiligen Geistes geworfen worden durch die Irrtümer etlicher Menschen, welche beanspruchen, von ihm erleuchtet zu sein und behaupten, einer weiteren Führung des Wortes Gottes nicht mehr zu bedürfen. Sie lassen sich von Eindrücken leiten, die sie für die Stimme Gottes in der Seele annehmen; aber der Geist, der sie beherrscht, ist nicht der Geist Gottes. Ein solches Befolgen der Gefühle, wodurch die Heilige Schrift vernachlässigt wird, kann nur zu Verwirrung, Täuschung und Verderben führen. Da das Amt des Heiligen Geistes für die Gemeinde Christi von höchster Wichtigkeit ist, gehört es auch zu den listigen Anschlägen Satans, durch die Irrtümer der Überspannten und Schwärmer Verachtung auf das Werk des Geistes zu werfen und das Volk Gottes zu veranlassen, diese Quelle der Kraft, welche uns der Herr selbst vorgesehen hat, zu vernachlässigen.
     In Übereinstimmung mit dem Worte Gottes sollte der Heilige Geist sein Werk während der ganzen Zeit der Gnadenhaushaltung des Evangeliums fortsetzen. Während der Zeit, da die Schriften des Alten und Neuen Testamentes gegeben wurden, hörte der Heilige Geist nicht auf, außer den Offenbarungen, welche dem heiligen Buche einverleibt werden sollten, auch die Seelen einzelner zu erleuchten. Die Bibel selbst berichtet, daß Menschen durch den Heiligen Geist Warnungen, Tadel, Rat und Belehrungen empfingen in Angelegenheiten, die in keiner Beziehung zur Ubermittlung der Heiligen Schrift standen, und zu verschiedenen Zeiten werden Propheten erwähnt, über deren Aussprüche nichts verzeichnet steht. Gleicherweise sollte, nachdem der Kanon der Schrift abgeschlossen war, der Heilige Geist auch weiterhin sein Werk, zu erleuchten, zu warnen und Gottes Kinder zu trösten, fortsetzen.
     Jesus verhieß seinen Jüngern: „Aber der Tröster, der Heilige Geist, welchen mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch erinnern alles des, das ich euch gesagt habe.“ „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten, ... und was zukünftig ist, wird er euch verkündigen.“ (Joh. 14, 26; 16, 13.) Die Schrift lehrt deutlich, daß diese Verheißungen, weit davon entfernt, auf die Zeit der Apostel beschränkt zu sein, für die Gemeinde Christi in'allen Zeiten gelten. Der Heiland versichert seinen Nachfolgern: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“ (Matth. 28, 20), und Paulus erklärt, daß die Gaben und Kundgebungen des Geistes der Gemeinde gegeben worden seien, damit „die Heiligen zugerichtet werden zum Werk des Amts, dadurch der Leib Christi erbaut werde, bis daß wir alle hinankommen zu einerlei Glauben und Erkenntnis des Sohnes Gottes und ein vollkommener Mann werden, der da sei in dem Maße des vollkommenen Alters Christi.“ (Eph. 4, 12. 13.)
     Für die Gläubigen zu Ephesus betete der Apostel: „Der Gott unseres Herrn Jesu Christi, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und der Offenbarung zu seiner selbst Erkenntnis und erleuchtete Augen eures Verständnisses, daß ihr erkennen möget, welche da sei die Hoffnung eurer Berufung, und ... welche da sei die überschwengliche Größe seiner Kraft an uns, die wir glauben.“ (Eph. 1, 17-19.) Das Amt des Geistes Gottes in der Erleuchtung des Verständnisses und dem Auftun der Tiefen der Heiligen Schrift war der Segen, welchen Paulus auf die Gemeinde zu Ephesus herabflehte.
     Nach der wunderbaren Ausgießung des Heiligen. Geistes am Pfingsttage ermahnte Petrus das Volk zur Buße und Taufe im Namen Christi zur Vergebung ihrer Sünden und sagte: „So werdet ihr empfangen die Gabe des Heiligen Geistes. Denn euer und eurer Kinder ist diese Verheißung und aller, die ferne sind, welche Gott, unser Herr, herzurufen wird.“ (Apg. 2, 38. 39.)
     Im unmittelbaren Zusammenhang mit den Begebenheiten des großen Tages Gottes hat der Herr durch den Propheten Joel eine besondere Offenbarung seines Geistes verheißen. (Joel 3, 1.) Diese Prophezeiung erhielt eine teilweise Erfüllung in der Ausgießung des Heiligen Geistes am Pfingsttage; aber sie wird ihre volle Erfüllung in der Offenbarung der göttlichen Gnade erreichen, weiche das Schlußwerk des Evangeliums begleiten wird.
     Der große Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen wird an Heftigkeit zunehmen bis ganz ans Ende der Zeit. Zu allen Zeiten offenbarte sich der Zorn Satans gegen die Gemeinde Christi; und Gott hat seinem Volk seine Gnade und seinen Geist verliehen, um es zu stärken, damit es vor der Macht des Bösen bestehen könne. Als die Apostel das Evangelium in die Welt hinaustragen und es für alle Zukunft berichten sollten, wurden sie besonders mit der Erleuchtung des Geistes ausgerüstet. Wenn sich aber der Gemeinde Gottes die schließliche Befreiung naht, wird Satan mit größerer Macht wirken. Er kommt herab „und hat einen großen Zorn und weiß, daß er wenig Zeit hat.“ (Offb. 12, 12.) Er wird „mit allerlei lügenhaftigen Kräften und Zeichen und Wundern“ wirken. (2. Thess. 2, 9.) 6000 Jahre lang hat jener mächtige Geist, einst der höchste unter den Engeln Gottes, es völlig auf Täuschung und Verderben abgesehen, und alle dadurch erlangte satanische Kunst und Verschlagenheit, alle in diesem jahrhundertelangen Ringen entwickelte Grausamkeit werden in dem letzten Kampf gegen Gottes Volk ins Feld geführt werden. In dieser gefahrvollen Zeit sollen die Nachfolger Christi der Welt die Botschaft von der Wiederkunft des Herrn bringen; ein Volk muß zubereitet werden, das bei seinem Kommen "unbefleckt und unsträflich“ vor ihm stehen kann. (2. Petr. 3, 14.) Zu dieser Zeit bedarf die Gemeinde der besonderen Gabe der göttlichen Gnade und Macht nicht weniger als in den Tagen der Apostel.
     Durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes sind mir, der Verfasserin dieser Seiten, die Ereignisse des langanhaltenden Kampfes zwischen dem Guten und dem Bösen offenbart worden. Etliche Male wurde es mir gestattet, den großen Kampf zwischen Christus, dem Fürsten des Lebens, dem Herzog unserer Seligkeit, und Satan, dem Fürsten des Bösen, dem Urheber der Sünde, dem ersten Übertreter des heiligen Gesetzes Gottes, in verschiedenen Zeitaltern zu schauen. Satans Feindschaft gegen Christum hat sich gegen dessen Nachfolger bekundet. Derselbe Haß gegen die Grundsätze des Gesetzes Gottes, dieselben trügerischen Pläne, durch welche der Irrtum als Wahrheit erscheint, menschliche Gesetze an Stelle des Gesetzes Gottes gebracht und die Menschen verleitet werden, eher das Geschöpf als den Schöpfer anzubeten, können in der ganzen Geschichte der Vergangenheit verfolgt werden. Satans Bemühungen, den Charakter Gottes verkehrt darzustellen, um die Menschen dahinzubringen, eine falsche' Vorstellung von dem Schöpfer zu hegen und ihn daher eher mit Furcht und Haß als mit Liebe zu betrachten, seine Anstrengungen, das göttliche Gesetz beiseite zu setzen und das Volk glauben zu machen, daß es von dessen Anforderungen frei sei; sein Verfolgen derer, die es wagen, sich seinen Täuschungen zu widersetzen, lassen sich in allen Jahrhunderten deutlich nachweisen. Sie können in der Geschichte der Patriarchen, Propheten und Apostel, der Märtyrer und Reformatoren wahrgenommen werden.
     In dem letzten großen Kampf wird Satan dieselbe Klugheit anwenden, denselben Geist bekunden und nach demselben Ziel streben wie in allen vergangenen Zeiten. Was gewesen ist, wird wieder sein, ausgenommen daß sich der kommende Kampf durch eine so schreckliche Heftigkeit kennzeichnet, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Satans Täuschungen werden schlauer, seine Angriffe entschlossener sein. Wenn es möglich wäre, würde er selbst die Auserwählten verführen. (Mark. 13, 22.)
     Als mir durch den Geist Gottes die großen Wahrheiten seines Wortes und. die Ereignisse der Vergangenheit und der Zukunft erschlossen wurden, erhielt ich den Auftrag, anderen bekanntzumachen, was mir offenbart worden war, nämlich die Geschichte des Kampfes in der Vergangenheit zu verfolgen und sie besonders so darzustellen, daß dadurch Licht. auf den rasch herannahenden Kampf der Zukunft geworfen werde. In Verfolgung dieser Absicht habe ich mich bestrebt, Ereignisse aus der Kirchengeschichte zu wählen und auf solche Weise zusammenzustellen, daß sie die Enticklung der großen prüfenden Wahrheiten zeigen, welche zu verschiedenen Zeiten der Welt gegeben wurden, die den Zorn Satans und die Feindschaft einer verweltlichten Kirche erregten und die durch das Zeugnis derer aufrechterhalten werden, welche „nicht haben ihr Leben geliebt bis an den Tod.“
     In diesen Berichten können wir ein Bild des uns bevorstehenden Kampfes erblicken. Wenn wir sie in dem Licht des Wortes Gottes und durch die Erleuchtung seines Geistes betrachten, können wir unverhüllt die Anschläge des Bösen und die Gefahren sehen, welchen alle ausweichen müssen, die beim Kommen des Herrn „unsträflich" erfunden werden wollen.
     Die großen Ereignisse, welche den Fortschritt der Reformation in vergangenen Jahrhunderten kennzeichneten, sind wohlbekannte und von der protestantischen Welt allgemein anerkannte geschichtliche Tatsachen, die niemand bestreiten kann. Diese Schilderung habe ich in Übereinstimmung mit dem Zweck des Buches und der Kürze, welche notwendigerweise beobachtet werden mußte, deutlich dargestellt und so weit zusammengedrängt, wie es zu einem richtigen Verständnis ihrer Anwendung möglich war. In etlichen Fällen, wo ein Geschichtschreiber die Ereignisse so zusammengestellt hat, daß sie in aller Kürze einen gedrängten Überblick über den Gegenstand gewährten, oder wo er die Einzelheiten in passender Weise zusammenfaßte, sind seine Worte angeführt worden; aber in einigen Fällen wurden keine Namen erwähnt, da sie nicht in der Absicht angeführt wurden, den betreffenden Schreiber als Autorität hinzustellen, sondern weil seine Aussagen eine treffende und kraftvolle Darstellung des Gegenstandes boten. In der Beschreibung der Erfahrungen und der Ansichten derer, welche das Reformationswerk in unserer Zeit vorwärtsführen, wurde von ihren veröffentlichten Werken ein ähnlicher Gebrauch gemacht.
     Es ist nicht so sehr der Zweck dieses Buches, neue Wahrheiten über die Kämpfe früherer Zeiten zu bringen, als Tatsachen und Grundsätze hervorzuheben, welche einen Einfluß auf kommende Ereignisse haben. Jedoch erlangen diese Berichte über die Vergangenheit, angesehen als ein Teil des Kampfes zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis, eine neue Bedeutung, und durch sie scheint ein Licht auf die Zukunft und erleuchtet den Pfad derer, welche selbst auf die Gefahr hin, aller irdischen Güter verlustig zu gehen, wie die früheren Reformatoren berufen werden, Zeugnis abzulegen „um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses Jesu Christi.“
     Der Zweck dieses Buches ist, die Begebenheiten des großen Kampfes zwischen Wahrheit und Irrtum zu beschreiben, Satans listige Anschläge und die Mittel, durch welche wir ihm erfolgreich widerstehen können, zu offenbaren, eine befriedigende Lösung des großen Problems der Sünde zu geben, indem ein derartiges Licht über den Ursprung und die schließliche Abrechnung mit allem Bösen gegeben wird, daß dadurch die Gerechtigkeit und die Güte Gottes in all seinem Handeln mit seinen Geschöpfen völlig offenbar werde, sowie die heilige, unveränderliche Natur seines Gesetzes zu zeigen. Daß durch den Einfluß des Buches Seelen von der Macht der Finsternis befreit und Teilhaber werden am „Erbe der Heiligen im Licht" zum Lobe dessen, der uns geliebt und sich selbst für uns dahingegeben hat, ist mein ernstliches Gebet.  E.G.W. Healsdburg, Cal., Mai, 1888.


 
KAPITEL 1

DIE ZERSTÖRUNG JERUSALEMS

„Wenn doch auch du erkenntest zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten; und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum daß du nicht erkannt hast die Zeit, darin du heimgesucht bist.“ (Luk. 19, 42-44.)
Vom Gipfel des Ölberges herab schaute Jesus auf Jerusalem. Lieblich und friedvoll war die vor ihm ausgebreitete Szene. Es war die Zeit des Passahfestes, und von allen Ländern hatten sich die Kinder Jakobs versammelt, um dies große Nationalfest zu feiern. Inmitten von Gärten, Weinbergen und grünen, mit Zelten der Pilger besäten Abhängen, erhoben sich die terrassenförmig abgestuften Hügel, die stattlichen Paläste und massiven Bollwerke der Hauptstadt Israels. Die Tochter Zions schien in ihrem Stolz zu sagen: „Ich sitze als eine Königin,... und Leid werde ich nicht sehen;“ So anmutig war sie und wähnte sich der Gunst des Himmels sicher, wie ehedem der königliche Sänger, da er ausrief: „Schön ragt empor der Berg Zion, des sich das ganze Israel tröstet; ... die Stadt des großen Königs.“ (Offb. 18, 7; Ps. 48, 3.) Gerade vor seinen Augen lagen die prächtigen Gebäude des Tempels; die Strahlen der sinkenden Sonne erhellten das schneeige Weiß seiner marmornen Mauern und leuchteten von dem goldenen Tor, dem Turm und der Zinne. In vollendeter Schönheit stand Zion da, der Stolz der jüdischen Nation. Welches Kind Israels konnte bei diesem Anblick ein Gefühl der Freude und der Bewunderung unterdrücken! Aber weit andere Gedanken beschäftigten das Gemüt Jesu. „Als er nahe hinzukam, sah er die Stadt an und weinte über sie.“ (Luk. 19, 41.) Inmitten der allgemeinen Freude des triumphierenden Einzuges, während Palmzweige ihm entgegenwehten, fröhliche Hosiannarufe von den Hügeln widerhallten und Tausende von Stimmen ihn zum König ausriefen, überwältigte den Welterlöser ein plötzlicher und geheimnisvoller Schmerz. Er, der Sohn Gottes, der Verheißene Israels, dessen Macht den Tod besiegt und seine Gefangenen aus den Gräbern hervorgerufen hatte, weinte - keine Tränen eines gewöhnlichen Wehes, sondern eines heftigen, unaussprechlichen Seelenschmerzes.
Christi Tränen flossen nicht um seinetwillen, obgleich er wohl wußte, wohin sein Weg ihn führte. Vor ihm lag Gethsemane, der Schauplatz seines bevorstehenden Seelenkampfes. Das Schaftor war ebenfalls sichtbar, durch welches seit Jahrhunderten die Schlachtopfer geführt worden waren, und das sich auch vor ihm auftun sollte, wenn er „wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt“ (Jes. 53, 7) würde. Nicht weit entfernt lag Golgatha, die Stätte der Kreuzigung. Auf den bald zu betretenden Pfad mußten die Schatten großer Finsternis fallen, da Christus seine Seele zu einem Sühnopfer für die Sünde geben sollte. Doch war es nicht die Betrachtung derartiger Szenen, die in dieser Stunde der allgemeinen Fröhlichkeit den Schatten auf ihn warf. Keine Vorahnungen seiner eigenen übermenschlichen Angst trübten das selbstlose Gemüt. Er beweinte das Los der Tausenden in Jerusalem, die Blindheit und Unbußfertigkeit derer, die er zu segnen und zu retten gekommen war.
Gottes besondere Gunst und Fürsorge, die sich über tausend Jahre dem auserwählten Volke offenbart hatte, lagen offen vor dem Blick Jesu. Dort erhob sich der Berg Morija, wo der Sohn der Verheißung, ein widerstandsloses Opfer, auf den Altar gebunden worden war (l. Mose 22, 9) - ein Sinnbild der Aufopferung des Sohnes Gottes. Dort war der Bund des Segens, die glorreiche messianische Verheißung, dem Vater der Gläubigen bestätigt worden. (l. Mose 22, 16-18.) Dort hatten die gen Himmel aufsteigenden Flammen des Opfers in der Tenne Omans das Schwert des Würgengels abgewandt (l. Chr. 21) - ein passendes Symbol von des Heilandes Opfer für die schuldigen Menschen. Jerusalem war von Gott vor der ganzen Erde geehrt worden. Der Herr hatte „Zion erwählt“, er hatte „Lust, daselbst zu wohnen.“ (Ps. 132, 13.) Dort hatten die heiligen Propheten jahrhundertelang ihre Botschaften der Warnung verkündigt; die Priester hatten ihre Rauchnäpfe geschwungen, und die Wolke des Weihrauchs mit den Gebeten der Frommen war zu Gott aufgestiegen. Dort war täglich das Blut der geopferten Lämmer dargebracht worden, die auf das Lamm Gottes hinwiesen. Dort hatte Jehovah in der Wolke der Herrlichkeit über dem Gnadenstuhl seine Gegenwart offenbart. Dort hatte der Fuß jener geheimnisvollen Leiter geruht, welche die Erde mit dem Himmel verband (l. Mose 28, 12; Joh. 1, 51) - jener Leiter, auf der die Engel Gottes auf- und niederstiegen und welche der Welt den Weg in das Allerheiligste öffnete. Hätte Israel als eine Nation dem Himmel seine Treue bewahrt, so würde Jerusalem, die auserwählte Stadt Gottes, ewig gestanden haben. (Jer. 17, 21-25.) Aber die Geschichte jenes bevorzugten Volkes gab einen Bericht über Abtrünnigkeit und Empörung. Es hatte sich der Gnade des Himmels widersetzt, seine Vorrechte mißbraucht und die günstigen Gelegenheiten unbeachtet gelassen.
Die Israeliten „spotteten der Boten Gottes- und verachteten seine Worte und äfften seine Propheten,“ (2. Chron. 36, 15. 16) und doch hatte Gott sich ihnen immer noch als der „Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue erwiesen.“ (2. Mose 34, 6.) Ungeachtet der wiederholten Verstoßungen war ihnen immer noch seine Gnade nachgegangen. Mit mehr als väterlicher, mitleidsvoller Liebe für das Kind seiner Sorge sandte Gott „zu ihnen durch seine Boten früh und immerfort; denn er schonte seines Volkes und seiner Wohnung.“ (2. Chron. 36, 15.) Nachdem Vorstellungen, Bitten und Zurechtweisungen fehlgeschlagen hatten, sandte er ihnen die beste Gabe des Himmels; ja er schüttete den ganzen Himmel in jener einen Gabe aus.
Der Sohn Gottes selbst wurde gesandt, um mit der unbußfertigen Stadt zu unterhandeln. War es doch Christus, der Israel als einen guten Weinstock aus Ägypten geholt hatte. (Ps. 80, 9.) Seine eigene Hand hatte die Heiden vor ihm her ausgetrieben. Er hatte ihn „an einen fetten Ort“ (Jes. 5, 1-4) gepflanzt. In seiner Fürsorge hatte er einen Zaun um ihn herum gebaut und seine Knechte ausgesandt, ihn zu pflegen. „Was sollte man doch mehr tun an meinem Weinberge,“ ruft er aus, „das ich nicht getan habe an ihm?“ Doch als er „wartete, daß er Trauben brächte,“ hat er „Herlinge gebracht.“ (Jes. 5, 1-4.) Dessen ungeachtet kam er mit einer noch immer sehnlichen Hoffnung auf Fruchtbarkeit persönlich in seinen Weinberg, damit dieser, wenn möglich, vor dem Verderben bewahrt bleibe. Er grub um den Weinstock herum; er beschnitt und pflegte ihn. Unermüdlich waren seine Bemühungen, diesen selbst gepflanzten Weinstock zu retten.
Drei Jahre lang war der Herr des Lichts und der Herrlichkeit unter seinem Volk ein- und ausgegangen. Er war umhergezogen und hatte wohlgetan und gesund gemacht alle, die vom Teufel überwältigt waren; (Apg. 10, 38; Luk. 4, 18; Matth. 11, 5;) Er hatte die zerstoßenen Herzen geheilt, die Gefangenen losgelassen, den Blinden das Gesicht wiedergegeben, die Lahmen gehen und die Tauben hören gemacht, die Aussätzigen gereinigt, die Toten auferweckt und den Armen das Evangelium verkündigt. An alle ohne Unterschied war die gnadenreiche Einladung ergangen: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.“ (Matth. 11, 28.)
Obgleich ihm Gutes mit Bösem und Liebe mit Haß belohnt wurde (Ps. 109, 5), so war er doch unverwandt seiner Mission der Barmherzigkeit nachgegangen. Nie waren diejenigen abgewiesen worden, die seine Gnade suchten. Selbst ein heimatloser Wanderer, dessen täglicher Teil Schmach und Entbehrung war, hatte er gelebt, um den Bedürftigen zu dienen, das Leid der Menschen zu lindern und Seelen zur Annahme der Gabe des Lebens zu bewegen. Die Wogen der Gnade, obgleich sie sich an widerspenstigen Herzen brachen, kehrten in noch stärkerer Flut mitleidsvoller, unaussprechlicher Liebe zurück. Aber Israel hatte sich von seinem besten Freunde und einzigen Helfer abgewandt, hatte die Mahnungen seiner Liebe verachtet, seine Ratschläge verschmäht, seine Warnungen verlacht.
Die Stunde der Hoffnung und der Gnade nahte sich dem Ende; die Schale des lange zurückgehaltenen Zornes Gottes war beinahe voll. Die nunmehr unheildrohende Wolke, die sich während der Zeit des Abfalles und der Empörung gesammelt hatte, war im Begriff, sich über ein schuldiges Volk zu entladen, und er, der allein von dem bevorstehenden Schicksal hätte retten können, war verachtet, mißhandelt, verworfen worden und sollte bald gekreuzigt werden. Mit Christi Kreuzestod auf Golgatha würde Israels Zeit als eine von Gott begünstigte und gesegnete Nation aufhören. Der Verlust auch nur einer Seele ist ein Unglück, welches den Gewinn und die Schätze einer Welt unendlich überwiegt. Als aber Christus auf Jerusalem blickte, sah er das Schicksal einer ganzen Stadt, einer ganzen Nation - jener Stadt, jener Nation, die einst die Auserwählte Gottes, sein besonderes Eigentum gewesen war.
Propheten hatten über den Abfall der Kinder Israel und die schrecklichen Verwüstungen geweint, welche infolge ihrer Sünden über sie ergingen. Jeremia wünschte, daß seine Augen Tränenquellen wären, daß er Tag und Nacht die Erschlagenen der Tochter seines Volkes und des Herrn Herde, die gefangen geführt worden war, beweinen möchte. (Jer. 8, 23; 13, 17.) Welchen Schmerz muß aber Christus empfunden haben, dessen prophetischer Blick nicht Jahre, sondern ganze Zeitalter umfaßte! Er sah den Würgengel mit dem Schwert gegen die Stadt erhoben, die so lange Jehovas Wohnstätte gewesen war. Von der Spitze des Ölberges, derselben Stelle, welche später von Titus und seinem Heer besetzt wurde, schaute er über das Tal auf die heiligen Höfe und Säulenhallen, und mit seinem tränenumflorten Auge erblickte er ein grauenhaftes Fernbild; die Stadtmauern von einem feindlichen Heer umzingelt. Er hörte das Stampfen der sich sammelnden Horden, vernahm die Stimmen der in der belagerten Stadt nach Brot schreienden Mütter und Kinder. Er sah ihren heiligen, prächtigen Tempel, die Paläste und Türme den Flammen preisgegeben, und wo sie einst gestanden hatten, sah er nur einen Haufen rauchender Trümmer.
Den Strom der Zeit hinabblickend, sah er das Bundesvolk in alle Länder zerstreut, gleich Wracks an einem öden Strande. In der zeitlichen Vergeltung, die im Begriff war, seine Kinder heimzusuchen, sah er die ersten Tropfen aus jener Zornesschale, die sie bei dem Gericht bis auf die Hefe leeren mußten. Göttliches Erbarmen, mitleidige Liebe fand ihren Ausdruck in den trauervollen Worten: Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!“ (Matth. 23, 37.) 0 daß du, das vor allen andern bevorzugte Volk, die Zeit deiner Heimsuchung und das, was zu deinem Frieden dient, erkannt hättest! Ich habe den Engel der Strafe aufgehalten, ich habe dich zur Buße gerufen, aber umsonst. Nicht nur Knechte, Boten und Propheten hast du abgewiesen, sondern den Heiligen Israels, deinen Erlöser, hast du verworfen; wenn du vernichtet wirst, so bist du allein verantwortlich. „Ihr wollt nicht zu mir kommen, daß ihr das Leben haben möchtet.“ (Joh. 5, 40)
Christus sah in Jerusalem ein Sinnbild der in Unglauben und Empörung verhärteten Welt, die dem wiedervergeltenden Gericht Gottes entgegeneilt. Die Leiden eines gefallenen Geschlechts bedrückten seine Seele und entlockten seinen Lippen jenen außerordentlich bittern Schrei. Er sah im menschlichen Elend, in Tränen und Blut die Spuren der Sünde; sein Herz wurde von unendlichem Mitleid mit den Bedrängten und Leidenden auf Erden bewegt; er sehnte sich danach, ihnen allen Erleichterung zu verschaffen. Aber selbst seine Hand vermochte nicht die Flut menschlichen Elends abzuwenden; denn nur wenige würden sich an ihre einzige Hilfsquelle wenden. Er war willens, seine Seele in den Tod zu geben, um ihnen die Erlösung erreichbar zu machen, aber nur wenige würden zu ihm kommen, daß sie das Leben haben möchten.
Die Majestät des Himmels in Tränen! Der Sohn des unendlichen Gottes niedergebeugt von Seelenangst! Dieser Anblick setzte den ganzen Himmel in Erstaunen. Jene Szene offenbart uns die überaus große Sündhaftigkeit der Sünde; sie zeigt, welch eine schwere Aufgabe es selbst für die göttliche Allmacht ist, die Schuldigen von den Folgen der Übertretung des Gesetzes zu retten. Hinunterschauend auf das letzte Geschlecht, sah Jesus die Welt von einer Täuschung befallen, ähnlich derer, welche die Zerstörung Jerusalems bewirkte. Die große Sünde der Juden war die Verwerfung Christi; das große Vergehen der christlichen Welt würde die Verwerfung des Gesetzes Gottes, der Grundlage seiner Regierung im Himmel und auf Erden, sein. Die Vorschriften Jehovas würden verachtet und verworfen werden. Millionen, in den Banden der Sünde und Sklaven Satans, verurteilt, den andern Tod zu erleiden, würden sich in den Tagen ihrer Heimsuchung weigern, auf die Worte der Wahrheit zu lauschen. Schreckliche Blindheit! Seltsame Betörung!
Zwei Tage vor dem Passahfest, als Christus zum letzten Male den Tempel verließ, wo er die Scheinheiligkeit der jüdischen Obersten bloßgestellt hatte, ging er abermals mit seinen Jüngern nach dem Ölberg und setzte sich mit ihnen auf den mit Gras bewachsenen Abhang, der einen Blick über die Stadt gewährte. Noch einmal schaute er auf ihre Mauern, Türme und Paläste; noch einmal betrachtete er den Tempel in seiner blendenden Pracht, ein Diadem der Schönheit, das den heiligen Berg krönte.
Tausend Jahre zuvor hatte der Psalmist die Güte Gottes gegen Israel gepriesen, weil er dessen heiliges Haus zu seiner Wohnstätte gemacht hatte: „Zu Salem ist sein Gezelt, und seine Wohnung zu Zion.“ Er „erwählte den Stamm Juda, den Berg Zion, welchen er liebte. Und baute sein Heiligtum hoch, wie die Erde, die ewiglich fest stehen soll.“ (Ps. 76, 3; 78, 68. 69.) Der erste Tempel war während der Glanzzeit der Geschichte Israels errichtet worden. Große Vorräte an Schätzen waren zu diesem Zweck vom König David gesammelt und die Pläne zu seiner Herstellung durch die göttliche Eingebung entworfen worden. (l. Chron. 28, 12. 19.) Salomo, der weiseste der Fürsten Israels, hatte das Werk vollendet. Dieser Tempel war das herrlichste Gebäude, welches die Welt je gesehen hatte. Doch hatte der Herr durch den Propheten Haggai betreffs des zweiten Tempels erklärt: „Es soll die Herrlichkeit dieses letzten Hauses größer werden, denn des ersten gewesen ist.„ „Ja, alle Heiden will ich bewegen. Da soll dann kommen aller Heiden Bestes; und ich will dies Haus voll Herrlichkeit machen, spricht der Herr Zebaoth.“ (Haggai 2, 9. 7.)
Nach der Zerstörung des Tempels durch Nebukadnezar wurde er ungefähr fünfhundert Jahre vor der Geburt Christi wieder erbaut von einem Volk, das aus einer lebenslänglichen Gefangenschaft in ein verwüstetes und beinahe verlassenes Land zurückgekehrt war. Unter ihm waren bejahrte Männer, welche die Herrlichkeit des salomonischen Tempels gesehen hatten und bei der Gründung des neuen Gebäudes weinten, daß es so sehr hinter dem ersten zurückstehen müsse. Das damals herrschende Gefühl wird von dem Propheten nachdrücklich beschrieben: „Wer ist unter euch übriggeblieben, der dies Haus in seiner vorigen Herrlichkeit gesehen hat? Und wie seht ihr's nun an? Ist's nicht also, es dünkt euch nichts zu sein?“ (Haggai 2, 3; Esra 3, 12.) Dann wurde die Verheißung gegeben, daß die Herrlichkeit dieses letzteren Hauses größer sein sollte, denn die des vorigen.
Der zweite Tempel kam jedoch dem ersten an Großartigkeit nicht gleich, wurde auch nicht durch jene sichtbaren Zeichen der göttlichen Gegenwart geheiligt, welche dem ersten Tempel eigen waren. Keine übernatürliche Macht offenbarte sich bei seiner Einweihung; die Wolke der Herrlichkeit erfüllte nicht das neu errichtete Heiligtum; kein Feuer fiel vom Himmel hernieder, um das Opfer auf seinem Altar zu verzehren. Die Herrlichkeit Gottes thronte nicht mehr zwischen den Cherubim im Allerheiligsten; die Bundeslade, der Gnadenstuhl und die Tafeln des Zeugnisses wurden nicht darin gefunden. Keine Stimme ertönte vom Himmel, um dem fragenden Priester den Willen Jehovas kundzutun.
Jahrhundertelang hatten die Juden vergebens versucht zu zeigen, inwiefern jene durch Haggai gegebene Verheißung Gottes erfüllt worden war; jedoch verblendeten Stolz und Unglauben ihre Gemüter, so daß sie die wahre Bedeutung der Worte des Propheten nicht verstehen konnten. Der zweite Tempel wurde nicht durch die Wolke der Herrlichkeit Jehovas geehrt, sondern durch die lebendige Gegenwart dessen, in dem die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnte - welcher Gott selbst war, offenbart im Fleische. Der „aller Heiden Bestes“ war tatsächlich zu seinem Tempel gekommen, als der Mann von Nazareth in den heiligen Vorhöfen lehrte und heilte. Durch die Gegenwart Christi, und zwar nur dadurch, übertraf der zweite Tempel den ersten an Herrlichkeit. Aber Israel hatte die angebotene Gabe des Himmels von sich gestoßen. Mit dem demütigen Lehrer, der an jenem Tage durch das Goldene Tor hinausgegangen, war die Herrlichkeit für immer von dem Tempel gewichen. Schon waren die Worte des Heilandes erfüllt: „Siehe, euer Haus soll euch wüst gelassen werden.“ (Matth. 23, 38.)
Die Jünger waren bei Jesu Weissagung von der Zerstörung des Tempels mit heiliger Scheu und mit Staunen erfüllt worden, und sie wünschten die Bedeutung seiner Worte völliger zu verstehen. Reichtum, Arbeit und Baukunst waren während mehr als vierzig Jahre in freigebiger Weise zu seiner Verherrlichung verwendet worden. Herodes der Große hatte ihm sowohl römischen Reichtum als auch jüdische Schätze zugewandt, und sogar der Kaiser der Welt ihn mit seinen Geschenken bereichert. Massive Blöcke weißen Marmors von beinahe fabelhafter Größe, zu diesem Zweck aus Rom herbeigeschafft, bildeten einen Teil seines Baues; und auf diese hatten die Jünger die Aufmerksamkeit ihres Meisters gelenkt, als sie sagten: „Meister, siehe, welche Steine und welch ein Bau ist das!“ (Mark. 13, 1.)
Auf diese Worte machte Jesus die feierliche und überraschende Erwiderung: „Wahrlich, ich sage euch: Es wird hier nicht ein Stein auf dem andern bleiben, der nicht zerbrochen werde.“ (Matth. 24, 2.)
Die Jünger verbanden mit der Zerstörung Jerusalems die Ereignisse der persönlichen Wiederkunft Christi in zeitlicher Herrlichkeit, um den Thron des Weltreiches einzunehmen, die unbußfertigen Juden zu strafen und das römische Joch am Halse der Nation zu zerbrechen. Der Herr hatte ihnen gesagt, daß er wiederkommen werde; deshalb richteten sich ihre Gedanken bei der Erwähnung der Gerichte, die über Jerusalem kommen sollten, auf jenes Kommen, und als sie auf dem Ölberg um den Heiland versammelt waren, fragten sie ihn: „Sage uns, wann wird das geschehen? Und welches wird das Zeichen sein deiner Zukunft und des Endes der Welt?“ (Matth. 24, 3.)
Die Zukunft war den Jüngern gnädiglich verhüllt. Hätten sie zu jener Zeit die zwei furchtbaren Tatsachen völlig verstanden - des Heilandes Leiden und Tod sowie die Zerstörung ihrer Stadt und ihres Tempels -, so würden sie von Entsetzen überwältigt worden sein. Christus gab ihnen einen Umriß der hervorragendsten Ereignisse, die vor dem Ende der Zeit stattfinden sollen. Seine Worte wurden damals nicht völlig verstanden; aber ihr Sinn sollte enthüllt werden, wann sein Volk der darin gegebenen Belehrung bedürfe. Die Prophezeiung, welche er aussprach, hatte eine doppelte Anwendung, indem sie sich zunächst auf die Zerstörung Jerusalems bezog und gleichzeitig die Schrecken des Jüngsten Tages schilderte.
Jesus erzählte den lauschenden Jüngern von den Gerichten, welche auf das abtrünnige Israel kommen sollten, und sprach besonders von der wiedervergeltenden Rache, die es wegen der Verwerfung und Kreuzigung des Messias ereilen werde. Untrügliche Zeichen sollten dem furchtbaren Ende vorausgehen. Die gefürchtete Stunde würde plötzlich und schnell hereinbrechen. Und der Heiland warnte seine Nachfolger: „Wenn ihr nun sehen werdet den Greuel der Verwüstung (davon gesagt ist durch den Propheten Daniel), daß er steht an der heiligen Stätte (wer das liest, der merke darauf!), alsdann fliehe auf die Berge, wer im jüdischen Lande ist.“ (Matth. 24, 15. 16; Luk. 21, 20.) Wenn die abgöttischen Standarten der Römer auf dem heiligen Boden, welcher sich einige Feldwege außerhalb der Stadtmauern ausdehnte, aufgepflanzt sein würden, dann sollten die Nachfolger Christi sich durch die Flucht retten. Wenn das Warnungszeichen sichtbar würde, dürften diejenigen, welche zu entrinnen wünschten, nicht zögern; im ganzen Lande Judäa, wie in Jerusalem selbst müßte man dem Zeichen zur Flucht sofort gehorchen. Wer gerade auf dem Dache sein würde, dürfte nicht ins Haus gehen, selbst nicht, um seine köstlichsten Schätze zu retten. Wer auf dem Felde oder im Weinberg arbeitete, sollte sich nicht die Zeit nehmen, wegen des Oberkleides, das er während der Hitze des Tages abgelegt hatte, zurückzukehren. Sie dürften nicht einen Augenblick zögern, wenn sie nicht in der allgemeinen Zerstörung mit zugrunde gehen wollten.
Während der Regierung des Herodes war Jerusalem nicht nur bedeutend verschönert worden, sondern durch die Errichtung von Türmen, Mauern und Festungswerken war die von Natur schon geschützte Stadt, wie es schien, uneinnehmbar geworden. Wer zu dieser Zeit öffentlich ihre Zerstörung vorhergesagt hätte, würde gleich Noah in seinen Tagen ein unsinniger Ruhestörer genannt worden sein. Christus aber hatte gesagt: „Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.“ (Matth. 24, 35.) Ihrer Sünde wegen war der Zorn über die Stadt Jerusalem angedroht worden, und ihr hartnäckiger Unglaube besiegelte ihr Schicksal.
Der Herr. hatte durch den Propheten Micha erklärt: „So höret doch dies, ihr Häupter im Hause Jakob und ihr Fürsten im Hause Israel, die ihr das Recht verschmäht, und alles, was aufrichtig ist, verkehret; die ihr Zion mit Blut bauet und Jerusalem mit Unrecht. Ihre Häupter richten um Geschenke, ihre Priester lehren um Lohn, und ihre Propheten wahrsagen um Geld, verlassen sich auf den Herrn und sprechen: Ist nicht der Herr unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen.“ (Micha 3, 9-1 L)
Diese Worte schilderten genau die verderbten und selbstgerechten Einwohner Jerusalems. Während sie behaupteten, die Vorschriften des Gesetzes Gottes streng zu beobachten, übertraten sie alle seine Grundsätze. Sie haßten Christum, weil seine Reinheit und Heiligkeit ihre Bosheit offenbarte; und sie klagten ihn an, die Ursache all des Unglücks zu sein, das infolge ihrer Sünden über sie gekommen war. Obwohl sie wußten, daß er sündlos war, erklärten sie, daß sein Tod zu ihrer Sicherheit als Nation notwendig sei. „Lassen wir ihn also,“ sagten die jüdischen Obersten, „so werden sie alle an ihn glauben; so kommen dann die Römer und nehmen uns Land und Leute.“ (Joh. 11, 48.) Wenn Christus geopfert würde, könnten sie noch einmal ein starkes, einiges Volk werden. So urteilten sie und stimmten der Entscheidung ihres Hohenpriesters bei, daß es besser sei, ein Mensch sterbe, denn daß das ganze Volk verderbe.
Auf diese Weise hatten die jüdischen Leiter „Zion mit Blut gebaut und Jerusalem mit Unrecht,“ und während sie ihren Heiland töteten, weil er ihre Sünden tadelte, war ihre Selbstgerechtigkeit so groß, daß sie sich als Gottes begnadigtes Volk betrachteten und vom Herrn erwarteten, er werde sie von ihren Feinden befreien. „Darum,“ fuhr der Prophet fort, „wird Zion um euretwillen wie ein Acker gepflügt werden, und Jerusalem wird zum Steinhaufen werden und der Berg des Tempels zu einer wilden Höhe.“ (Micha 3, 10. 12.)
Beinahe vierzig Jahre, nachdem das Schicksal Jerusalems von Christo selbst ausgesprochen worden war, verzog der Herr seine Gerichte über die Stadt und das Volk. Wunderbar war die Langmut Gottes gegen die Verwerfer seines Evangeliums und die Mörder seines Sohnes. Das Gleichnis vom unfruchtbaren Baum stellte das Verfahren Gottes mit dem jüdischen Volke dar. Das Gebot war ausgegangen: „Haue ihn ab! Was hindert er das Land?“ (Luk. 13, 7) aber die göttliche Gnade hatte ihn noch ein wenig länger verschont. Es gab noch viele Juden, die in bezug auf den Charakter und das Werk Christi unwissend waren; die Kinder hatten nicht die günstigen Gelegenheiten genossen und nicht das Licht empfangen, welches ihre Eltern von sich gestoßen hatten. Durch die Predigt der Apostel und ihrer Genossen wollte Gott auch ihnen das Licht scheinen lassen; ihnen wurde es gestattet zu sehen, wie die Prophezeiung nicht nur durch die Geburt und das Leben Christi, sondern auch durch seinen Tod und seine Auferstehung erfüllt worden war. Die Kinder wurden nicht um der Sünden ihrer Eltern willen verurteilt; wenn sie aber trotz der Kenntnis alles Lichtes, das ihren Eltern gegeben wurde, das hinzukommende, ihnen selbst gewährte Licht verwürfen, würden sie Teilhaber der Sünden ihrer Eltern und das Maß ihrer Missetat vollmachen.
Gottes Langmut gegen Jerusalem bestärkte die Juden nur in ihrer hartnäckigen Unbußfertigkeit. In ihrem Haß und ihrer Grausamkeit gegen die Jünger Jesu verwarfen sie das letzte Anerbieten der Gnade. Dann entzog Gott ihnen seinen Schutz; er beschränkte die Macht Satans und seiner Engel nicht länger, und die Nation wurde der Herrschaft des Leiters überlassen, den sie sich gewählt hatte. Ihre Kinder hatten die Gnade Christi verschmäht, die sie in den Stand gesetzt hätte, ihre bösen Triebe zu unterdrücken, und diese wurden nun Sieger. Satan erweckte die heftigsten und niedrigsten Leidenschaften der Seele. Die Menschen überlegten nicht; sie waren von Sinnen, wurden durch Begierde und blinde Wut geleitet. Sie wurden satanisch in ihrer Grausamkeit. In der Familie wie unter dem Volk, unter den höchsten wie unter den niedrigsten Klassen herrschte Argwohn, Neid, Haß, Streit, Empörung, Mord. Nirgends war Sicherheit zu finden. Freunde und Verwandte verrieten sich untereinander. Eltern erschlugen ihre Kinder und Kinder ihre Eltern. Die Führer des Volkes hatten keine Macht, sich selbst zu beherrschen. Ungezügelte Leidenschaften machten sie zu Tyrannen. Die Juden hatten ein falsches Zeugnis angenommen, um den unschuldigen Gottessohn zu verurteilen. Jetzt machten falsche Anklagen ihr eigenes Leben unsicher. Durch ihre Handlungen hatten sie lange gesagt: „Lasset den Heiligen Israels aufhören bei uns!“ (Jes. 30, 11.) Nun war ihr Wunsch gewährt; Gottesfurcht beunruhigte sie nicht länger. Satan stand an der Spitze der Nation, und die höchsten bürgerlichen und religiösen Obrigkeiten wurden von ihm beherrscht.
Die Anführer der Gegenparteien vereinigten sich zuzeiten, um ihre unglücklichen Opfer zu plündern und zu martern, und dann fielen sie übereinander her und mordeten ohne Gnade. Selbst die Heiligkeit des Tempels konnte ihrer schrecklichen Grausamkeit nicht wehren. Die Anbetenden wurden vor dem Altar niedergemetzelt, und das Heiligtum ward durch die Leichname der Erschlagenen verunreinigt. Und doch erklärten die Anstifter dieses höllischen Werkes in ihrer blinden und gotteslästerlichen Vermessenheit öffentlich, daß sie keine Furcht hätten, Jerusalem möchte zerstört werden, denn es sei Gottes eigene Stadt. Um ihre Macht fester zu gründen, bestachen sie falsche Propheten, die, selbst als die römischen Legionen den Tempel belagerten, verkündigen mußten, daß das Volk auf Befreiung von Gott warten solle. Bis aufs äußerste hielt die Menge an dem Glauben fest, daß der Allerhöchste sich zur Vernichtung der Gegner ins Mittel legen werde. Israel aber hatte den göttlichen Schutz verschmäht und stand nun ohne Verteidigung da. Unglückliches Jerusalem! Durch innere Spaltungen zerrissen, die Straßen gefärbt von dem Blut seiner Söhne, die sich gegenseitig würgten, während fremde Heere seine Festungswerke niederwarfen und seine Krieger erschlugen!
Alle Weissagungen Christi in bezug auf die Zerstörung Jerusalems wurden buchstäblich erfüllt. Die Juden erfuhren die Wahrheit seiner Warnungsworte: „Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.“ (Matth. 7, 2.)
Als Vorboten von Unglück und Gericht erschienen Zeichen und Wunder. Inmitten der Nacht schwebte ein unnatürliches Licht über dem Tempel und Altar. Auf den Abendwolken zeigten sich Bilder von Kriegern und Streitwagen, die sich zum Kampfe sammelten. Die nachts im Heiligtum dienenden Priester wurden erschreckt durch geheimnisvolle Töne; die Erde erbebte, und eine Menge Stimmen hörte man sagen: „Lasset uns von hinnen gehen!“ Das große östliche Tor, welches so schwer war, daß es nur mit Mühe von zwanzig Männern geschlossen werden konnte, und dessen ungeheure eiserne Riegel tief in der Steinschwelle befestigt waren, tat sich um Mitternacht von selbst auf. (Josephus, Vom jüd. Kriege, VI, 5. Siehe auch Milman, Geschichte der Juden, 13. Buch.)
Sieben Jahre lang ging ein Mann die Straßen Jerusalems auf und ab und verkündigte das Unglück, das über die Stadt kommen sollte. Tag und Nacht sang er das wilde Trauerlied: „Stimme von Morgen, Stimme von Abend, Stimme von den vier Winden, Stimme über Jerusalem und den Tempel, Stimme über den Bräutigam und die Braut, Stimme über das ganze Volk.“ Dies seltsame Wesen wurde eingekerkert und gegeißelt; aber keine Klage entrang sich seinen Lippen. Auf Schmähungen und Mißhandlungen kam nur die Antwort: „Wehe, wehe Jerusalem! Wehe, wehe der Stadt, dem Volk und dem Tempel!“ Dieser Warnungsruf hörte nicht auf, bis der Mann bei der Belagerung, die er vorhergesagt hatte, umkam.
Nicht ein Christ kam bei der Zerstörung Jerusalems um. Christus hatte seine Jünger gewarnt und alle, die seinen Worten glaubten, warteten auf das verheißene Zeichen. „Wenn ihr aber sehen werdet Jerusalem belagert mit einem Heer,“ sagte Jesus, „so merket, daß herbei gekommen ist ihre Verwüstung. Alsdann, wer in Judäa ist, der fliehe auf das Gebirge, und wer drinnen ist, der weiche heraus.“ (Luk. 21, 20. 21.) Nachdem die Römer unter Cestius die Stadt eingeschlossen hatten, hoben sie unerwarteterweise die Belagerung auf, gerade zu einer Zeit, da alles zu einem unmittelbaren Angriff günstig zu sein schien. Die Belagerten, die an einem erfolgreichen Widerstand zweifelten, waren im Begriff, sich zu ergeben, als der römische Feldherr ohne irgendwelchen sichtbaren Grund plötzlich seine Streitkräfte zurückzog. Gottes gnädige Vorsehung gestaltete die Ereignisse zum Besten seines Volkes. Das verheißene Zeichen war den wartenden Christen gegeben worden. Nun wurde allen, die des Heilandes Warnung Folge leisten wollten, die Gelegenheit geboten, und zwar ordnete der Herr die Ereignisse derart, daß weder die Juden noch die Römer die Flucht der Christen hindern konnten. Nach dem Rückzug des Cestius machten die Juden einen Ausfall aus Jerusalem und verfolgten das sich zurückziehende Heer, und während beide Streitkräfte auf diese Weise völlig in Anspruch genommen waren, hatten die Christen Gelegenheit, die Stadt zu verlassen. Um diese Zeit war auch das Land von Feinden, welche hätten versuchen können, sie aufzuhalten, gesäubert worden. Zur Zeit der Belagerung waren die Juden zu Jerusalem versammelt, um das Laubhüttenfest zu feiern, und auf diese Weise waren die Christen im ganzen Lande imstande, ihre Flucht unbelästigt zu bewerkstelligen. Ohne Verzug flohen sie nach einer Stätte der Sicherheit - der Stadt Pella, im Lande Peräa, jenseits des Jordans.
Die jüdischen Streiter, die Cestius und sein Heer verfolgten, warfen sich mit solcher Wut auf die Nachhut, daß ihr vollständige Vernichtung drohte. Nur mit großer Schwierigkeit gelang es den Römern, ihren Rückzug auszuführen. Die Juden kamen beinahe ohne allen Verlust davon und kehrten mit ihrer Beute triumphierend nach Jerusalem zurück. Doch brachte ihnen dieser scheinbare Erfolg nur Unheil. Er beseelte sie mit einem Geist des hartnäckigen Widerstandes gegen die Römer, wodurch schnell ein unaussprechliches Weh über die verurteilte Stadt hereinbrach.
Schrecklich war das Unglück, welches über Jerusalem kam, als die Belagerung von Titus wieder aufgenommen wurde. Die Stadt wurde zur Zeit des Passahfestes, da Millionen von Juden in ihren Mauern weilten, umlagert. Die Vorräte an Lebensmitteln, welche, wenn sorgfältig bewahrt, jahrelang für die Einwohner ausgereicht hätten, waren schon durch die Eifersucht und Rache der streitenden Parteien zerstört worden, und jetzt erlitten sie alle Schrecken der Hungersnot. Ein Maß Weizen wurde für ein Talent verkauft. So schrecklich waren die Qualen des Hungers, daß manche an dem Leder ihrer Gürtel, Sandalen und Bezüge ihrer Schilde nagten. Viele Leute schlichen des Nachts aus der Stadt, um wilde Kräuter, die außerhalb der Stadtmauern wuchsen, zu sammeln, obwohl etliche ergriffen und unter grausamen Martern mit dem Tode bestraft, und andere, die wohlbehalten zurückkehrten, des unter so großer Gefahr Gesammelten beraubt wurden. Die unmenschlichsten Qualen wurden von den Machthabern aufgelegt, um den vom Mangel Bedrückten die letzten spärlichen Vorräte, die sie möglicherweise verborgen hatten, abzuzwingen. Und diese Grausamkeiten wurden nicht selten von Menschen ausgeübt, die selbst wohlgenährt waren und nur danach trachteten, einen Vorrat an Lebensmitteln für die Zukunft aufzuspeichern.
Tausende starben an Hungersnot und Pestilenz. Die natürlichen Bande der Liebe schienen zerstört zu sein. Der Mann beraubte seine Frau und die Frau ihren Mann. Man sah Kinder, die den greisen Eltern das Brot vom Munde wegrissen. Der Frage des Propheten: „Kann auch ein Weib ihres Kindleins vergessen?“ (Jes. 49, 15) wurde innerhalb der Mauern jener verurteilten Stadt die Antwort zuteil: „Es haben die barmherzigsten Weiber ihre Kinder selbst müssen kochen, daß sie zu essen hätten in dem Jammer der Tochter meines Volks.“ (Klag. 4, 10.) Wiederum wurde die warnende Weissagung erfüllt, welche vierzehn Jahrhunderte zuvor gegeben worden war: „Ein Weib unter euch, das zuvor zärtlich und in Üppigkeit gelebt hat, daß sie nicht versucht hat ihre Fußsohle auf die Erde zu setzen, vor Zärtlichkeit und Wohlleben, die wird dem Manne in ihren Armen und ihrem Sohne und ihrer Tochter nicht gönnen die Nachgeburt, ... dazu ihre Söhne, die sie geboren hat; denn sie werden sie vor Mangel an allem heimlich essen in der Angst und Not, womit dich dein Feind bedrängen wird in deinen Toren.“ (5. Mose 28, 56. 57.)
Die römischen Anführer bestrebten sich, die Juden mit Schrecken zu erfüllen und dadurch zur Übergabe zu bewegen. Gefangene, welche sich bei ihrer Ergreifung widersetzten, wurden gegeißelt, gefoltert und vor der Stadtmauer gekreuzigt. Hunderte wurden täglich auf diese Weise getötet und das grauenvolle Werk fortgesetzt, so daß das Tal Josaphat entlang und auf Golgatha die Kreuze in so großer Anzahl aufgerichtet waren, daß kaum Raum blieb, sich zwischen ihnen zu bewegen. So schrecklich erfüllte sich die frevelhafte, vor dem Richterstuhl des Pilatus ausgesprochene Verwünschung: „Sein Blut komme über uns und über unsere Kinder.“ (Matth. 27, 25.)
Titus hätte der Schreckensszene gern ein Ende gemacht und damit der Stadt Jerusalem das volle Maß ihres Gerichts erspart. Er wurde mit Entsetzen erfüllt, als er die Leichname der Erschlagenen haufenweise in den Tälern liegen sah. Wie bezaubert schaute er vom Gipfel des Ölberges auf den herrlichen Tempel und gab den Befehl, nicht einen Stein davon zu berühren. Ehe er in den Besitz dieses festen Platzes zu gelangen versuchte, ließ er einen ernsten Aufruf an die jüdischen Führer ergehen, ihn doch nicht zu zwingen, die heilige Stätte mit Blut zu beflecken. Wenn sie herauskommen und an irgendeinem anderen Ort kämpfen wollten, so sollte kein Römer die Heiligkeit des Tempels verletzen. Josephus selbst beschwor sie in einer höchst beredten Ansprache, sich zu übergeben, sich selbst, ihre Stadt und die Stätte der Anbetung zu retten. Aber seine Worte wurden mit bitteren Verwünschungen beantwortet. Wurfspieße wurden nach ihm, ihrem letzten menschlichen Vermittler, geschleudert, als er vor ihnen stand, um mit ihnen zu unterhandeln. Die Juden hatten die Bitten des Sohnes Gottes verworfen, und nun machten die ernsten Vorstellungen und Bitten sie nur um so entschiedener, bis aufs äußerste zu widerstehen. Des Titus Bemühungen, den Tempel zu retten, waren vergeblich. Ein Größerer als er hatte erklärt, daß nicht ein Stein auf dem andern gelassen werden sollte.
Die blinde Hartnäckigkeit der jüdischen Anführer und die verabscheuungswürdigen Verbrechen, die in der belagerten Stadt verübt wurden, erweckten bei den Römern Entsetzen und Entrüstung, und endlich beschloß Titus, den Tempel im Sturm zu nehmen, ihn jedoch, wenn möglich, vor der Zerstörung zu bewahren. Aber seine Befehle wurden mißachtet. Als er sich abends in sein Zelt zurückgezogen hatte, machten die Juden einen Ausfall aus dem Tempel und griffen die Soldaten außerhalb an. Im Handgemenge wurde von einem Soldaten ein Feuerbrand durch eine Öffnung der Halle geschleudert, und unmittelbar darauf standen die mit Zedernholz getäfelten Räume des heiligen Gebäudes in Flammen. Titus eilte nach dem Ort, gefolgt von seinen Generalen und Obersten und befahl den Soldaten, die Flammen zu löschen. Seine Worte blieben unbeachtet. In ihrer Wut schleuderten die Soldaten Feuerbrände in die an den Tempel stoßenden Gemächer und metzelten viele mit dem Schwerte nieder, die daselbst Zuflucht gefunden hatten. Das Blut floß gleich Wasser die Tempelstufen hinunter. Tausende und aber Tausende von Juden kamen um. Das Schlachtgetöse wurde übertönt von Stimmen, welche riefen: „lchabod!“ - die Herrlichkeit ist dahin.
„Titus fand es unmöglich, der Wut der Kriegsknechte Einhalt zu tun; er trat mit seinen Offizieren ein und nahm Einsicht von dem Innern des heiligen Gebäudes. Der Glanz erregte ihre Bewunderung, und da die Flammen noch nicht bis zum Heiligtum gedrungen waren, machte er einen letzten Versuch, es zu retten. Er sprang hervor und forderte die Mannschaften auf, das Umsichgreifen der Feuerbrunst zu verhindern. Der Hauptmann Liberalis versuchte mit seinem Befehlshaberstab, Gehorsam zu erzwingen; doch selbst die Achtung vor dem Kaiser verging vor der rasenden Feindseligkeit gegen die Juden, der heftigen Aufregung des Kampfes und der unersättlichen Beutegier. Die Soldaten sahen alles um sich herum vom Golde strahlen, das im wilden Licht der Flammen einen blendenden Glanz erzeugte; sie wähnten, unberechenbare Schätze seien in dem Heiligtum aufgespeichert. Unbemerkt warf ein Soldat eine brennende Fackel zwischen die Angeln der Tür, und im Nu stand das ganze Gebäude in Flammen. Der erstickende Rauch und das Feuer zwangen die Offiziere, sich zurückzuziehen, und der herrliche Bau wurde seinem Schicksal überlassen.
„War es schon für die Römer ein erschreckendes Schauspiel, was mag es für die Juden gewesen sein! Der ganze Gipfel, der die Stadt weit überragte, erschien wie ein feuerspeiender Berg. Eins nach dem andern stürzten die Gebäude ein und wurden von dem feurigen Abgrund verschlungen. Die Dächer von Zedernholz waren einem Feuermeer gleich, das vergoldete Zinnenwerk erglänzte wie leuchtende Feuerzungen, die Türme der Tore schossen Flammengarben und Rauchsäulen empor. Die benachbarten Hügel waren erleuchtet; dunkle Gruppen von Zuschauern verfolgten in fürchterlicher Angst die fortschreitende Zerstörung; auf den Mauern und Höhen der oberen Stadt drängte sich Gesicht an Gesicht, einige bleich vor Angst und Verzweiflung, andere mit düsteren Blicken ohnmächtiger Rache. Die Rufe der hin- und hereilenden römischen Soldaten, das Heulen der Aufständigen, die in den Flammen umkamen, vermischten sich mit dem Getöse der Feuersbrunst und dem donnernden Krachen des stürzenden Gebälks. Das Echo antwortete von den Bergen und widerhallte die Schreckensrufe des Volkes auf den Höhen; die Wälle entlang erschallte Angstgeschrei und Wehklagen; Menschen, die von der Hungersnot erschöpft im Sterben lagen, rafften alle Kraft zusammen, um einen letzten Schrei der Angst und der Trostlosigkeit auszustoßen.
„Das Gemetzel im Innern war sogar noch schrecklicher als der Anblick von außen. Männer und Frauen, alt und jung, Aufrührer und Priester, Kämpfende und um Gnade Flehende wurden ohne Unterschied im Blutbad nieder gehauen. Die Anzahl der Erschlagenen überstieg die der Würger. Die Soldaten mußten über Haufen Leichname hinweg klettern, um ihr Vertilgungswerk fortsetzen zu können.“ (Milman, Geschichte der Juden, 16. Buch.)
Nach der Zerstörung des Tempels fiel bald die ganze Stadt in die Hände der Römer. Die Anführer der Juden gaben ihre uneinnehmbaren Türme auf, und Titus fand sie alle verlassen. Mit Verwunderung blickte er auf sie und erklärte, daß Gott sie in seine Hände gegeben habe; denn keine Maschinen, wie gewaltig sie auch sein mochten, hätten über jene staunenswerten Festungsmauern die Oberhand gewinnen können. Sowohl die Stadt als auch der Tempel wurden bis auf den Grund geschleift, und der Boden, worauf das heilige Gebäude gestanden hatte, wurde „wie ein Acker gepflügt.“ (Jer. 26, 18.) In der Belagerung und dem darauffolgenden Gemetzel kamen über eine Million Menschen um; die Überlebenden wurden in die Gefangenschaft geführt, als Sklaven verkauft, nach Rom geschleppt, um des Eroberers Triumph zu zieren, in den Amphitheatern den wilden Tieren vorgeworfen oder als heimatlose Wanderer über die ganze Erde zerstreut.
Die Juden hatten ihre eigenen Fesseln geschmiedet, hatten sich selbst den Becher der Rache gefüllt. In der vollständigen Vernichtung, die sie als eine Nation befiel, und in all dem Weh, das ihnen in ihrer Zerstreuung nachfolgte, ernteten sie nur, was sie mit eigenen Händen gesät hatten. Der Prophet schreibt: „Israel, du bringest dich in Unglück,“ „denn du bist gefallen um deiner Missetat willen.“ (Hos. 13, 9; 14, 1.) Ihre Leiden werden oft als eine Strafe hingestellt, mit welcher sie auf direkten Befehl Gottes heimgesucht wurden. Auf diese Weise sucht der große Betrüger sein eigenes Werk zu verbergen. Durch eigensinnige Verwerfung der göttlichen Liebe und Gnade hatten die Juden es bewirkt, daß ihnen der Schutz Gottes entzogen und es Satan gestattet wurde, sie nach Willkür zu beherrschen. Die schrecklichen Grausamkeiten, die bei der Zerstörung Jerusalems ausgeübt wurden, kennzeichnen Satans rachgierige Macht über diejenigen, welche sich seiner Leitung überlassen.
Wir können nicht wissen, wieviel wir Christo für den Frieden und Schutz schuldig sind, deren wir uns erfreuen. Es ist die zurückhaltende Kraft Gottes, die es verhindert, daß die Menschen völlig unter die Herrschaft Satans geraten. Die Ungehorsamen und die Undankbaren haben allen Grund, Gott für seine Gnade und Langmut dankbar zu sein, weil er die grausame, boshafte Macht des Bösen im Zaum hält. Überschreiten aber die Menschen die Grenzen der göttlichen Nachsicht, dann wird jene Einschränkung aufgehoben. Gott stellt sich dem Sünder nicht als ein Vollstrecker des Urteils für die Übertretungen gegenüber, sondern er überläßt die Verwerfer seiner Gnade sich selbst, damit sie ernten, was sie gesät haben. Jeder verworfene Lichtstrahl, jede verschmähte oder unbeachtete Warnung, jede gepflegte Leidenschaft, jede Übertretung des Gesetzes Gottes ist ein gesäter Same, der seine gewisse Ernte hervorbringt. Der Geist Gottes wird schließlich dem Sünder entzogen, der sich ihm beharrlich widersetzt, und dann bleibt dem Betreffenden keine Kraft mehr, die bösen Leidenschaften der Seele zu beherrschen, und kein Schutz vor der Bosheit und Feindschaft Satans. Die Zerstörung Jerusalems ist eine furchtbare und feierliche Warnung an alle, die das Anerbieten der göttlichen Gnade geringachten und den Mahnrufen der Barmherzigkeit Gottes widerstehen. Nie wurde ein bestimmteres Zeugnis für den Haß Gottes gegen die Sünde und für die sichere Bestrafung der Schuldigen gegeben.
Die Weissagung des Heilandes, welche die heimsuchenden Gerichte über Jerusalem ankündigte, wird noch eine andere Erfüllung haben, von welcher jene schreckliche Verwüstung nur ein schwacher Schatten war. In dem Schicksal der auserwählten Stadt können wir das Los einer Welt sehen, die Gottes Barmherzigkeit von sich gewiesen und sein Gesetz mit Füßen getreten hat. Grauenhaft sind die Berichte des menschlichen Elends, dessen die Erde während der langen Jahrhunderte des Verbrechens Zeuge sein mußte. Das Herz wird beklommen und der Geist verzagt beim Nachdenken über diese Dinge. Schrecklich sind die Folgen der Verwerfung der Machtstellung des Himmels gewesen. Doch ein noch furchtbareres Bild wird uns in den Offenbarungen über die Zukunft enthüllt. Die Berichte der Vergangenheit - die lange Reihe von Aufständen, Kämpfen und Empörungen, aller Kriege „mit Ungestüm und die blutigen Kleider“ (Jes. 9, 5) - was sind sie im Vergleich mit den Schrecken jenes Tages, wenn der zügelnde Geist Gottes den Gottlosen gänzlich entzogen werden und nicht länger die Ausbrüche menschlicher Leidenschaften und satanischer Wut im Zaume halten wird! Dann wird die Welt wie nie zuvor die Folgen der Herrschaft Satans sehen.
An jenem Tage aber, wie zur Zeit der Zerstörung Jerusalems, wird Gottes Volk errettet werden, „ein jeglicher, der geschrieben ist unter die Lebendigen.“ (Jes. 4, 3.) Christus hat vorhergesagt, daß er zum andernmal kommen will, um seine Getreuen zu sich zu sammeln: „Und alsdann werden heulen alle Geschlechter auf Erden und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit. Und er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen, und sie werden sammeln seine Auserwählten von den vier Winden von einem Ende des Himmels zu dem andern.“ (Matth. 24, 30. 31.) Dann werden alle, die dem Evangelium nicht gehorchen, umgebracht mit dem Geist seines Mundes und vernichtet werden durch die Erscheinung seiner Zukunft. (2. Thess. 2, 8.) Gleichwie Israel vor alters bringen die Gottlosen sich selbst um; sie fallen infolge ihrer Übertretungen. Durch ein Leben der Sünde sind sie so wenig im Einklang mit Gott, und durch das Böse ist ihre Natur so entwürdigt worden, daß die Offenbarung seiner Herrlichkeit für sie ein verzehrendes Feuer ist.
Möchten die Menschen sich doch hüten, die ihnen in Christi Worten gegebenen Lehren geringzuschätzen! Gleichwie er seine Jünger vor der Zerstörung Jerusalems warnte, indem er ihnen ein Zeichen des herannahenden Unterganges gab, damit sie fliehen möchten, so hat er die Welt vor dem Tage der schließlichen Zerstörung gewarnt und ihr Zeichen dieses kommenden Tages gegeben, damit alle, die wollen, dem zukünftigen Zorn entrinnen können. Jesus erklärt: „Es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen; und auf Erden wird den Leuten bange sein.“ (Luk. 21, 25; Matth. 24, 29; Mark. 13, 24-26; Offb. 6, 12-17.) Wer diese Vorboten seines Kommens sieht, soll wissen, „daß es nahe vor der Tür ist.“ „So wachet nun,“ sind seine Worte der Ermahnung. Alle, welche auf diese Stimme achten, sollen nicht in Finsternis gelassen werden, daß jener Tag sie unvorbereitet übereile; aber über alle, die nicht wachen wollen, wird der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb in der Nacht. (Matth. 24, 33; Mark 13. 35.)
Die Welt ist jetzt nicht geneigter, die Warnungen für diese Zeit anzunehmen als damals die Juden, die sich der Botschaft unseres Heilandes über Jerusalem widersetzten. Mag er kommen, wann er will, der Tag des Herrn wird die Gottlosen unvorbereitet finden. Wenn das Leben seinen gewöhnlichen täglichen Gang geht, wenn die Menschheit von Vergnügen, Geschäften, Handel und Gelderwerb in Anspruch genommen ist, wenn religiöse Leiter den Fortschritt und die Erleuchtung der Welt verherrlichen und das Volk in falsche Sicherheit gewiegt wird - dann wird, wie ein Dieb sich um Mitternacht in die unbewachte Behausung einschleicht, das plötzliche Verderben die Sorglosen und Bösewichte überfallen, „und werden nicht entrinnen.“ (l. Thess. 5, 2-5.)


 
KAPITEL 2

VERFOLGUNG IN DEN ERSTEN JAHRHUNDERTEN

Als Christus seinen Jüngern das Schicksal Jerusalems und die Ereignisse seines zweiten Kommens enthüllte, sprach er auch von den zukünftigen Erfahrungen seines Volkes von der Zeit an, da er von ihnen genommen werden sollte, bis er sie bei seiner Wiederkunft in Macht und Herrlichkeit befreien würde. Vom Ölberg aus sah der Heiland die bald über die apostolische Gemeinde hereinbrechenden Stürme, und weiter in die Zukunft dringend, erblickte sein Auge die grimmigen, verwüstenden Wetter, die sich in den kommenden Zeiten der Finsternis und der Verfolgung über seine Nachfolger entladen würden. In wenigen, kurzen Äußerungen furchtbarer Bedeutsamkeit sagte er ihnen im voraus, welches Maß die Herrscher dieser Welt der Gemeinde Gottes zumessen würden (Matth. 24, 9. 21. 22.) Die Nachfolger Christi müßten denselben Pfad der Demütigung, der Schmach und des Leidens betreten, den ihr Meister gegangen war. Die Feindschaft, die sich gegen den Erlöser der Welt Bahn brach, würde gegen alle, die an seinen Namen glauben, offenbar werden.
Die Geschichte der ersten Christengemeinde bezeugt die Erfüllung der Worte Jesu. Die Mächte der Erde und der Hölle vereinigten sich gegen Christum in seinen Nachfolgern. Wohl sah das Heidentum voraus, daß seine Tempel und Altäre niedergerissen werden würden, falls das Evangelium triumphierte; deshalb bot es alle Kräfte auf, um das Christentum zu vernichten. Die Feuer der Verfolgung wurden angezündet, Christen wurden ihrer Besitztümer beraubt und aus ihren Heimstätten vertrieben. Sie erduldeten „einen großen Kampf des Leidens“ (Hebr. 10, 32). Sie „haben Spott und Geißeln erlitten, dazu Bande und Gefängnis“ (Hebr. 11, 36). Eine große Anzahl besiegelte ihr Zeugnis mit ihrem Blut; Edelmann und Sklave, reich und arm, Gelehrte und Unwissende wurden ohne Unterschied erbarmungslos umgebracht.
Diese Verfolgungen, welche unter Nero, ungefähr zur Zeit des Märtyrertums Pauli begannen, dauerten mit größerer oder geringerer Heftigkeit jahrhundertelang fort. Christen wurden fälschlich der abscheulichsten Verbrechen angeklagt und als die Ursache großer Unglücksfälle, wie Hungersnot, Pestilenz und Erdbeben, hingestellt. Da sie zum Gegenstand des allgemeinen Hasses und Verdachts wurden, fanden sich auch leicht Ankläger, die um des Gewinnes willen Unschuldige verrieten. Sie wurden als Empörer gegen das Reich, als Feinde der Religion und als Schädlinge der Gesellschaft verurteilt. Viele wurden wilden Tieren vorgeworfen oder lebendig in den Amphitheatern verbrannt. Etliche wurden gekreuzigt, andere mit den Fellen wilder Tiere bedeckt in die Arena geworfen, um von Hunden zerrissen zu werden. Die ihnen gewärtige Strafe bildete oft den Hauptgegenstand der Unterhaltung bei öffentlichen Festen. Große Mengen versammelten sich, um sich des Anblicks zu erfreuen, und begrüßten ihre Todesschmerzen mit Gelächter und Beifallsklatschen.
Wo die Nachfolger Christi auch Zuflucht fanden, immer wurden sie gleich Raubtieren aufgejagt. Sie waren genötigt, sich an öden und verlassenen Stätten zu verbergen. „Mit Mangel, mit Trübsal, mit Ungemach (deren die Welt nicht wert war), sind“ sie „im Elend gegangen in den Wüsten, auf den Bergen und in den Klüften und Löchern der Erde.“ (Hebr. 11, 37-38.) Die Katakomben boten Tausenden eine Zufluchtsstätte. Unter den Hügeln außerhalb der Stadt Rom waren lange, durch Erde und Felsen getriebene Gänge, deren dunkles, verschlungenes Netzwerk sich meilenweit über die Stadtmauern hinaus erstreckte. In diesen unterirdischen Bergungsorten bestatteten die Nachfolger Christi ihre Toten, und hier fanden sie auch, wenn sie verdächtigt und geächtet wurden, eine Zufluchtsstätte. Wenn der Lebensspender diejenigen, welche den guten Kampf gekämpft haben, auferwecken wird, werden viele, die um Christi Sache willen Märtyrer geworden sind, aus jenen düsteren Höhlen hervorkommen.
Unter der heftigsten Verfolgung hielten diese Zeugen für Jesum ihren Glauben unbefleckt. Obwohl jeder Bequemlichkeit beraubt, abgeschlossen vom Lichte der Sonne, im dunkeln aber freundlichen Schoße der Erde ihre Wohnung aufschlagend, äußerten sie keine Klage. Mit Worten des Glaubens, der Geduld und der Hoffnung ermutigten sie einander, Entbehrungen und Trübsal zu erdulden. Der Verlust aller irdischen Segnungen vermochte sie nicht zu zwingen, ihrem Glauben an Christum zu entsagen. Prüfungen und Verfolgungen waren nur Stufen, auf denen sie ihrer Ruhe und Belohnung näher kamen.
Viele wurden gleich den Dienern Gottes vor alters „zerschlagen und haben keine Erlösung angenommen, auf daß sie die Auferstehung, die besser ist, erlangten.“ (Hebr. 11, 35.) Sie riefen sich die Worte ihres Meisters ins Gedächtnis zurück, daß sie bei Verfolgungen um Christi willen fröhlich und getrost sein sollten, denn groß würde ihre Belohnung im Himmel sein; auch die Propheten vor ihnen waren also verfolgt worden. Sie freuten sich, würdig erachtet zu werden, für die Wahrheit zu leiden, und Siegeslieder stiegen mitten aus den prasselnden Flammen empor. Im Glauben aufwärts schauend erblickten sie Christum und heilige Engel, die, über die Brüstung des Himmels lehnend, sie mit innigster Teilnahme beobachteten und wohlgefällig ihre Standhaftigkeit betrachteten. Eine Stimme kam vom Throne Gottes zu ihnen hernieder: „Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ (Offb. 2, 10.)
Vergeblich waren Satans Anstrengungen, die Gemeinde Christi mit Gewalt zu zerstören. Der große Kampf, in dem Christi Jünger ihr Leben hingaben, hörte nicht auf, als diese getreuen Bannerträger auf ihrem Posten fielen. Durch ihre Niederlage siegten sie. Gottes Arbeiter wurden erschlagen; sein Werk aber ging beständig vorwärts. Das Evangelium breitete sich aus, die Zahl seiner Anhänger nahm zu; es drang in Gebiete ein, die selbst für die Adler Roms unzugänglich waren. Ein Christ, der mit den heidnischen Herrschern verhandelte, welche die Verfolgung eifrig betrieben, sagte: „Tötet uns, quält uns, verurteilt uns; ... eure Ungerechtigkeit ist der Beweis für unsere Unschuld! Auch nützt ausgesuchtere Grausamkeit von eurer Seite noch nicht einmal etwas; sie ist eher ein Verbreitungsmittel unserer Genossenschaft. Wir werden jedesmal zahlreicher, so oft wir von euch niedergemäht werden; das Blut der Christen ist ein Same.“ (Tertullians Apologetikus, Kap. 50.)
Tausende wurden eingekerkert und umgebracht; aber andere standen auf, um diese Lücken auszufüllen. Die, welche um ihres Glaubens willen den Märtyrertod erlitten, waren Christo gesichert und wurden von ihm als Überwinder erachtet. Sie hatten den guten Kampf gekämpft und sollten die Krone der Herrlichkeit empfangen, wenn Christus wiederkommen würde. Die Leiden, welche die Christen erduldeten, verbanden sie inniger miteinander und mit ihrem Erlöser. Ihr Beispiel im Leben, ihr Bekenntnis im Sterben waren ein beständiges Zeugnis für die Wahrheit; und wo es am wenigsten zu erwarten war, verließen Untertanen Satans seinen Dienst und stellten sich unter das Banner Christi.
Satan plante, erfolgreicher gegen die Regierung Gottes Krieg zu führen, indem er sein Banner in der christlichen Gemeinde aufpflanzte. Könnten die Nachfolger Christi getäuscht und verleitet werden, Gott zu mißfallen, dann würde ihre Kraft, Festigkeit und Beharrlichkeit dahin sein und sie ihm als Beute leicht zufallen.
Der große Gegner suchte nun durch Hinterlist das zu erreichen, was er sich mit Gewalt nicht hatte sichern können. Die Verfolgungen hörten auf, an ihre Stelle traten die gefährlichen Lockungen irdischen Wohllebens und weltlicher Ehre. Götzendiener wurden veranlaßt, einen Teil des christlichen Glaubens anzunehmen, wogegen sie andere wesentliche Wahrheiten verwarfen. Sie gaben vor, Jesum als den Sohn Gottes anzuerkennen und an seinen Tod und seine Auferstehung zu glauben; aber sie hatten keine Erkenntnis ihrer Sünden und fühlten kein Bedürfnis der Reue oder einer Veränderung des Herzens. Selbst zu einigen Zugeständnissen bereit, schlugen sie den Christen vor, ebenfalls Einräumungen zu machen, um alle in dem Glaubensbekenntnis an Christum zu vereinigen.
Nun befand sich die Gemeinde in einer furchtbaren Gefahr, mit welcher Gefängnis, Folter, Feuer und Schwert verglichen, als Segnungen dastanden. Einige Christen standen fest und erklärten, daß sie auf keinerlei Übereinkommen eingehen könnten. Andere stimmten für ein Entgegenkommen oder die Abschwächung einiger ihrer Glaubensregeln und verbanden sich mit denen, die das Christentum teilweise angenommen hatten, indem sie geltend machten, es möchte jenen zur vollständigen Bekehrung dienen. Dies war für die treuen Nachfolger Christi eine Zeit großer Angst. Unter dem Deckmantel eines scheinbaren Christentums wußte Satan sich in die Gemeinde einzuschleichen, um ihren Glauben zu verfälschen und die Gemüter vom Worte der Wahrheit abzulenken.
Der größte Teil der Christen war bereit, von ihrer erhöhten Stufe hinabzusteigen, und eine Vereinigung zwischen dem Christentum und dem Heidentum kam zustande. Obwohl die Götzendiener vorgaben, bekehrt zu sein, und sich der Gemeinde anschlossen, hielten sie doch noch am Götzendienste fest und verwandelten nur den Gegenstand ihrer Anbetung. Ungesunde Lehren, abergläubische Gebräuche und abgöttische Zeremonien wurden ihrem Glauben und ihrem Gottesdienste einverleibt. Als die Nachfolger Christi sich mit den Götzendienern verbanden, wurde die christliche Gemeinde verderbt, und ihre Reinheit und Kraft gingen verloren. Immerhin gab es etliche, die durch diese Täuschungen nicht irregeleitet wurden, die dem Fürsten der Wahrheit ihre Treue bewahrten und Gott allein anbeteten.
Unter den bekenntlichen Nachfolgern Christi hat es jederzeit zwei Klassen gegeben. Während die eine das Leben des Heilandes erforscht und sich ernstlich bemüht, jeglichen Fehler an sich zu verbessern und ihrem Vorbilde ähnlich zu werden, scheut die andere die klaren, praktischen Wahrheiten, die ihre Irrtümer bloßstellen. Selbst in ihrem besten Zustand bestand die Gemeinde nicht nur aus wahren, reinen und aufrichtigen Seelen. Unser Heiland lehrte, daß die, welche sich willig der Sünde hingeben, nicht in die Gemeinde aufgenommen werden sollen; dennoch verband er Männer von fehlerhaftem Charakter mit sich und gewährte ihnen die Vorteile seiner Lehren und seines Beispiels, damit sie Gelegenheit hätten, ihre Fehler zu sehen und zu verbessern. Unter den zwölf Aposteln war ein Verräter. Judas wurde nicht um seiner Charakterfehler willen, sondern ungeachtet derselben aufgenommen. Er wurde den Jüngern zugezählt, damit er durch die Unterweisungen und das Beispiel Christi lerne, worin ein christlicher Charakter besteht, und auf diese Weise seine Fehler erkennen, Buße tun und mit Hilfe der göttlichen Gnade seine Seele reinigen mochte „im Gehorsam der Wahrheit.“ Aber Judas wandelte nicht in dem Licht, das ihm so gnädig schien; er gab der Sünde nach und forderte dadurch die Versuchungen Satans heraus. Seine bösen Charakterzüge gewannen die Oberhand. Er ließ sich von den Mächten der Finsternis leiten, wurde zornig, wenn seine Fehler getadelt wurden, und gelangte auf diese Weise dahin, das furchtbare Verbrechen des Verrats an seinem Meister zu begehen. So hassen alle, die unter einem Bekenntnis von Gottseligkeit das Böse lieben, diejenigen, welche ihren Frieden stören und dadurch ihre sündhafte Laufbahn verurteilen. Bietet sich ihnen eine günstige Gelegenheit, so werden sie, wie auch Judas tat, diejenigen verraten, welche versucht haben, sie zu ihrem Besten zurechtzuweisen.
Die Apostel trafen Glieder in der Gemeinde, welche vorgaben, fromm zu sein, während sie im geheimen der Sünde huldigten. Ananias und Saphira waren Betrüger, denn sie behaupteten, Gott ein vollständiges Opfer darzubringen, wenn sie habsüchtigerweise einen Teil davon für sich zurückhielten. Der Geist der Wahrheit offenbarte den Aposteln den wirklichen Charakter dieser Scheinheiligen, und Gottes Gericht befreite die Gemeinde von diesem Flecken, der ihre Reinheit beschmutzte. Dieser offenbare Beweis, daß der scharfsichtige Geist Christi in der Gemeinde war, wurde ein Schrecken für die Heuchler und Übeltäter, die nicht lange in Verbindung mit jenen bleiben konnten, die der Handlung und Gesinnung nach beständig Stellvertreter Christi waren; und als Prüfungen und Verfolgungen über seine Nachfolger hereinbrachen, wünschten nur die seine Jünger zu werden, die bereit waren, alles um der Wahrheit willen zu verlassen. Somit blieb die Gemeinde, solange die Verfolgung dauerte, verhältnismäßig rein. Als sie aber aufhörte und Neubekehrte, welche weniger aufrichtig und ergeben waren, hinzugetan wurden, öffnete sich der Weg für Satan, in der Gemeinde Fuß zu fassen.
Es gibt aber keine Gemeinschaft zwischen dem Fürsten des Lichts und dem Fürsten der Finsternis, mithin auch keine Vereinbarung unter ihren Nachfolgern. Als die Christen einwilligten, sich mit Seelen zu verbinden, die nur halb vom Heidentum bekehrt waren, betraten sie einen Pfad, der sie weiter und weiter von der Wahrheit abführte; Satan aber frohlockte, daß es ihm gelungen war, eine so große Zahl der Nachfolger Christi zu täuschen. Dann übte er seine Macht in einem noch stärkeren Grade auf die Betrogenen aus und trieb sie an, diejenigen zu verfolgen, welche Gott treu blieben. Niemand konnte dem wahren Christenglauben so kräftig widerstehen wie seine ehemaligen Verteidiger; und diese abtrünnigen Christen im Verein mit ihren halb heidnischen Gefährten zogen gegen die wesentlichsten Lehren Christi in den Kampf.
Es bedurfte eines verzweifelten Ringens seitens der Getreuen, festzuhalten gegen die Betrügereien und Greuel, die, von priesterlichen Gewändern verhüllt, in die Gemeinde eingeführt wurden. Die Bibel wurde nicht mehr als Richtschnur des Glaubens angenommen. Die Lehre von wahrer Religionsfreiheit wurde als Ketzerei gebrandmarkt, und ihre Verteidiger wurden gehaßt und geächtet.
Nach langem und schwerem Kampfe entschlossen sich die wenigen Getreuen, jede Gemeinschaft mit der abtrünnigen Kirche aufzuheben, falls diese sich beharrlich weigere, dem Irrtum und dem Götzendienst zu entsagen. Sie erkannten, daß Trennung eine unbedingte Notwendigkeit war, wenn sie selbst dem Worte Gottes gehorchen wollten. Sie wagten weder Irrtümer zu dulden, die für ihre eigenen Seelen gefährlich waren, noch ein Vorbild zu lassen, das den Glauben ihrer Kinder und Kindeskinder gefährden würde. Um Frieden und Einheit zu wahren, standen sie bereit, irgendwelche mit ihrer Gottestreue vereinbarte Zugeständnisse zu machen; sie fühlten aber, daß selbst der Friede unter Aufopferung ihrer Grundsätze zu teuer erkauft sei. Konnte Einigkeit nur dadurch gesichert werden, daß Wahrheit und Rechtschaffenheit aufs Spiel gesetzt würden, dann mochte lieber Spaltung, ja selbst Krieg kommen.
Es würde für die Gemeinde und die Welt gut sein, wenn die Grundsätze, welche jene standhaften Seelen zum Handeln bewogen, im Herzen des bekenntlichen Volkes Gottes wiederbelebt würden. Es herrscht eine beunruhigende Gleichgültigkeit bezüglich der Lehren, welche die Pfeiler des christlichen Glaubens sind. Die Meinung gewinnt die Oberhand, daß sie nicht von großer Wichtigkeit sind. Diese Entartung stärkt die Hände der Vertreter Satans so sehr, daß jene falschen Lehrbegriffe und verhängnisvollen Täuschungen, in deren Bekämpfung und Bloßstellung die Getreuen in vergangenen Zeiten ihr Leben wagten, jetzt von Tausenden vorgeblicher Nachfolger Christi günstig betrachtet werden.
Die ersten Christen waren in der Tat ein besonderes Volk. Ihr tadelloses Betragen und ihr unwandelbarer Glaube war ein beständiger Vorwurf, der die Ruhe der Sünder störte. Obwohl gering an Zahl, ohne Reichtümer, Stellung oder Ehrentitel, waren sie überall, wo ihr Charakter und ihre Lehren bekannt wurden, den Übeltätern ein Schrecken. Deshalb wurden sie von den Gottlosen gehaßt, wie ehemals Abel von dem bösen Kain verabscheut wurde. Derselbe Beweggrund, der Kain zu Abels Mörder machte, veranlaßte die, welche sich vom hemmenden Einfluß des Geistes Gottes zu befreien suchten, Gottes Kinder zu töten. Aus dem nämlichen Grunde verwarfen und kreuzigten die Juden den Heiland; denn die Reinheit und Heiligkeit seines Charakters war ein beständiger Vorwurf gegen ihre Selbstsucht und Verderbtheit. Von den Tagen Christi an bis jetzt haben seine getreuen Jünger den Haß und, den Widerspruch derer erweckt, welche die Wege der Sünde lieben und ihnen nachgehen.
Wie kann denn aber das Evangelium eine Botschaft des Friedens genannt werden? Als Jesaja die Geburt des Messias vorhersagte, gab er ihm den Titel „Friedefürst“. Als die Engel den Hirten verkündigten, daß Christus geboren sei, sangen sie über den Ebenen Bethlehems: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.“ (Luk. 2,14.) Es scheint ein Widerspruch zu bestehen zwischen diesen prophetischen Aussagen und den Worten Christi: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert,“ (Matth. 10,34.) aber richtig verstanden sind beide Aussprüche in vollkommener Übereinstimmung. Das Evangelium ist eine Botschaft des Friedens. Das Christentum verbreitet, wenn es angenommen wird, Friede, Eintracht und Glückseligkeit über die ganze Erde. Die Religion Christi verbindet alle, die ihre Lehren annehmen, in inniger Brüderschaft miteinander. Es war Jesu Werk, die Menschen mit Gott und somit auch miteinander zu versöhnen. Aber die Welt im großen und ganzen befindet sich unter der Herrschaft Satans, des bittersten Feindes Christi. Das Evangelium zeigt ihr die Grundsätze des Lebens, welche vollständig im Widerspruch mit ihren Sitten und Wünschen stehen, und gegen die sie sich empört. Sie haßt die Reinheit, welche ihre Sünden offenbart und verurteilt, und sie verfolgt und vernichtet alle, die ihr jene gerechten und heiligen Ansprüche vorhalten. In diesem Sinne - weil die erhabenen Wahrheiten, die das Evangelium bringt, Haß und Streit veranlassen -wird es ein Schwert genannt.
Das geheimnisvolle Wirken der Vorsehung, welche zuläßt, daß der Gerechte von der Hand des Gottlosen Verfolgung erleidet, ist für viele, die schwach im Glauben sind, eine Ursache großer Verlegenheiten geworden. Einige sind sogar bereit, ihr Vertrauen auf Gott wegzuwerfen, weil er es zuläßt, daß es den niederträchtigsten Menschen wohlergeht und die besten und reinsten von ihrer grausamen Macht bedrängt und gequält werden. Wie, fragt man, kann ein Gerechter und Barmherziger, der unendlich in seiner Macht ist, solche Ungerechtigkeit und Unterdrückung dulden? Mit einer solchen Frage haben wir nichts zu tun. Gott hat uns genügende Beweise seiner Liebe gegeben, und wir sollen nicht an seiner Güte zweifeln, weil wir das Wirken seiner Vorsehung nicht zu ergründen vermögen. Der Heiland sagte zu seinen Jüngern, da er die Zweifel voraussah, welche in den Tagen der Prüfung und der Finsternis ihre Seelen bestürmen würden: „Gedenket an mein Wort, das ich euch gesagt habe: 'Der Knecht ist nicht größer denn sein Herr'. Haben sie mich verfolgt, sie werden euch auch verfolgen.“ (Joh. 15,20.) Jesus hat mehr gelitten für uns, als irgendeiner seiner Nachfolger von der Grausamkeit gottloser Menschen zu leiden haben kann. Wer berufen ist, Qualen und Märtyrertod durchzumachen, folgt nur in den Fußstapfen des teuren Gottessohnes.
„Der Herr verzieht nicht die Verheißung.“ (2. Petr. 3,9.) Er vergißt oder vernachlässigt seine Kinder nicht, aber gestattet den Gottlosen, ihren wahren Charakter zu offenbaren, auf daß keiner, der wünscht, seinen Willen zu tun, über sie getäuscht werden möchte. Wiederum läßt er die Gerechten durch den Feuerofen der Trübsal gehen, damit sie selbst gereinigt werden, damit ihr Beispiel andere von der Wirklichkeit des Glaubens und der Gottseligkeit überzeuge und ihr treuer Wandel die Gottlosen und Ungläubigen verurteile.
Gott läßt es zu, daß die Bösen gedeihen und ihre Feindschaft gegen ihn bekunden, damit wenn das Maß ihrer Ungerechtigkeit voll ist, alle Menschen in ihrem vollständigen Untergang seine Gerechtigkeit und Gnade sehen können. Der Tag seiner Rache eilt, da allen, die sein Gesetz übertreten und sein Volk unterdrückt haben, die gerechte Vergeltung für ihre Taten zuteil werden wird; da jede grausame und ungerechte Handlung gegen die Getreuen Gottes bestraft werden wird, als ob sie Christo selbst angetan worden sei.
Es gibt eine andere und wichtigere Frage, welche die Aufmerksamkeit der Kirchen unserer Tage in Anspruch nehmen sollte. Der Apostel Paulus erklärt, daß „alle, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, müssen Verfolgung leiden.“ (2. Tim. 3,12.) Wie kommt es denn, daß die Verfolgung gewissermaßen zu schlummern scheint? Der einzige Grund ist, daß die Kirchen sich der Welt angepaßt haben und deshalb keinen Widerstand erwecken. Die gegenwärtig volkstümliche Religion hat nicht den reinen und heiligen Charakter, der den christlichen Glauben in den Tagen Christi und seiner Apostel kennzeichnete. Weil man mit der Sünde gemeinsame Sache macht, weil man die großen Wahrheiten des Wortes Gottes so gleichgültig betrachtet, und weil wenig wahre Gottseligkeit in der Gemeinde herrscht, deshalb ist anscheinend das Christentum in der Welt beliebt. Sobald ein Wiederbeleben des Glaubens und der Macht der ersten Christengemeinden stattfindet, wird auch der Geist der Verfolgung abermals erwachen und die Feuer der Trübsal aufs neue schüren.


 
KAPITEL 3

DER ABFALL

Der Apostel Paulus erklärte in seinem Zweiten Brief an die Thessalonicher, daß der Tag Christi nicht kommen werde, „es sei denn, daß zuvor der Abfall komme und offenbart werde der Mensch der Sünde, das Kind des Verderbens, der da ist der Widersacher und sich überhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, also daß er sich setzt in den Tempel Gottes als ein Gott und gibt sich aus, er sei Gott.“ Und weiter warnt der Apostel seine Brüder: „Es regt sich bereits das Geheimnis der Bosheit.“ (2. Thess. 2, 3.4.7). Schon zu jener frühen Zeit sah er, daß sich Irrtümer in die Kirche schlichen, welche den Weg für die Entwicklung des geweissagten Abfalls vorbereiteten.
Das Geheimnis der Bosheit führte nach und nach, erst verstohlen und stillschweigend, dann, als es an Kraft zunahm und die Herrschaft über die Gemüter der Menschen gewann, offener sein betrügerisches und verderbliches Werk aus. Beinahe unmerklich fanden heidnische Gebräuche ihren Weg in die christliche Gemeinde. Zwar wurde der Geist des Nachgebens und der Zustimmung eine Zeitlang durch die heftige Verfolgung, welche die Gemeinde Gottes unter dem Heidentum erduldete, zurückgehalten; als aber die Verfolgung aufhörte und das Christentum die Höfe und Paläste der Könige betrat, vertauschte es die demütige Einfachheit Christi und seiner Apostel mit dem Gepränge und dem Stolz der heidnischen Priester und Herrscher und setzte an die Stelle der Forderungen Gottes menschliche Theorien und Überlieferungen. Die angebliche Bekehrung Konstantins, früh im vierten Jahrhundert, verursachte große Freude, und die Welt zog, angetan mit dem Schein der Gerechtigkeit, in die Kirche ein. Jetzt machte das Verderben schnellen Fortschritt. Das Heidentum wurde, während es besiegt zu sein schien, zum Sieger. Sein Geist beherrschte die Kirche. Seine Lehren, sein Gepränge und sein Aberglaube wurden dem Glauben und der Gottesverehrung der bekenntlichen Nachfolger Christi einverleibt.
Dieser Ausgleich zwischen Heidentum und Christentum hatte die Entwicklung des „Menschen der Sünde“ zur Folge, von dem die Prophezeiung voraussagte, daß er der Widersacher sei und sich über alles, was Gott heißt, überheben werde. Jenes riesenhafte System falscher Religion ist ein Meisterstück der Macht Satans - ein Denkmal seiner Anstrengungen, sich selbst auf den Thron zu setzen und die Erde nach seinem Willen zu beherrschen.
Satan versuchte es einmal, sich mit Christo zu einigen. Er kam zum Sohne Gottes in der Wüste der Versuchung, zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und machte ihm das Anerbieten, alles in seine Hände zu geben, falls er nur die Oberherrschaft des Fürsten der Finsternis anerkennen wollte. Christus schalt den verwegenen Versucher und zwang ihn, sich zu entfernen. Satan hat aber größeren Erfolg, wenn er mit denselben Versuchungen an die Menschen herantritt. Um sich irdischen Gewinn und weltliche Ehren zu sichern, wurde die Kirche dazu verleitet, die Gunst und den Beistand der Großen dieser Erde zu suchen und indem sie auf diese Weise das Christum verwarf, gelangte sie dahin, mit dem Stellvertreter Satans - dem Bischof von Rom - ein Treuebündnis einzugehen.
Es ist eine der Hauptlehren der römischen Kirche, daß der Papst das sichtbare Haupt der allgemeinen Kirche Christi sei, angetan mit höchster Autorität über Bischöfe und Geistliche in allen Teilen der Welt. Mehr als das, man hat dem Papst sogar die Titel der Gottheit beigelegt. Er ist „der Herr Gott Papst“ (Siehe Anhang) genannt und als unfehlbar erklärt worden. Er verlangt, daß alle Menschen ihm Verehrung zollen. Somit werden dieselben Ansprüche, welche Satan in der Wüste der Versuchung vorbrachte, von ihm noch durch die Kirche von Rom gemacht, und viele sind bereit, ihm Huldigung zu gewähren.
Diejenigen aber, welche Gott fürchten und ihn verehren, treten dieser den Himmel herausfordernden Anmaßung gegenüber, wie Christus den Verlockungen des verschlagenen Feindes gegenübertrat: „Du sollst Gott deinen Herrn, anbeten, und ihm allein dienen.“ (Luk. 4,8.) Gott hat in seinem Worte nie einen Wink gegeben, daß er irgend einen Menschen bestimmt hat, das Oberhaupt der Gemeinde zu sein. Die Lehre von der päpstlichen Oberherrschaft ist den Aussprüchen der Heiligen Schrift geradezu entgegen. Der Papst kann keine Macht haben über die Gemeinde Christi, außer durch unrechtmäßige Aneignung.
Die Römlinge haben darauf beharrt, die Protestanten der Ketzerei und der eigenwilligen Trennung von der wahren Kirche zu beschuldigen. Aber diese Anklagen lassen sich eher auf sie selber anwenden. Sie sind diejenigen, welche das Banner Christi niederlegten und von dem Glauben abwichen, „der einmal den Heiligen übergeben ist.“ (Judas 3.)
Satan wußte gar wohl, daß die Heilige Schrift die Menschen befähigen würde, seine Täuschungen zu erkennen und seiner Macht zu widerstehen; hatte doch selbst der Heiland der Welt seinen Angriffen durch das Wort Gottes widerstanden. Bei jedem Ansturm hielt Christus ihm den Schild der ewigen Wahrheit entgegen und sagte: „Es steht geschrieben“. Jeder Einflüsterung des Feindes widerstand er durch die Weisheit und Macht des Wortes. Um die Herrschaft über die Menschen aufrechtzuerhalten und seine Autorität zu befestigen, mußte Satan das Volk in bezug auf die Heilige Schrift in Unwissenheit halten. Die Bibel würde Gott erheben und den sterblichen Menschen ihre wahre Stellung anweisen; deshalb mußten ihre heiligen Wahrheiten geheim gehalten und unterdrückt werden. Dieser Plan wurde von der Kirche angenommen. Jahrhundertelang war die Verbreitung der Bibel (in der Volkssprache) verboten; das Volk durfte sie nicht lesen noch im Hause haben, und Geistliche legten ihre Lehren zur Begründung ihrer eigenen Anmaßungen aus. Auf diese Weise wurde das Kirchenoberhaupt beinahe allgemein anerkannt als Statthalter Gottes auf Erden, der mit Autorität über Kirche und Staat ausgestattet worden sei.
Da das einzig zuverlässige Mittel zur Entdeckung des Irrtums auf die Seite geschafft worden war, wirkte Satan ganz nach Willkür. Die Prophezeiung hatte erklärt, das Papsttum werde „sich unterstehen, Zeit und Gesetz zu ändern.“ (Dan. 7, 25.) Dieses Werk zu versuchen war es nicht müßig. Um den vom Heidentum Bekehrten ein Ersatzmittel für die Bekehrung von Götzen zu bieten und so ihre äußerliche Annahme des Christentums zu befördern, wurde stufenweise die Anbetung von Bildern und Reliquien in den christlichen Gottesdienst eingeführt. Das Dekret einer allgemeinen Kirchenversammlung richtete schließlich dieses System der Abgötterei auf. (Das zweite nicänische Konzil, im Jahre 787.) Um das gotteslästerliche Werk zu vollenden, maßte sich Rom an, aus dem Gesetze Gottes das zweite Gebot, welches die Bilderverehrung (siehe Anhang) verbietet, auszulassen, und das zehnte in zwei zu teilen, um die Zahl beizubehalten.
Der Geist des Zugeständnisses dem Heidentum gegenüber öffnete den Weg für eine noch größere Mißachtung der Autorität des Himmels. Satan tastete durch ungeheiligte Männer auch das vierte Gebot an und versuchte, den alten Sabbat, den Tag, welchen Gott gesegnet und geheiligt hatte (l. Mose 2, 2.3.) beiseite zusetzen und anstatt seiner den von den Heiden als „ehrwürdigen Tag der Sonne“ beobachteten Festtag zu erheben. Diese Veränderung wurde anfangs nicht offen versucht. In den ersten Jahrhunderten war der wahre Sabbat von allen Christen gehalten worden. Sie eiferten für die Ehre Gottes, und da sie glaubten, daß sein Gesetz unveränderlich sei, wahrten sie eifrig die Heiligkeit seiner Vorschriften. Aber mit großer Schlauheit wirkte Satan durch seine Werkzeuge, um seinen Zweck zu erreichen. Um die Aufmerksamkeit des Volkes auf den Sonntag zu richten, wurde er zu einem Festtag zu Ehren der Auferstehung Christi gemacht und an ihm Gottesdienst gehalten; doch betrachtete man ihn nur als einen Tag der Erholung und hielt den Sabbat noch immer heilig.
Um den Weg für das von ihm beabsichtigte Werk vorzubereiten, hatte Satan die Juden vor der Ankunft Christi verleitet, den Sabbat mit höchst strengen Anforderungen zu belasten, so daß seine Feier eine Bürde wurde. Jetzt benutzte er das falsche Licht, in welchem er ihn auf diese Weise hatte erscheinen lassen, um auf ihn, als auf eine jüdische Einrichtung, Verachtung zu häufen. Während die Christen im allgemeinen fortfuhren, den Sonntag als einen Freudentag zu beobachten, veranlaßte er sie, um ihren Haß gegen alles Jüdische zu zeigen, den Sabbat zu einem Fasttag, einem Tag der Trauer und des Trübsinns, zu gestalten.
Am Anfang des vierten Jahrhunderts erließ Kaiser Konstantin ein Dekret (siehe Anhang) im ganzen Römischen Reich, demzufolge der Sonntag als ein öffentlicher Festtag eingesetzt wurde. Der Tag der Sonne wurde von den heidnischen Untertanen verehrt und von den Christen geachtet, und der Kaiser verfolgte die Absicht, die widerstreitenden Ansichten des Christentums mit denen des Heidentums zu vereinen. Er wurde dazu von den Bischöfen der Kirche gedrängt, die, von Ehrgeiz und Durst nach Macht beseelt, einsahen, daß den Heiden die äußerliche Annahme des Christentums erleichtert und somit die Macht und Herrlichkeit der Kirche gefördert würde, wenn sowohl von den Christen als auch von den Heiden der nämliche Tag beobachtet würde. Aber während viele fromme Christen allmählich dahin kamen, dem Sonntag einen gewissen Grad von Heiligkeit beizumessen, hielten sie doch den wahren Sabbat als dem Herrn heilig und beobachteten ihn im Gehorsam gegen das vierte Gebot.
Der Erzbetrüger hatte sein Werk nicht vollendet. Er war entschlossen, die ganze christliche Welt unter sein Banner zu sammeln, und durch seinen Statthalter, den stolzen Oberpriester, der behauptete, der Stellvertreter Christi zu sein, seine Macht geltend zu machen. Durch halb bekehrte Heiden, ehrgeizige Prälaten und weltliebende Geistliche erreichte er seinen Zweck. Von Zeit zu Zeit wurden große Kirchenversammlungen gehalten, zu welchen die Würdenträger der Kirche aus allen Weltgegenden zusammenkamen. Auf fast jedem Konzil wurde der von Gott eingesetzte Sabbat etwas mehr erniedrigt und der Sonntag dementsprechend erhöht. So wurde der heidnische Festtag schließlich als eine göttliche Einrichtung verehrt, während der Bibelsabbat als Überbleibsel des Judentums verschrieen und seine Beobachter als verflucht erklärt wurden.
Dem großen Abtrünnigen war es gelungen, sich über „alles, was Gott oder Gottesdienst heißt,“ (2. Thess. 2, 4.) zu erheben. Er hatte sich erkühnt, die einzige Vorschrift des göttlichen Gesetzes, welche unverkennbar alle Menschen auf den wahren und lebendigen Gott hinweist, zu verändern. Im vierten Gebot wird Gott als der Schöpfer Himmels und der Erde offenbart und dadurch von allen falschen Göttern unterschieden. Zum Andenken an das Schöpfungswerk wurde der siebente Tag als Ruhetag für die Menschen geheiligt. Er war dazu bestimmt, dem Menschen den lebendigen Gott als die Quelle des Seins und den Gegenstand der Verehrung und Anbetung beständig vor Augen zu halten. Satan jedoch bestrebt sich, die Menschen von ihrer Treue zu Gott und vom Gehorsam gegen sein Gesetz abwendig zu machen, und deshalb richtet er seine Angriffe besonders gegen jenes Gebot, welches Gott als den Schöpfer kennzeichnet.
Die Protestanten machen jetzt geltend, daß die Auferstehung Christi am Sonntage diesen Tag zum Ruhetag der Christen mache; jedoch fehlen hierfür die Beweise aus der Heiligen Schrift. Weder Christus noch seine Apostel haben diesem Tage eine solche Ehre beigelegt. Die Beobachtung des Sonntags als eine christliche Einrichtung hat ihren Ursprung in jenem „Geheimnis der Bosheit.,“ welches schon in den Tagen Pauli sein Werk begonnen hatte. (2. Thess. 2, 7; Grundtext: „Geheimnis der Gesetzlosigkeit.“) Wo und wann aber hat der Herr dies Kind des Abfalls angenommen? Welcher rechtsgültige Grund kann für eine Veränderung gegeben werden, welche die Heilige Schrift nicht billigt?
Im sechsten Jahrhundert hatte das Papsttum bereits eine feste Grundlage gewonnen. Der Sitz seiner Macht war in der kaiserlichen Stadt aufgerichtet und der römische Bischof als Oberhaupt der ganzen Kirche erklärt worden. Das Heidentum hatte dem Papsttum Platz gemacht, der Drache dem Tiere „seine Kraft, seinen Stuhl und große Macht“ (Offb. 13,2, siehe auch Anhang) gegeben. Und nun begannen die zwölfhundertsechzig Jahre der päpstlichen Unterdrückung, wie sie in den Prophezeiungen Daniels und der Offenbarung vorhergesagt sind. (Dan. 7, 25; Offb. 13, 5-7.) Die Christen waren gezwungen zu wählen, ob sie entweder ihre Rechtschaffenheit aufgeben und die päpstlichen Gebräuche und den päpstlichen Gottesdienst annehmen, oder ihr Leben in Kerkerzellen aufreiben oder auf der Folterbank, auf dem Scheiterhaufen oder durch das Henkerbeil den Tod erleiden wollten. Nun wurden die Worte Jesu erfüllt: „Ihr werdet aber überantwortet werden von den Eltern, Brüdern, Gefreunden und Freunden; und sie werden eurer etliche töten. Und ihr werdet gehaßt sein von jedermann, um meines Namens willen.“ (Luk. 21, 16.17.) Verfolgung ergoß sich mit größerer Wut über die Gläubigen als je zuvor, und die Welt wurde ein weites Schlachtfeld. Für Hunderte von Jahren fand die Gemeinde Zuflucht in Zurückgezogenheit und Dunkelheit. So sagt der Prophet: „Und das Weib entfloh in die Wüste, da sie hatte einen Ort bereitet von Gott, daß sie daselbst ernährt würde tausendzweihundertsechzig Tage.“ (Offb. 12,6.)
Der Beginn des dunklen Mittelalters wurde dadurch gekennzeichnet, daß die römische Kirche zur Macht gelangte. Je mehr ihre Macht zunahm, desto dichter wurde die Finsternis. Der Glaube wurde von Christo, dem wahren Grund, auf den Papst von Rom übertragen. Statt für die Vergebung der Sünden und das ewige Heil auf den Sohn Gottes zu vertrauen, sah das Volk auf den Papst und auf die von ihm bevollmächtigten Priester und Prälaten. Es wurde gelehrt, daß der Papst der irdische Mittler sei und niemand sich Gott nähern könne, es sei denn durch ihn, und ferner, daß er für die Menschen an Gottes Stelle stehe und ihm deshalb unbedingt zu gehorchen sei. Ein Abweichen von seinen Anforderungen war hinreichende Ursache dafür, die härtesten Strafen an Leib und Seele über die Schuldigen zu verhängen. So wurden die Gemüter des Volkes von Gott ab und auf fehlbare, irrende und grausame Menschen gelenkt, ja noch mehr, auf den Fürsten der Finsternis selbst, der durch dieselben seine Macht ausübte. Die Sünde war unter einem Gewand von Heiligkeit verdeckt. Wenn die Heilige Schrift unterdrückt wird und die Menschen sich selbst als maßgebend betrachten, so dürfen wir nur Betrug, Täuschung und erniedrigende Ungerechtigkeit erwarten. Mit der Erhebung menschlicher Gesetze und Überlieferungen wurde die Verderbnis offenbar, welche immer aus der Verwerfung des Gesetzes Gottes hervorgeht.
Dies waren Tage der Gefahr für die Gemeinde Christi. Der treuen Fahnenträger waren wahrlich wenige. Obwohl die Wahrheit nicht ohne Zeugen gelassen wurde, schien es doch zuzeiten, als ob Irrtum und Aberglaube vollständig überhandnehmen wollten und die wahre Religion von der Erde verbannt werden würde. Das Evangelium wurde aus den Augen verloren, religiöse Gebräuche hingegen wurden vermehrt und die Leute mit strengen, harten Erpressungen belastet.
Nicht nur wurden sie gelehrt, den Papst als ihren Mittler zu betrachten, sondern auch zur Versöhnung ihrer Sünden auf ihre eigenen Werke zu vertrauen. Lange Pilgerfahrten, Bußübungen, die Errichtung von Kirchen, Kapellen und Altären, das Bezahlen großer Geldsummen an die Kirche - diese und viele ähnliche Lasten wurden auferlegt, um den Zorn Gottes zu besänftigen oder sich seiner Gunst zu versichern, als ob Gott, gleich einem Menschen, wegen Kleinigkeiten erzürnt oder durch Gaben und Bußübungen zufriedengestellt werden könnte.
Trotzdem die Sünde selbst unter den Leitern der römischen Kirche überhandnahm, so schien doch der Einfluß der Kirche beständig zu wachsen. Ungefähr am Schluß des achten Jahrhunderts erhoben die Verteidiger des Papsttums den Anspruch, daß im ersten Zeitalter der Kirche die Bischöfe von Rom dieselbe geistliche Macht besessen hätten, welche sie sich jetzt anmaßten. Um diesen Anspruch geltend zu machen, mußte irgendein Mittel angewendet werden, um ihm den Schein von Autorität zu verleihen, und dies wurde von dem Vater der Lügen bereitwillig ins Werk gesetzt. Alte Handschriften wurden von Mönchen nachgeahmt; bis dahin unbekannte Beschlüsse von Kirchenversammlungen wurden entdeckt, welche die allgemeine Oberherrschaft des Papstes von den frühesten Zeiten an bestätigten. Und eine Kirche, welche die Wahrheit verworfen hatte, nahm diese Fälschungen begierig an. (Siehe Anhang.)
Die wenigen Getreuen, die auf den wahren Grund bauten (vgl. 1. Kor. 3, 10.11.), wurden verwirrt und gehindert, als der Schutt falscher Lehren das Werk lähmte. Gleich den Bauleuten auf den Mauern Jerusalems in den Tagen Nehemias, waren einige bereit zu sagen: „Die Kraft der Träger ist zu schwach, und des Schuttes ist zu viel, wir können an der Mauer nicht bauen.“ (Neh. 4, 4.) Ermüdet von dem beständigen Kampf gegen Verfolgung, Betrug, Ungerechtigkeit und jegliches andere Hindernis, welches Satan ersinnen konnte, um ihren Fortschritt zu hindern, wurden einige Bauleute, die treu gewesen waren, entmutigt, und um des Friedens, der Sicherheit ihres Eigentums und ihres Lebens willen wandten sie sich von dem wahren Grund ab. Andere, unerschrocken bei dem Widerstand ihrer Feinde, erklärten furchtlos: Fürchtet euch nicht vor ihnen; gedenket an den großen, schrecklichen Herrn,“ (Neh. 4,8.) und sie fuhren fort mit der Arbeit, ein jeglicher sein Schwert um seine Lenden gegürtet (vgl. Eph. 6,17.).
Derselbe Geist des Hasses und des Widerstandes gegen die Wahrheit hat zu jeder Zeit Gottes Feinde begeistert, und dieselbe Wachsamkeit und Treue ist von seinen Dienern verlangt worden. Die an die ersten Jünger gerichteten Worte Christi gelten allen seinen Nachfolgern bis ans Ende der Zeit: „Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Wachet!'“ (Mark. 13,37.)
Die Finsternis schien dichter zu werden. Die Bilderverehrung wurde allgemeiner. Vor den Bildern wurden Kerzen angezündet und Gebete dargebracht. Der allerabgeschmacktesten und abergläubischsten Gebräuche nahmen überhand. Die Gemüter der Menschen wurden so vollständig von Aberglauben beherrscht, daß die Vernunft selbst ihre Herrschaft verloren zu haben schien. Während Priester und Bischöfe selbst vergnügungssüchtig, sinnlich und verdorben waren, konnte man nur erwarten, daß das Volk, welches um Leitung zu ihnen aufschaute, in Unwissenheit und Laster versinken würde.
Ein weiterer Schritt in der päpstlichen Anmaßung wurde gemacht, als im elften Jahrhundert Papst Gregor VII. die Vollkommenheit der römischen Kirche verkündete. Unter den von ihm vorgebrachten Anträgen war einer, der erklärte, daß die Kirche nie geirrt habe noch der Heiligen Schrift gemäß je irren werde; aber biblische Beweise begleiteten diese Behauptung nicht. Der stolze Oberpriester beanspruchte auch die Macht, Kaiser abzusetzen und erklärte, daß kein von ihm ausgesprochener Rechtsspruch von irgend jemand umgestoßen werden könne, während es sein Vorrecht sei, die Beschlüsse anderer aufzuheben. (Siehe Anhang.)
Einen schlagenden Beweis seines Charakters lieferte dieser Befürworter der Unfehlbarkeit in der Behandlung des deutschen Kaisers Heinrich IV. Weil dieser Fürst gewagt hatte, die Macht des Papstes zu mißachten, wurde er in den Kirchenbann getan und als entthront erklärt. Erschreckt über die Untreue und die Drohungen seiner eigenen Fürsten, die in ihrer Empörung gegen ihn durch den päpstlichen Erlaß ermutigt wurden, hielt Heinrich es für notwendig, Frieden mit Rom zu machen. In Begleitung seiner Gemahlin und eines treuen Dieners überschritt er mitten im Winter die Alpen, damit er sich vor dem Papst demütige. Als er das Schloß, wohin Gregor sich zurückgezogen, erreicht hatte, wurde er ohne seine Leibwache in einen Vorhof geführt und dort erwartete er in der strengen Kälte des Winters, mit unbedecktem Haupte und nackten Füßen, in einem elenden Anzuge die Erlaubnis des Papstes, vor ihm erscheinen zu dürfen. Erst nachdem er drei Tage mit Fasten und Beichten zugebracht hatte, ließ sich der Papst herab, ihm Verzeihung zu gewähren, und selbst dann geschah es nur unter der Bedingung, daß der Kaiser seine Genehmigung abwarte, ehe er sich aufs neue mit dem Amtszeichen schmücke oder die Macht der Kaiserwürde ausübe. Gregor aber, durch seinen Sieg erkühnt, prahlte, daß es seine Pflicht sei, den Stolz der Könige zu demütigen.
Wie auffallend ist der Unterschied zwischen der Überhebung dieses Priesterfürsten und der Sanftmut und Milde Christi, der sich selbst darstellt als an der Tür des Herzens um Einlaß bittend, damit er einkehre, um Vergebung und Frieden zu bringen, der seine Jünger lehrt: „Wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht.“ (Matth., 20,27.)
Die nachfolgenden Jahrhunderte waren Zeugen einer beständigen Zunahme des Irrtums in den von Rom ausgehenden Lehren. Schon vor der Aufrichtung des Papsttums waren die Lehren heidnischer Philosophen beachtet worden und hatten einen Einfluß in der Kirche ausgeübt. Viele vorgeblich Bekehrte hingen noch immer an den Lehrsätzen ihrer heidnischen Philosophie und fuhren nicht nur fort, sie selbst zu erforschen, sondern drängten sie auch andern auf, um ihren Einfluß unter den Heiden auszudehnen. Auf diese Weise wurden bedenkliche Irrtümer in den christlichen Glauben eingeschleppt. Herausragend unter diesen war der Glaube an die natürliche Unsterblichkeit des Menschen und sein Bewußtsein nach dem Tode. Diese Lehre legte den Grund, auf den Rom die Anrufung der Heiligen und die Anbetung der Jungfrau Maria baute. Hieraus entsprang auch die Irrlehre von einer ewigen Qual für die bis zuletzt Unbußfertigen, die dem päpstlichen Glauben schon früh einverleibt wurde.
Damit war der Weg vorbereitet für die Einführung noch einer anderen Erfindung des Heidentums, welche Rom das Fegefeuer nannte und dann anwandte, um der leichtgläubigen und abergläubischen Menge Furcht einzujagen. Durch diese Lehre wird das Vorhandensein eines Ortes der Qual behauptet, an welchem die Seelen derer, die keine ewige Verdammnis verdient haben, für ihre Sünden bestraft werden und von wo aus sie, sobald sie frei von aller Unreinheit sind, in den Himmel zugelassen werden. (Siehe Anhang.)
Noch eine andere Erdichtung war notwendig, um Rom in den Stand zu setzen, die Furcht und die Sünden seiner Anhänger für sich auszubeuten. Diese fand sich in der Ablaßlehre. Volle Vergebung der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden und Erlaß aller sich dadurch zugezogenen Strafen und Qualen wurden allen zugesichert, die sich an den Kriegen des Papsttums beteiligten, sei es um seine weltliche Herrschaft zu erweitern, seine Feinde zu züchtigen oder die auszutilgen, welche sich erkühnten, seine geistliche Oberherrschaft zu bestreiten. Es wurde ferner gelehrt, daß man sich durch Bezahlen von Geld an die Kirche von Sünden befreien und auch die Seelen verstorbener Freunde, die in den quälenden Flammen gefangen gehalten wurden, erlösen könnte. Durch solche Mittel füllte Rom seine Kassen und unterhielt den Prunk, das Wohlleben und das Laster der vorgeblichen Vertreter dessen, der nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte (siehe Anhang.)
Die schriftgemäße Verordnung des Abendmahls war durch das Meßopfer verdrängt worden. Die Priester behaupteten, einfaches Brot und Wein in den persönlichen Leib und das wirkliche Blut Christi zu verwandeln. Sie beanspruchten öffentlich die Macht, Gott, den Schöpfer aller Dinge, „zu schaffen.“ (Siehe Anhang.) Von den Christen wurde bei Todesstrafe verlangt, ihren Glauben an diese Lehre zu bekennen. Scharenweise wurden solche, die sich weigerten, den Flammen übergeben.
Im dreizehnten Jahrhundert wurde jenes schrecklichste der Werkzeuge des Papsttums - die Inquisition - eingeführt. Der Fürst der Finsternis wirkte mit den Vorstehern der päpstlichen Priesterherrschaft. In ihren geheimen Beratungen beherrschten Satan und seine Engel die Gemüter der schlechten Menschen, während ungesehen ein Engel Gottes in ihrer Mitte stand und den furchtbaren Bericht ihrer gottlosen Beschlüsse aufnahm und die Geschichte von Taten niederschrieb, welche zu schrecklich sind, um vor menschlichen Augen zu erscheinen. „Babylon die große“ war „trunken von dem BIute der Heiligen“. Die verstümmelten Leiber und das Blut der Millionen von Märtyrer schrien zu Gott um Rache gegen jene abtrünnige Macht.
Das Papsttum war zum Zwingherrn der Welt geworden. Könige und Kaiser beugten sich vor den Erlassen des römischen Oberpriesters. Das Schicksal der Menschen, für Zeit und Ewigkeit, schien in seiner Gewalt zu sein. Jahrhunderte lang waren die Lehren Roms ausschließlich und unbedingt angenommen, seine Gebräuche ehrfurchtsvoll vollzogen, seine Feste allgemein beobachtet worden. Seine Geistlichkeit wurde geehrt und freigebig unterstützt. Nie seither hat die römische Kirche größere Würde, Herrlichkeit oder Macht erlangt.
Die Mittagszeit des Papsttums war die sittliche Mitternacht der Welt. Die Heilige Schrift war nicht nur dem Volke, sondern auch den Priestern beinahe unbekannt. Gleich den Pharisäern vor alters haßten die päpstlichen Anführer das Licht, welches ihre Sünden aufgedeckt hätte. Da Gottes Gesetz, die Richtschnur der Gerechtigkeit, weggetan worden war, übten sie Gewalt aus ohne Grenzen und begingen Laster ohne Einschränkung. Betrug, Geiz, Verworfenheit waren an der Tagesordnung. Die Menschen schreckten vor keinem Verbrechen zurück, durch welches sie Reichtum oder Stellung erlangen konnten. Die Paläste der Päpste und Prälaten waren der Schauplatz gemeinster Ausschweifungen. Einige der regierenden Päpste machten sich so empörender Verbrechen schuldig, daß weltliche Herrscher es versuchten, diese Würdenträger der Kirche, die zu niederträchtig waren, um geduldet zu werden, abzusetzen. Jahrhundertelang hatte Europa keinen Fortschritt in den Wissenschaften, der Kunst oder der Zivilisation gemacht. Eine sittliche und geistige Lähmung hatte das Christentum befallen.
Der Zustand der Welt unter der römischen Macht war eine furchtbare und auffallende Erfüllung der Worte des Propheten Hosea: „Mein Volk ist dahin, darum daß es nicht lernen will. Denn du verwirfst Gottes Wort, darum will ich dich auch verwerfen ... Du vergissest des Gesetzes deines Gottes, darum will ich auch deiner Kinder vergessen.“ „Denn es ist keine Treue, keine Liebe, kein Wort Gottes im Lande; sondern Gotteslästern, Lügen, Morden, Stehlen und Ehebrechen hat überhand genommen, und kommt eine Blutschuld nach der andern.“ (Hosea 4, 6.1.2.) Solcher Art waren die Folgen der Verbannung des Wortes Gottes.


 
KAPITEL 4

DIE WALDENSER

Inmitten der Dunkelheit, die sich während des langen Zeitabschnittes der päpstlichen Herrschaft über die Erde lagerte, konnte das Licht der Wahrheit nicht vollständig ausgelöscht werden. In jedem Zeitalter gab es Zeugen für Gott - Seelen, die den Glauben an Christum als den einzigen Vermittler zwischen Gott und den Menschen werthielten, denen die Bibel als die einzige Richtschnur des Lebens galt und die den wahren Sabbat feierten. Wieviel die Welt diesen Leuten schuldet, wird die Nachwelt nie erkennen. Sie wurden als Ketzer gebrandmarkt, sie wurden verleumdet, ihre Beweggründe angefochten, ihre Schriften unterdrückt, mißdeutet oder entstellt; dennoch standen sie fest und bewahrten von Jahrhundert zu Jahrhundert ihren Glauben in seiner Reinheit als ein heiliges Erbteil für die kommenden Geschlechter.
Die Geschichte des treuen Volkes Gottes während den Jahrhunderten der Finsternis, welche der Erlangung der Oberherrschaft Roms folgten, steht im Himmel geschrieben. Nur wenige Spuren davon lassen sich in menschlichen Berichten finden, ausgenommen in den Anschuldigungen und den Anklagen ihrer Verfolger. Es war das staatskluge Verfahren Roms, jede Spur von Meinungsverschiedenheit betreffs seiner Lehren oder Verordnungen auszutilgen. Alles Ketzerische, ob Personen oder Schriften, wurde vernichtet. Ein einziger Ausdruck des Zweifels, eine Frage hinsichtlich der Autorität der päpstlichen Dogmen, war genug, um das Leben von reich und arm, hoch oder niedrig zu verwirken. Rom bestrebte sich auch, jeden Bericht seiner Grausamkeit gegen Andersdenkende zu vernichten. Päpstliche Konzilien verordneten, daß, Bücher und Schriften, die dergleichen Berichte enthielten, den Flammen übergeben werden sollten. Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst waren die Bücher gering an Zahl und in einer für ihre Aufbewahrung nicht günstigen Form; deshalb fiel es den Römlingen nicht schwer, ihre Absicht auszuführen.
Keine Gemeinde innerhalb der Grenzen der römischen Gerichtsbarkeit blieb lange ungestört im Genuß der Gewissensfreiheit. Kaum hatte das Papsttum Macht erlangt, als es schon seine Arme ausstreckte, um alles zu erdrücken, was sich weigerte, seine Oberhoheit anzuerkennen, und eine Gemeinde nach der anderen unterwarf sich seiner Herrschaft.
In Großbritannien hatte das Urchristentum schon frühe Wurzel gefaßt. Das von den Briten in den ersten Jahrhunderten angenommene Evangelium war damals noch unverdorben von dem römischen Abfall. Die Verfolgung seitens heidnischer Kaiser, die sich bis nach diesen entfernten Küsten ausdehnte, war die einzige „Gabe“, welche die ersten britischen Gemeinden von Rom erhielten. Viele Christen, die vor der Verfolgung in England flohen, fanden eine Zuflucht in Schottland; von dort wurde die Wahrheit nach Irland getragen, und in allen diesen Ländern nahm man sie mit Freuden auf.
Als die Sachsen in Britannien eindrangen, gewann das Heidentum die Herrschaft. Die Eroberer verschmähten es, von ihren Sklaven unterwiesen zu werden, und die Christen wurden gezwungen, sich in die Berge und wilden Moore zurückzuziehen. Doch das eine Zeitlang verborgene Licht fuhr fort zu brennen. In Schottland schien es ein Jahrhundert später mit einem Glanz, der sich über weit entlegene Länder erstreckte. Von Irland kamen der fromme Kolumban und seine Mitarbeiter; sie sammelten die zerstreuten Gläubigen auf der einsamen Insel Iona um sich und machten sie zum Mittelpunkt ihrer Missionstätigkeit. Unter diesen Evangelisten befand sich ein Beobachter des biblischen Sabbats, und so wurde diese Wahrheit unter dem Volk eingeführt. Auf lona wurde eine Schule errichtet, von wo aus Evangelisten nicht nur nach Schottland und England, sondern auch nach Deutschland, der Schweiz und sogar nach Italien ausgingen.
Aber Rom hatte seine Augen auf Britannien gerichtet und war entschlossen, es unter seine Oberherrschaft zu bringen. Im sechsten Jahrhundert unternahmen seine Sendboten die Bekehrung der heidnischen Sachsen. Sie wurden von den stolzen Barbaren günstig aufgenommen und brachten viele Tausende dahin, sich zum römischen Glauben zu bekennen. Beim Fortschritt des Werkes trafen die päpstlichen Führer und ihre Bekehrten mit den Urchristen zusammen, die einfach, bescheiden und biblisch in Charakter, Lehre und Lebensart waren. Die römischen Abgesandten verlangten, daß diese Christengemeinden die Oberherrschaft des Papstes anerkennen sollten. Die Briten erwiderten sanftmütig, daß sie alle Menschen zu lieben wünschten, daß jedoch der Papst nicht zur Oberherrschaft in der Kirche berechtigt sei und sie ihm nur jene Unterständigkeit erweisen könnten, die jedem Nachfolger Christi gebühre. Wiederholte Versuche wurden gemacht, um ihre Untertanentreue gegen Rom zu sichern; aber diese demütigen Christen, erstaunt über den von seinen Sendlingen entfalteten Stolz, erwiderten standhaft, daß sie keinen andern Herrn als Christum kannten. Nun offenbarte sich der wahre Geist des Papsttums. Der römische Führer sagte: „Wenn ihr die Bruderhand, die euch den Frieden bringen will, nicht annehmen mögt, so sollt ihr Feinde bekommen, die euch den Krieg bringen. Wenn ihr nicht mit uns den Sachsen den Weg des Lebens verkündigen wollt, so sollt ihr von ihrer Hand den Todesstreich empfangen.“ (Beda, Hist. Eccl., II, Kap. 2, Oxford, 1896. d'Aubigne, Gesch. d. Ref., 17. Bhc., 2. Abschn. Neander Kirchengesch., 3. Par., 1. Abschn., S. 9. Gotha, 1856.) Dies waren keine leeren Drohungen. Diese treuen Zeugen für einen biblischen Glauben wurden verfolgt und vernichtet oder gezwungen, sich der Herrschaft des Papstes zu unterwerfen.
In Ländern außerhalb der Gerichtsbarkeit Roms bestanden während vieler Jahrhunderte Gemeinschaften von Christen, die sich beinahe frei von der päpstlichen Verderbnis hielten. Sie waren vom Heidentum umgeben und litten im Laufe der Jahre durch dessen Irrtümer; aber sie fuhren fort, die Bibel als alleinige Richtschnur des Glaubens zu betrachten und hielten manche Wahrheitspunkte fest. Sie glaubten an die ewige Gültigkeit des Gesetzes Gottes und beobachteten den Sabbat des vierten Gebotes. Derartige Gemeinden fanden sich in Afrika und unter den Armeniern in Asien.
Unter denen aber, welche sich den Eingriffen der päpstlichen Macht widersetzten, standen die Waldenser zuvorderst. Gerade in dem Lande, wo das Papsttum seinen Sitz aufgeschlagen hatte, wurde seiner Falschheit und seiner Verderbtheit der entschlossenste Widerstand geleistet. Jahrhundertelang hielten die Gemeinden in Piemont ihre Unabhängigkeit aufrecht, aber schließlich kam die Zeit, da Rom auf ihre Unterwerfung bestand. Nach erfolglosen Kämpfen gegen dessen Tyrannei anerkannten die Leiter dieser Gemeinden widerstrebend die Oberherrschaft der Macht, der sich die ganze Welt zu beugen schien. Eine Anzahl jedoch weigerte sich, der Autorität des Papstes oder der Prälaten nachzugeben und war entschlossen, Gott ihre Treue zu halten und die Reinheit und Einfachheit ihres Glaubens zu bewahren. Eine Trennung fand statt. Die, welche dem alten Glauben treu blieben, zogen sich nun zurück; einige verließen ihre heimatlichen Alpen und pflanzten das Banner der Wahrheit in fremden Landen auf; andere zogen sich in entlegene Bergschluchten und felsige Festen zurück und bewahrten daselbst ihre Freiheit, Gott zu verehren.
Der Glaube, welcher viele Jahrhunderte lang von den Waldensern bewahrt und gelehrt wurde, stand in einem scharfen Gegensatz zu den von Rom ausgehenden Lehrsätzen. Ihr Glaube hatte das geschriebene Wort Gottes, die Grundsätze des wahren Christentums zur Grundlage. Doch waren jene einfachen Landleute in ihren dunklen Zufluchtsorten, abgeschlossen von der Welt und an ihre täglichen Pflichten unter ihren Herden und in ihren Weingärten gebunden, nicht von selbst zu der Wahrheit gekommen, die im Widerspruch zu den Lehrsätzen und Irrlehren der gefallenen Kirche stand; ihr Glaube war nicht ein neu angenommener; ihre religiöse Überzeugung war ein Erbgut ihrer Väter. Sie kämpften für den Glauben der apostolischen Kirche, „der einmal den Heiligen übergeben ist.“ (Judas 3.) Die Gemeinden in der Wüste, und nicht die stolze Priesterherrschaft auf dem Thron der großen Welthauptstadt, war die wahre Gemeinde Christi, der Wächter der Schätze der Wahrheit, die Gott seinem Volk anvertraut hatte, um sie der Welt zu übermitteln.
Unter den Hauptursachen, welche zu der Trennung der wahren Gemeinde von Rom geführt hatten, war ihr Haß gegen den biblischen Sabbat. Wie von der Prophezeiung vorhergesagt, warf die päpstliche Macht die Wahrheit zu Boden. Das Gesetz Gottes wurde in den Staub getreten, während die Überlieferungen und Gebräuche der Menschen erhoben wurden. Die Kirchen, welche unter der Herrschaft des Papsttums standen, wurden schon früh gezwungen, den Sonntag als einen heiligen Tag zu ehren. Unter dem vorherrschenden Irrtum und Aberglauben wurden selbst von dem wahren Volke Gottes viele so verwirrt, daß sie den Sabbat feierten und gleichzeitig sich auch am Sonntag der Arbeit enthielten. Dies aber genügte den päpstlichen Führern nicht. Sie verlangten nicht nur, daß der Sonntag geheiligt, sondern auch, daß der Sabbat entheiligt werde, und sie verurteilten in den stärksten Ausdrücken alle, die es wagten, ihm Ehre zu erweisen. Nur wer der römischen Macht entronnen war, konnte dem Gesetze Gottes in Frieden gehorchen.
Die Waldenser gehörten mit zu den ersten Völkern Europas, die in den Besitz einer Übersetzung der Heiligen Schrift gelangten (siehe Anhang). Jahrhunderte vor der Reformation besaßen sie eine Abschrift der Bibel in ihrer Muttersprache; somit hatten sie die Wahrheit unverfälscht und wurden dadurch zu einem besonderen Gegenstand des Hasses und der Verfolgung. Sie erklärten die römische Kirche für das abtrünnige Babylon der Offenbarung und erhoben sich unter Gefahr ihres Lebens, um seinen Verführungen zu widerstehen. (Hahn, Gesch. d. Ketzer, Bd. 2, S. 80-86.) Unter dem Druck einer lang anhaltenden Verfolgung wurden etliche in ihrem Glauben schwankend und ließen nach und nach seine unterscheidenden Grundsätze fahren; andere hielten an der Wahrheit fest. In den finstern Zeiten des Abfalls fanden sich Waldenser, welche die Oberherrschaft Roms bestritten, die Bilderverehrung als Götzendienst verwarfen und den wahren Sabbat beobachteten. Unter den grimmigsten Stürmen des Widerstandes bewahrten sie ihren Glauben. Obwohl von den savoyischen Speeren durchbohrt und von den römischen Brandfackeln versengt, standen sie doch unentwegt ein für Gottes Wort und Ehre.
Hinter den hohen Bollwerken der Gebirge - zu allen Zeiten der Zufluchtsort für die Verfolgten und Unterdrückten - fanden die Waldenser ein Versteck. Hier wurde das Licht der Wahrheit während der Finsternis des Mittelalters leuchtend erhalten; hier bewahrten tausend Jahre lang Zeugen der Wahrheit den alten Glauben.
Gott hatte für sein Volk ein Heiligtum von feierlicher Erhabenheit vorgesehen, den gewaltigen Wahrheiten entsprechend, die ihm anvertraut worden waren. Jenen getreuen Verbannten waren die Berge ein Sinnbild der unwandelbaren Gerechtigkeit Jehovas. Sie wiesen ihre Kinder auf die Höhen hin, welche sich in unveränderlicher Majestät vor ihnen auftürmten und sprachen zu ihnen von dem Allmächtigen, bei dem keine Veränderung noch Wechsel ist, dessen Wort ebenso fest gegründet ist wie die ewigen Hügel. Gott hatte die Berge festgesetzt und sie mit Kraft gegürtet; kein Arm, außer dem der unendlichen Macht, konnte sie von ihrer Stelle bewegen. In gleicher Weise hatte er sein Gesetz, die Grundlage seiner Regierung im Himmel und auf Erden, aufgerichtet. Wohl konnte der Arm des Menschen seine Nebenmenschen erreichen und ihr Leben vernichten; aber er vermochte ebensowenig die Berge aus ihren Grundfesten zu reißen und sie ins Meer zu schleudern, wie eine Vorschrift des Gesetzes Jehovas zu verändern oder eine seiner Verheißungen auszutilgen, die denen gegeben sind, die seinen Willen tun. In ihrer Treue gegen Gottes Gesetz sollten seine Diener ebenso feststehen wie die unbeweglichen Berge.
Die Gebirge, welche ihre tiefen Täler umrahmten, waren beständige Zeugen von Gottes Schöpfungsmacht und eine untrügliche Versicherung seiner schützenden Sorgfalt. Jene Pilger gewannen die stillen Sinnbilder der Gegenwart Jehovas lieb. Sie gaben sich keiner Unzufriedenheit über die Härte ihres Loses hin, fühlten sich inmitten der Einsamkeit der Berge nie allein. Sie dankten Gott, daß er ihnen einen Zufluchtsort vor dem Zorn und der Grausamkeit der Menschen bereitet hatte. Sie freuten sich ihrer Freiheit, vor ihm anzubeten. Oft, wenn sie von ihren Feinden verfolgt wurden, erwies sich die Feste der Höhen als sicherer Schutz. Von manchem hohen Felsen sangen sie das Lob Gottes, und die Heere Roms konnten ihre Dankeslieder nicht zum Schweigen bringen.
Rein, einfältig und inbrünstig war die Frömmigkeit dieser Nachfolger Christi. Sie schätzten die Grundsätze der Wahrheit höher als Häuser, Güter, Freunde, Verwandte, ja selbst als das Leben. Diese Grundsätze versuchten sie ernstlich den Herzen der Jugend einzuprägen. Von frühester Kindheit an wurden die Kinder in der Heiligen Schrift unterwiesen und gelehrt, die Forderungen des Gesetzes Gottes heilig zu achten. Da es nur wenige Abschriften der Bibel gab, wurden ihre köstlichen Worte dem Gedächtnisse eingeprägt, und viele Waldenser wußten große Teile des Alten und des Neuen Testaments auswendig. Gedanken an Gott wurden sowohl mit den erhabenen Naturlandschaften als auch mit den bescheidenen Segnungen des täglichen Lebens verbunden. Kleine Kinder wurden dazu angehalten, dankbar zu Gott als dem Geber jeder Gunst und jeder Freude aufzublicken.
Eltern, so zärtlich und liebevoll sie auch waren, liebten ihre Kinder zu weislich, um sie an Selbstbefriedigung zu gewöhnen. Vor ihnen lag ein Leben voller, Prüfungen und Schwierigkeiten, vielleicht der Tod eines Märtyrers. Sie wurden von Kindheit an dazu erzogen, Schwierigkeiten zu ertragen, sich etwaigen Befehlen zu unterwerfen und doch für sich selbst zu denken und zu handeln. Schon früh wurden sie gelehrt, Verantwortlichkeiten zu tragen, auf der Hut zu sein im Reden und die Klugheit des Schweigens zu verstehen. Ein unbedachtes Wort, das in Gegenwart der Feinde fallen gelassen wurde, konnte nicht nur das Leben des Sprechenden, sondern auch dasjenige von Hunderten seiner Brüder gefährden; denn gleichwie Wölfe ihre Beute jagen, verfolgten die Feinde der Wahrheit die, welche es wagten, Glaubensfreiheit zu beanspruchen.
Die Waldenser hatten ihre weltliche Wohlfahrt der Wahrheit wegen geopfert und arbeiteten unermüdlich und mit beharrlicher Geduld für ihr tägliches Brot. Jeder Fleck bestellbaren Bodens in den Gebirgen wurde sorgfältig ausgenützt; die Täler und die wenigen fruchtbaren Abhänge wurden ergiebig gemacht. Sparsamkeit und strenge Selbstverleugnung bildeten einen Teil der Erziehung, welche die Kinder als einziges Vermächtnis erhielten. Sie wurden gelehrt, daß Gott das Leben zu einer Schule bestimmt habe und daß ihre Bedürfnisse nur durch persönliche Arbeit, durch Vorbedacht, Sorgfalt und Glauben gedeckt werden könnten. Wohl war das Verfahren mühsam und beschwerlich, aber es war heilsam und gerade das, was allen Menschen in ihrem gefallenen Zustand not tut; es war die Schule, welche Gott für ihre Erziehung und Entwicklung vorgesehen hatte. Während die Jugend an Mühsal und Ungemach gewöhnt wurde, vernachlässigte man nicht die Bildung des Verstandes. Man lehrte, daß alle Kräfte Gott gehören und daß alle für seinen Dienst vervollkommnet und entwickelt werden müssen.
Die Gemeinden der Waldenser glichen in ihrer Reinheit und Einfachheit der Gemeinde zu den Zeiten der Apostel. Indem sie die Oberherrschaft des Papstes und der Prälaten verwarfen, hielten sie die Bibel als die höchste und einzig unfehlbare Autorität. Ihre Prediger folgten dem Beispiel ihres Meisters, der nicht gekommen war, „daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene.“ Sie speisten die Herde Gottes, indem sie sie auf die grüne Aue und zu dem frischen Wasser seines heiligen Wortes führten. Weit abgelegen von den Denkmälern weltlicher Pracht und Ehre versammelte sich das Volk nicht in stattlichen Kirchen oder großartigen Kathedralen, sondern im Schatten der Gebirge, in den Alpentälern oder zuzeiten der Gefahr in dieser oder jener Felsenfeste, um den Worten der Wahrheit von den Lippen der Knechte Christi zu lauschen. Die Seelenhirten predigten nicht nur das Evangelium, sondern besuchten auch die Kranken, unterrichteten die Kinder, ermahnten die Irrenden und wirkten daraufhin, Streitigkeit zu schlichten und Eintracht und brüderliche Liebe zu fördern. Zur Zeit des Friedens wurden sie durch die freiwilligen Gaben des Volkes unterhalten; doch, gleich Paulus, dem Teppichmacher, erlernte ein jeglicher ein Handwerk oder einen Beruf, wodurch er im Notfalle für seinen eigenen Unterhalt sorgen konnte.
Die Seelenhirten unterrichteten die Jugend. Während die Zweige des allgemeinen Wissens nicht unbeachtet blieben, machte man die Bibel zum Hauptgegenstand des Studiums. Die Schüler lernten das Matthäus- und das Johannes-Evangelium nebst vielen der Briefe auswendig und befaßten sich mit dem Abschreiben der Heiligen Schrift. Etliche Handschriften enthielten die ganze Bibel, andere nur kurze Auszüge denen seitens Personen, welche imstande waren, die Bibel auszulegen, einige einfache Erklärungen des Textes beigefügt waren. Auf diese Weise wurden die Schätze der Wahrheit, die so lange von jenen, die sich über Gott erheben wollten, verborgen gehalten worden waren, zutage gefördert.
Durch geduldige, unermüdliche Arbeit, oft in den tiefen finsteren Höhlen der Erde bei Fackellicht, wurden die Heiligen Schriften Vers für Vers, Kapitel für Kapitel, abgeschrieben. So ging das Werk voran, indem der offenbarte Wille Gottes wie reines Gold hervor leuchtete; wieviel strahlender, klarer und mächtiger infolge der Prüfungen, die um seinetwillen erduldet wurden, konnten nur diejenigen erkennen, die sich an dem Werke beteiligten. Engel vom Himmel umgaben diese treuen Arbeiter.
Satan hatte die päpstlichen Priester und Prälaten angetrieben, das Wort der Wahrheit unter dem Schutt des Irrtums, der Ketzerei und des Aberglaubens zu begraben; aber in höchst wunderbarer Weise wurde es während allen Zeitaltern der Finsternis unverdorben bewahrt. Es trug nicht das Gepräge des Menschen, sondern den Stempel Gottes. Die Menschen sind unermüdlich gewesen in ihren Anstrengungen, die klare, einfache Bedeutung der Schrift zu verdunkeln und sie so hinzustellen, als ob sie sich selbst widerspreche; aber gleich der Arche auf den Wogen der Tiefe widersteht das Wort Gottes den Stürmen, welche ihm mit Vernichtung drohen. Wie die Mine reich an Gold- und Silberadern ist, die unter der Oberfläche verborgen liegen, so daß alle, welche ihre köstlichen Schätze entdecken wollen, danach graben müssen, so hat die Heilige Schrift Schätze der Wahrheit, die nur dem ernsten, demütigen, betenden Sucher offenbar werden. Gott beabsichtigte, daß die Bibel ein Lehrbuch für alle Menschen sowohl in der Kindheit als auch in der Jugendzeit und im Mannesalter sein und immer erforscht werden sollte. Er gab den Menschen sein Wort als eine Offenbarung seiner selbst. Mit jeder neuen, erkannten Wahrheit wird der Charakter ihres Urhebers deutlicher entfaltet. Das Studium der Heiligen Schrift ist das göttlich verordnete Mittel, die Menschen in engere Verbindung mit ihrem Schöpfer zu bringen und ihnen eine klarere Erkenntnis seines Willens zu geben. Es ist das Verkehrsmittel zwischen Gott und dem Menschen.
Während die Waldenser die Furcht des Herrn als der Weisheit Anfang erkannten, übersahen sie keineswegs die Wichtigkeit einer Berührung mit der Welt, einer Kenntnis der Menschen und des tätigen Lebens, um den Geist zu erweitern und den Verstand zu schärfen. Aus ihren Schulen in den Bergen wurden etliche Jünglinge nach Erziehungsanstalten in den Städten Frankreichs oder Italiens gesandt, wo sie ein ausgedehnteres Feld zum Studieren, Denken und Beobachten haben konnten als in ihren heimatlichen Alpen. Die auf diese Weise hinaus gesandten Jünglinge waren Versuchungen ausgesetzt; sie sahen Laster und begegneten Satans verschlagenen Werkzeugen, welche ihnen die verfänglichsten Irrlehren und die gefährlichsten Täuschungen aufzudrängen suchten. Aber ihre Erziehung von Kind auf war dazu angelegt, sie auf alle diese Gefahren vorzubereiten.
In den Schulen, wohin sie gingen, sollten sie niemand zum Vertrauten machen. Ihre Kleider waren besonders eingerichtet, um ihren größten Schatz - die kostbarsten Abschriften der Heiligen Schrift - darin zu verbergen. Diese, die Frucht Monate- und jahrelanger harter Arbeit, führten sie mit sich, und wann es ihnen, ohne Verdacht zu erregen, möglich war, legten sie behutsam einen Teil in den Weg solcher, deren Herzen empfänglich für die Wahrheit zu sein schienen. Von Mutterschoß an waren die waldensischen Jünglinge mit diesem Zweck im Auge erzogen worden; sie verstanden ihr Werk und vollführten es treulich. Viele wurden in diesen Lehranstalten zum wahren Glauben bekehrt, ja häufig durchdrangen dessen Grundsätze die ganze Schule, und doch konnten die päpstlichen Leiter bei sorgfältigster Nachforschung der sogenannten verderblichen Ketzerei nicht auf den Grund kommen.
Christi Geist ist ein Missionsgeist. Der allererste Drang des erneuerten Herzens geht darauf hinaus, andere zum Heiland zu bringen. Derart war auch der Geist der Waldenser. Sie fühlten, daß Gott mehr von ihnen verlangte, als nur die Wahrheit in ihrer Lauterkeit unter den eigenen Gemeinden zu erhalten, daß auf ihnen die feierliche Verantwortlichkeit ruhte, ihr Licht denen, die in der Finsternis waren, leuchten zu lassen, und durch die gewaltige Macht des Wortes Gottes suchten sie die Bande, welche Rom auferlegt hatte, zu brechen. Die Prediger der Waldenser wurden als Missionare ausgebildet, und jeder, der ins Predigtamt eintreten wollte, mußte sich vorerst eine Erfahrung als Evangelist sammeln - mußte drei Jahre lang in dem einen oder anderen Missionsfeld wirken, ehe er über eine Gemeinde in der Heimat eingesetzt wurde. Dieser Dienst, der von vornherein Selbstverleugnung und Opfer forderte, war eine passende Einleitung zu den Erfahrungen eines Seelenhirten in jenen Zeiten, welche die Menschenherzen auf die Probe stellten. Die Jünglinge, welche zum heiligen Amt eingesegnet wurden, hatten keineswegs irdische Reichtümer und Ehre in Aussicht, sondern sahen einem Leben von Mühsalen und Gefahren und möglicherweise dem Martertod entgegen. Die Sendboten gingen je zwei und zwei hinaus, wie Jesus seine Jünger aussandte. Mit jedem Jüngling ging gewöhnlich ein älterer und erfahrener Begleiter, der als Führer des jüngeren diente und für dessen Ausbildung er verantwortlich gehalten wurde und dessen Anweisungen jener Folge leisten mußte. Diese Mitarbeiter waren nicht immer beisammen, vereinigten sich aber oft zum Gebet und zur Beratung und stärkten sich auf diese Weise gegenseitig im Glauben.
Es würde sicherlich Niederlagen herbeigeführt haben, wenn diese Leute den Zweck ihrer Mission bekanntgegeben hätten; deshalb verbargen sie sorgfältig ihren wirklichen Stand. Jeder Prediger verstand irgendein Handwerk oder Gewerbe, und diese Glaubensboten führten ihr Werk unter dem Gewand eines weltlichen Berufes, gewöhnlich eines Verkäufers oder Hausierers aus. „Sie boten Seide, Schmucksachen und andere Gegenstände, die zu jener Zeit nur aus weit entfernten Handelsplätzen zu beziehen waren, zum Verkauf an und wurden dort als Handelsleute willkommen geheißen, wo sie als Missionare zurückgewiesen worden wären.“ (Wylie, Geschichte des Protestantismus, 1. Buch, 7. Kap.) Während der Zeit erhoben sie ihre Herzen zu Gott um Weisheit, einen Schatz, der köstlicher als Gold und Edelsteine war, vorführen zu können. Sie trugen Abschriften der Bibel, ganz oder teilweise, verborgen bei sich, und wenn sich eine Gelegenheit dazu bot, lenkten sie die Aufmerksamkeit ihrer Kunden auf diese Handschriften. Oft wurde auf diese Weise ein Verlangen, Gottes Wort zu lesen, wachgerufen, und ein Teil solchen mit Freuden überlassen, die es annehmen wollten.
Das Werk dieser Sendboten begann in den Ebenen und Tälern am Fuße ihrer eigenen Berge, erstreckte sich jedoch weit über diese Grenzen hinaus. Barfuß, in groben, von der Reise beschmutzten Gewändern, wie die ihres Herrn, zogen sie durch große Städte und drangen vorwärts bis nach entlegenen Ländern. Überall streuten sie den köstlichen Samen aus. Gemeinden erhoben sich auf ihrem Wege, und das Blut von Märtyrern zeugte für die Wahrheit. Der Tag Gottes wird eine reiche Ernte von Seelen offenbaren, die durch die Arbeit dieser getreuen Männer eingeheimst wurden. Heimlich und schweigend bahnte sich Gottes Wort seinen Weg durch die Christenheit und fand in den Wohnungen und Herzen vieler Menschen ein freundliches Willkommen.
Den Waldensern war die Heilige Schrift nicht nur ein Bericht von Gottes Verfahren mit den Menschen in der Vergangenheit und eine Offenbarung der Verantwortlichkeiten und Pflichten in der Gegenwart, sondern auch eine Enthüllung der Gefahren und Herrlichkeiten der Zukunft. Sie glaubten, daß das Ende aller Dinge nicht weit entfernt sei; und indem sie die Bibel unter Gebet und Tränen erforschten, machten ihre köstlichen Aussprüche einen um so tieferen Eindruck, und sie erkannten deutlicher ihre Pflicht, anderen die darin enthaltenen selig machenden Wahrheiten mitzuteilen. Durch das heilige Buch wurde ihnen der Erlösungsplan klar offenbart, und sie fanden Trost, Hoffnung und Frieden im Glauben an Jesum. Je mehr das Licht ihr Verständnis erleuchtete und ihre Herzen fröhlich machte, desto mehr sehnten sie sich danach, seine Strahlen auch auf diejenigen zu lenken, welche noch in der Finsternis des päpstlichen Irrtums befangen waren.
Sie sahen, daß viele Menschen sich umsonst bestrebten, durch das Peinigen ihrer Leiber Vergebung ihrer Sünden zu empfangen. Gelehrt, ihre Seligkeit durch gute Werke zu verdienen, waren sie beständig mit sich selbst beschäftigt, ihre Gedanken verweilten bei ihrem sündigen Zustand, sie sahen sich dem Zorn Gottes ausgesetzt, kasteiten Seele und Leib und fanden doch keine Erleichterung. So wurden gewissenhafte Seelen durch die Lehren Roms gebunden. Tausende verließen Freunde und Verwandte und brachten ihr Leben in Klosterzellen zu. Durch oft wiederholtes Fasten und grausame Geißelungen, durch nächtliche Andachten und stundenlanges Knien auf den kalten, feuchten Steinen ihrer armseligen Behausungen, durch lange Pilgerfahrten, erniedrigende Bußübungen und furchtbare Qualen versuchten Tausende vergebens den Frieden des Gewissens zu erlangen. Niedergebeugt von dem Bewußtsein der Sünde und beunruhigt von der Furcht vor dem rächenden Zorn Gottes litten viele so lange, bis die erschöpfte Natur vollständig unterlag, und ohne einen Strahl des Lichts oder der Hoffnung sanken sie ins Grab.
Diesen schmachtenden Seelen das Brot des Lebens zu brechen, ihnen die Botschaft des Friedens in den Verheißungen Gottes zu eröffnen und sie auf Christum als ihre einzige Hoffnung der Rettung hinzuweisen, war das Verlangen der Waldenser. Die Lehre, daß gute Werke für die Übertretungen des Gesetzes Gottes Genugtuung zu leisten vermögen, betrachteten sie als auf Irrtum begründet. Das Vertrauen auf menschlichen Verdienst versperrt dem Blick die unendliche Liebe Christi. Jesus starb als Opfer für die Menschen, weil die gefallene Menschheit nichts tun kann, um Gott zu gefallen. Die Verdienste eines gekreuzigten und auferstandenen Heilandes sind die Grundlage des christlichen Glaubens. Die Abhängigkeit der Seele von Christo ist nicht minder wirklich, und eine Vereinigung mit ihm durch den Glauben muß ebenso innig sein, wie die eines Gliedes mit dem Leibe oder einer Rebe mit dem Weinstock.
Die Lehren der Päpste und Priester hatten die Menschen verleitet, Gottes und selbst Christi Charakter für streng, finster und abstoßend zu halten. Der Heiland wurde dargestellt, als ob er des Mitleids mit den Menschen in ihrem gefallenen Zustand so sehr ermangele, daß die Vermittlung von Priestern und Heiligen angerufen werden müsse. Die Gläubigen, deren Verständnis durch das Wort Gottes erleuchtet war, verlangten danach, diese Seelen auf Jesum als ihren mitleidsvollen, liebenden Heiland hinzuweisen, der mit ausgestreckten Armen alle einlädt, mit ihren Sündenlasten, ihren Sorgen und Schwierigkeiten zu ihm zu kommen. Sie sehnten sich danach, die Hindernisse wegzuräumen, welche Satan aufgetürmt hatte, damit die Menschen die Verheißungen nicht sehen und nicht direkt zu Gott kommen möchten, um ihre Sünden zu bekennen und Vergebung und Frieden zu erlangen.
Eifrig entfaltete der waldensische Glaubensbote den forschenden Seelen die köstlichen Wahrheiten des Evangeliums und brachte vorsichtig die sorgfältig geschriebenen Teile der Heiligen Schrift hervor. Es war ihm die größte Freude, der gewissenhaften, von der Sünde überzeugten Seele, die nur einen Gott der Rache, der darauf wartet, seine Gerechtigkeit auszuüben, sehen konnte, Hoffnung einzuflößen. Mit bebenden Lippen und tränenden Augen, manchmal kniend, eröffnete er seinen Brüdern die köstlichen Verheißungen, welche des Sünders einzige Hoffnung offenbaren. Auf diese Weise durchdrang das Licht der Wahrheit manches verfinsterte Gemüt und vertrieb die dunkle Wolke, bis die Sonne der Gerechtigkeit mit ihren heilenden Strahlen in das Herz schien. Oft wurde ein Teil der Heiligen Schrift immer wieder gelesen, weil der Hörer es wünschte, als ob er sich vergewissern wolle, daß er recht gehört habe. Besonders wurde die Wiederholung von den Worten ernstlich gewünscht: „Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.“ (l. Joh. 1, 7.) „Wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben.“ (Joh. 3, 14. 15.)
Viele wurden bezüglich der Ansprüche Roms aufgeklärt. Sie erkannten, wie eitel die Vermittlung von Menschen oder Engeln zugunsten des Sünders ist. Als das Licht ihnen aufging, riefen sie mit Freuden aus: Christus ist mein Priester; sein Blut ist mein Opfer; sein Altar ist mein Beichtstuhl. Sie warfen sich völlig auf die Verdienste Jesu und wiederholten die Worte: „Ohne Glauben ist's unmöglich, Gott zu gefallen.“ Es ist „kein anderer Name den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden.“ (Hebr. 11, 6; Apg. 4, 12.)
Die Gewißheit einer Heilandsliebe schien einigen dieser armen, sturmbewegten Seelen zu viel, um es erfassen zu können. So groß war die verursachte Erleichterung, solch eine Flut von Licht wurde über sie ausgeschüttet, daß sie in den Himmel versetzt zu sein schienen. Ihre Hand ruhte vertrauensvoll in der Hand Christi, ihre Füße standen auf dem Felsen des Heils. Alle Todesfurcht war verbannt, ja sie begehrten Gefängnis und Scheiterhaufen, wenn sie dadurch den Namen ihres Erlösers verherrlichen konnten.
An geheimen Orten wurde das Wort Gottes hervor genommen und vorgelesen, zuweilen einer einzelnen Seele, manchmal einer kleinen Schar, welche sich nach Licht und Wahrheit sehnte. Oft wurde die ganze Nacht auf diese Weise zugebracht. So groß war das Erstaunen und die Bewunderung der Zuhörer, daß der Evangeliumsbote sich nicht selten gezwungen sah, mit dem Lesen inne zuhalten, bis das Verständnis die frohe Botschaft des Heils erfassen konnte. Oft wurden ähnliche Worte wie diese laut: Wird Gott wirklich mein Opfer annehmen? Wird er gnädig auf mich herab schauen? Wird er mir vergeben? Die Antwort wurde gelesen:„ Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ (Matth. 11, 28.)
Der Glaube erfaßte die Verheißung, und als freudige Erwiderung hörte man: Keine langen Pilgerfahrten mehr; keine beschwerlichen Reisen nach heiligen Reliquienschreinen mehr. Ich kann zu Jesu kommen, so wie ich bin, sündhaft und unheilig, und er wird das bußfertige Gebet nicht verachten. „Deine Sünden sind dir vergeben“; auch meine, sogar meine, können vergeben werden!
Eine Flut heiliger Freude erfüllte das Herz, und der Name Jesus wurde durch Lobgesänge und Danksagungen verherrlicht. Jene glücklichen Seelen kehrten nach ihren Wohnungen zurück, um Licht zu verbreiten und andern so gut sie konnten, ihre neue Erfahrung zu wiederholen, daß sie den wahren und lebendigen Weg gefunden hätten. Es lag eine seltsame und feierliche Macht in den Worten der Heiligen Schrift, die jenen, die sich nach der Wahrheit sehnten, unmittelbar zu Herzen ging. Es war die Stimme Gottes, welche alle, die sie hörten, zur Überzeugung führte.
Der Bote der Wahrheit ging seinen Weg; aber sein demütiges Auftreten, seine Aufrichtigkeit, sein Ernst und seine tiefe Inbrunst waren Gegenstände häufiger Bemerkungen. In vielen Fällen hatten seine Zuhörer ihn nicht gefragt, woher er käme noch wohin er ginge. Sie waren erst so von Überraschung und nachher von Dankbarkeit und Freude überwältigt gewesen, daß sie nicht daran gedacht hatten, Fragen an ihn zu richten. Hätten sie ihn gebeten, nach ihren Wohnungen zu kommen, so hätte er erwidert, daß er die verlorenen Schafe der Herde besuchen müsse. Konnte er ein Engel vom Himmel gewesen sein? fragten sie sich.
In vielen Fällen sahen sie den Wahrheitsboten nie wieder. Er war vielleicht in andere Länder gegangen oder verbrachte sein Leben in irgendeinem unbekannten Gefängnis, oder seine Gebeine bleichten wohl gar an der Stelle, wo er für die Wahrheit gezeugt hatte. Die Worte aber, die er zurückgelassen hatte, konnten nicht vernichtet werden; sie führten ihr Werk in Menschenherzen aus, und ihre gesegneten Folgen werden erst im Gericht völlig erkannt.
Die waldensischen Sendboten drangen in das Gebiet Satans ein und regten dadurch die Mächte der Finsternis zu größerer Wachsamkeit an. Jede Anstrengung, die Sache der Wahrheit zu fördern, wurde von dem Fürsten der Bosheit überwacht, und er erregte die Furcht seiner Werkzeuge. Die Führer der Kirche sahen aus dem Wirken dieser bescheidenen Wanderer ein Anzeichen der Gefahr für ihre Sache erwachsen. Falls sie das Licht der Wahrheit ungehindert scheinen ließen, würde es die schweren Wolken des Irrtums, welche das Volk einhüllten, hinwegfegen, die Gemüter der Menschen auf Gott allein lenken und am Ende die Herrschaft Roms zugrunde richten.
Schon allein das Vorhandensein dieser Leute, welche den Glauben der alten Gemeinde aufrechterhielten, war ein beständiges Zeugnis für Roms Abfall und erregte deshalb bittersten Haß und Verfolgung. Ihre Weigerung, die Heilige Schrift herauszugeben, war ebenfalls eine Beleidigung, die Rom nicht ertragen konnte. Es beschloß deshalb, sie von der Erde zu vertilgen. Jetzt begannen die schrecklichsten Kreuzzüge gegen Gottes Volk in seinen Gebirgswohnungen. Inquisitoren spürten ihm nach, und oft wiederholte sich ein Vorfall wie damals, als der unschuldige Abel durch den mörderischen Kain fiel.
Wiederholt wurden ihre fruchtbaren Äcker wüste gelegt, ihre Wohnungen und Kapellen der Erde gleich gemacht, so daß dort, wo einst blühende Felder und die Wohnungen eines harmlosen, arbeitsamen Volkes waren, nur eine Wüste übrig blieb. Viele dieser Zeugen für einen reinen Glauben wurden über die Berge hin verfolgt und in den Tälern aufgejagt, wo sie, eingeschlossen von mächtigen Wäldern und Felsspitzen, verborgen waren.
Keine Belastung konnte gegen den sittlichen Charakter dieser geächteten Menschenklasse aufgebracht werden. Sogar ihre Feinde erklärten, daß sie ein friedfertiges, ruhiges und frommes Volk seien. Ihre große Missetat bestand darin, daß sie Gott nicht nach dem Willen des Papstes anbeten wollten. Um dieses Verbrechens willen wurde jegliche Demütigung, Beleidigung und Marter, welche Menschen und Teufel ersinnen konnten, auf sie gehäuft.
Als Rom einst beschloß, diese verhaßte Sekte auszurotten, wurden Bullen erlassen, welche ihre Anhänger als Ketzer verdammten und sie der Niedermetzelung preisgaben. (Siehe Anhang.) Sie wurden nicht als Müßiggänger, Unredliche oder Ausschweifende angeklagt, sondern es wurde erklärt, daß sie einen Schein von Frömmigkeit und Heiligkeit bewahrten, wodurch die Schafe der wahren Herde verführt würden. Deshalb wurde verordnet, diese heimtückische und abscheuliche Sekte von Bösewichtern, falls sie sich weigerte abzuschwören, gleich giftigen Schlangen zu zermalmen. (Wylie, 16. Buch, 1. Kap. Siehe auch Bender, Geschichte der Waldenser, S. 81. 125, Ulm, 1850, Hahn, Gesch. d. W., S. 744 f.) Erwarteten die Machthaber diese Worte wieder anzutreffen? Wußten sie, daß sie in den Büchern des Himmels aufgezeichnet wurden, um ihnen im Gericht vorgehalten zu werden? Jesus sagte: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ (Matth. 25, 40.)
Eine Bulle forderte alle Glieder der Kirche auf, sich dem Kreuzzug gegen die Ketzer anzuschließen. Als Aufmunterung zu diesem grausamen Werk sprach sie sie von allen Kirchenbußen und Strafen, allgemeinen und persönlichen, frei, entband alle, welche den Kreuzzug mitmachten, von irgendwelchen Eiden, die sie geleistet haben mochten, machte ihre etwaigen unrechtmäßigen Ansprüche auf irgendein Besitztum rechtsgültig und verhieß jedem, der einen Ketzer tötete, Erlaß aller Sünden. Sie erklärte alle zugunsten der Waldenser geschlossenen Verträge für nichtig, befahl den Dienstboten, ihren Dienst bei den Waldensern aufzugeben, verbot allen, jenen irgendwelche Hilfe zu gewähren und ermächtigte jedermann, von ihrem Eigentum Besitz zu nehmen. Dies Schriftstück offenbarte deutlich den Herrschergeist, der diese Auftritte leitete; das Gebrüll des Drachen und nicht die Stimme Christi ließ sich darin vernehmen.
Die päpstlichen Anführer wollten ihren Charakter nicht mit dem großen Maßstab des Gesetzes Gottes in Übereinstimmung bringen, sondern stellten einen Maßstab auf, der ihnen paßte und beschlossen, alle zu zwingen, sich nach diesem zu richten, weil Rom es so haben wollte. Die schrecklichsten Trauerspiele wurden aufgeführt. Verkommene und gotteslästerliche Priester und Päpste taten das Werk, welches Satan ihnen zugewiesen hatte. Erbarmen hatte keinen Raum in ihren Herzen. Derselbe Geist, welcher Christum kreuzigte und die Apostel erschlug, derselbe, der den blutdürstigen Nero gegen die Getreuen in seinen Tagen antrieb, arbeitete daran, die Erde von denen zu befreien, welche von Gott geliebt waren.
Die Verfolgungen, von denen diese gottesfürchtigen Menschen viele Jahrhunderte lang heimgesucht wurden, wurden mit einer Geduld und einer Ausdauer ertragen, welche ihren Erlöser ehrte. Ungeachtet der gegen sie unternommenen Kreuzzüge, ungeachtet der unmenschlichen Schlächterei, der sie unterworfen waren, fuhren sie fort, ihre Sendboten auszuschicken, um die köstliche Wahrheit zu verbreiten. Sie wurden zu Tode gejagt; doch ihr Blut bewässerte den gesäten Samen, und dieser ermangelte nicht, Frucht zu bringen. So zeugten die Waldenser für Gott schon Hunderte von Jahren vor der Geburt Luthers. Über viele Länder verstreut, pflanzten sie den Samen der Reformation, welche zur Zeit Wiklifs begann, weit und breit in den Tagen Luthers um sich griff und bis zum Ende der Zeit fortgeführt werden soll von denen, welche ebenfalls willig sind, alles zu leiden „um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses Jesu Christi.“ (Offb. 1, 9.)


 
KAPITEL 5

DES ERSTEN REFORMATORS

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KAPITEL 6

HUS UND HIERONYMUS


Das Evangelium war schon im neunten Jahrhundert nach Böhmen gebracht worden. Die Bibel wurde übersetzt und der öffentliche Gottesdienst in der Sprache des Volkes gehalten. So wie aber die Macht des Papsttums zunahm, wurde auch das Wort Gottes verdunkelt. Gregor VII, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Stolz der Fürsten zu demütigen, war nicht weniger darauf bedacht, das Volk zu knechten, und demgemäß wurde eine Bulle erlassen, welche den öffentlichen Gottesdienst in böhmischer Sprache untersagte. Der Papst erklärte, daß es dem Allmächtigen angenehm sei, daß seine Anbetung in einer unbekannten Sprache geschehe und daß viele Übel und Irrlehren aus der Nichtbeachtung dieser Regel hervorgegangen seien. (Comenius, Persec, Eccl. Bohem., S. 16. Siehe auch Wylie, 3. Buch, 1. Kap.) Auf diese Weise verordnete Rom, daß das Licht des Wortes Gottes ausgelöscht und das Volk in Finsternis verschlossen werde. Aber der Himmel hatte andere Werkzeuge zur Erhaltung der Gemeinde vorgesehen. Viele Waldenser und Albigenser, die durch die Verfolgung aus ihren Wohnungen in Frankreich und Italien vertrieben worden waren, kamen nach Böhmen. Wenn sie es auch nicht wagten, öffentlich zu lehren, so arbeiteten sie doch eifrig im geheimen, und so wurde der wahre Glaube von Jahrhundert zu Jahrhundert bewahrt.
Schon vor Hus’ Zeiten standen Männer in Böhmen auf und verurteilten öffentlich die Verderbnis der Kirche und die Laster des Volkes. Ihr Wirken erregte großes Interesse. Die Befürchtungen der Priester wurden erweckt, und man fing an, die Jünger des Evangeliums zu verfolgen. Dadurch gezwungen, ihren Gottesdienst in den Wäldern und Bergen zu halten, wurden sie von Soldaten verfolgt und viele umgebracht. Später wurde beschlossen, daß alle, welche die römischen Gottesdienste verließen, verbrannt werden sollten. Während aber die Christen ihr Leben dahin gaben, richteten sie ihre Blicke auf den Sieg ihrer Sache. Einer von denen, welche lehrten, daß das Heil nur durch den Glauben an den gekreuzigten Heiland zu finden sei, erklärte sterbend: jetzt hat die Wut der Feinde die Oberhand über uns, aber es wird nicht für immer sein; es wird sich einer aus dem gemeinen Volke erheben, ohne Schwert oder Autorität, gegen den sie nichts vermögen werden.“ (Comenius, S. 20. Siehe auch Wylie, 3. Buch, 3. Kap.) Luthers Zeit war noch weit entfernt; aber schon trat einer auf, dessen Zeugnis gegen Rom die Völker bewegen sollte.
Johannes Hus war von geringer Herkunft und wurde durch den Tod seines Vaters frühzeitig eine Waise. Seine fromme Mutter, welche eine Erziehung in der Furcht Gottes als das wertvollste Besitztum erachtete, suchte ihrem Sohn dieses Erbgut zu verschaffen. Hus besuchte erst die Kreisschule und begab sich dann auf die Universität zu Prag, wo ihm eine Freistelle erteilt worden war. Seine Mutter begleitete ihn auf der Reise; arm und verwitwet, hatte sie keine weltliche Habe ihrem Sohne mitzugeben; doch als sie sich der großen Stadt näherten, kniete sie mit dem vaterlosen Jüngling nieder und erflehte für ihn den Segen ihres himmlischen Vaters. Wie wenig ahnte wohl diese Mutter, auf welche Weise ihr Gebet erhört werden sollte!
Auf der Universität zeichnete Hus sich bald durch seinen unermüdlichen Fleiß und seine raschen Fortschritte aus, während sein tadelloser Wandel und sein freundliches, liebenswürdiges Betragen ihm allgemeine Achtung erwarben. Er war ein aufrichtiger Anhänger der römischen Kirche, und ihn verlangte ernstlich nach dem von ihr versprochenen Segen. Bei Anlaß einer Jubiläumsfeier ging er zur Beichte, bezahlte die letzten wenigen Geldstücke, welche er besaß, und schloß sich der Prozession an, auf daß er der verheißenen Absolution teilhaftig werde. Nachdem er seine Studien vollendet hatte, trat er in den Priesterstand, wo er rasch den Vorrang gewann und bald an den königlichen Hof gezogen wurde. Auch wurde er zum Professor und später zum Rektor der Universität ernannt, wo er ausgebildet worden war. In wenigen Jahren war der bescheidene Freischüler der Stolz seines Vaterlandes geworden, und sein Name wurde über ganz Europa hin berühmt.
Auf einem andern Gebiet jedoch begann Hus das Werk der Reformation. Einige Jahre nachdem er die Priesterweihe empfangen hatte, wurde er zum Prediger an der Bethlehemskapelle ernannt. Der Gründer dieser Kapelle hatte als eine Sache von großer Bedeutung das Predigen der Heiligen Schrift in der Landessprache vertreten. Trotzdem Rom diesem Gebrauch widerstand, war er doch in Böhmen nicht völlig eingestellt worden. Dennoch war die Bibel sehr wenig bekannt, und die schlimmsten Laster herrschten unter den Leuten aller Klassen. Gegen diese Übelstände trat Hus schonungslos auf, indem er sich auf das Wort Gottes berief, um die Grundsätze der Wahrheit und Reinheit einzuschärfen, welche er lehrte.
Ein Bürger von Prag, Hieronymus, der nachher so innig mit Hus verbunden wurde, hatte bei seiner Rückkehr von England Wiklifs Schriften mitgebracht. Die Königin von England, die sich zu Wiklifs Lehren bekehrt hatte, war eine böhmische Prinzessin, und durch ihren Einfluß wurden die Schriften des Reformators auch in ihrem Heimatland weit verbreitet. Diese Werke las Hus mit Begierde; er hielt den Verfasser für einen aufrichtigen Christen und war geneigt, die Reform, welche dieser vertrat, günstig anzusehen. Schon hatte Hus, ohne es zu wissen, einen Pfad betreten, der ihn weit von Rom wegführen sollte.
Ungefähr um diese Zeit kamen in Prag zwei Freunde aus England an, Gelehrte, die das Licht empfangen hatten und in diesem entlegenen Lande verbreiten wollten. Da sie mit einem offenen Angriff auf die Oberherrschaft des Papstes begannen, wurden sie von den Behörden bald zum Schweigen gebracht; weil sie aber nicht willens waren, ihre Absicht aufzugeben, nahmen sie Zuflucht zu anderen Maßregeln. Da sie sowohl Künstler als Prediger waren, versuchten sie es mit ihrer Geschicklichkeit. An einem dem Volke zugängigen Ort zeichneten sie zwei Bilder; eines stellte Jesum bei seinem Einzug in Jerusalem dar, „sanftmütig und reitend auf einem Esel,“ (Matth. 21, 5) gefolgt von seinen Jüngern, barfuß und mit von der Reise abgetragenen Kleidern. Das andere Bild zeigte eine päpstliche Prozession - den Papst, angetan mit seinen reichen Gewändern und der dreifachen Krone, auf einem prächtig geschmückten Pferde sitzend; vor ihm her gingen Trompeter und hinter ihm folgten die Kardinäle und Prälaten in blendender Pracht.
Hier war eine Predigt, welche die Aufmerksamkeit aller Klassen auf sich zog. Ganze Scharen kamen herbei, um die Zeichnungen anzustaunen. Niemand konnte verfehlen, die darin enthaltene Lehre herauszulesen, und auf viele machte der große Unterschied zwischen der Sanftmut und Demut Christi, des Meisters, und dem Stolz und der Anmaßung des Papstes, seines vorgeblichen Dieners, einen tiefen Eindruck. Es entstand eine große Aufregung in Prag, und nach einer Weile erachteten es die Fremdlinge für ihre eigene Sicherheit am besten, weiterzugehen. Die Lehre aber, welche sie gelehrt hatten, wurde nicht vergessen. Die Gemälde trafen Hus tief und veranlaßten ihn zu einem eingehenderen Erforschen der Bibel und der Schriften Wiklifs. Obwohl er auch jetzt noch nicht vorbereitet war, alle von Wiklif befürworteten Reformen anzunehmen, sah er doch deutlicher den wahren Charakter des Papsttums und verurteilte mit größerem Eifer den Stolz, die Anmaßung und die Verderbtheit der Priesterherrschaft.
Von Böhmen verbreitete sich das Licht nach Deutschland; denn die Unruhen an der Universität zu Prag bewirkten, daß Hunderte von deutschen Studenten sich dort verabschiedeten. Viele von ihnen hatten von Hus die erste Kenntnis der Bibel erhalten und breiteten bei ihrer Rückkehr das Evangelium in ihrem Vaterland aus.
Die Kunde von diesem Werk in Prag kam nach Rom, und bald wurde Hus aufgefordert, vor dem Papst zu erscheinen. Gehorchen hätte hier geheißen, sich dem sicheren Tode aussetzen, deshalb verfaßten der König und die Königin von Böhmen, die Universität, Glieder des Adels und etliche Regierungsbeamte eine Bittschrift an den Papst, es Hus gestatten zu wollen, in Prag zu bleiben und den Ruf nach Rom durch eine Gesandtschaft zu erwidern. (Palacky, Gesch. Böhmens, Bd. 3, Buch 6, S. 257 f.) Anstatt diese Bitte zu gewähren, nahm der Papst die Untersuchung selbst in die Hand, verurteilte Hus und tat alsdann die Stadt Prag in den Bann.
Zu jener Zeit rief dies Urteil, wo es auch ausgesprochen wurde, große Bestürzung hervor. Die begleitenden Zeremonien waren wohl geeignet, das Volk mit Schrecken zu erfüllen, welches den Papst als den Stellvertreter Gottes ansah, der die Schlüssel des Himmels und der Hölle und Macht besäße, zeitliche sowie geistliche Strafgerichte herab zu beschwören. Man glaubte, daß die Tore des Himmels für die in den Bann getanen Gegenden verschlossen seien, und daß die Toten von den Wohnungen der Glückseligkeit ausgeschlossen wären, bis es dem Papst gefalle, den Bann aufzuheben. Zum Zeichen dieses schrecklichen Übelstandes wurden alle Gottesdienste unterlassen, die Kirchen nicht geöffnet, die Hochzeiten auf den Kirchhöfen vollzogen und die Toten, da ihnen die Bestattung in geweihtem Boden versagt war, ohne die übliche Begräbnisfeier in Gräben oder Feldern zur Ruhe gelegt. Auf diese Weise suchte Rom durch Maßnahmen, welche auf die Einbildung einwirkten, die Gewissen der Menschen zu beherrschen.
Die Stadt Prag wurde mit Aufruhr erfüllt. Ein großer Teil klagte Hus als die Ursache alles Unglücks an und verlangte, daß er der Rache Roms übergeben werde. Um den Sturm zu beruhigen, zog der Reformator sich eine Zeitlang in sein heimatliches Dorf zurück. In seinem schriftlichen Verkehr mit den Freunden zu Prag sagte er: „Wisset also, daß ich, durch diese Ermahnung Christi und sein Beispiel geleitet, mich zurückgezogen habe, um nicht den Bösen Gelegenheit zur ewigen Verdammnis und den Guten zur Bedrückung und Betrübnis Ursache zu werden; und dann auch, damit nicht die gottlosen Priester die Predigt des göttlichen Worts ganz verhindern sollten. Ich bin also nicht deshalb gewichen, damit durch mich die göttliche Wahrheit verleugnet würde, für welche ich mit Gottes Beistand zu sterben hoffe.“ (Neander, Kirchengesch., 6. Per., 2. Abschn., 2. Teil, 47. Par., Gotha, 1856. Siehe auch Bonnechose, Reformateurs avant la reforme, 1. Buch. S. 94. 95; Paris 1845.)
Hus hörte nicht auf in seinem Wirken, sondern bereiste die umliegende Gegend und predigte der begierigen Menge. Auf diese Weise wurden die Maßregeln, zu denen der Papst seine Zuflucht nahm, um das Evangelium zu unterdrücken, zur Ursache einer weiteren Ausbreitung. „Denn wir können nichts wider die Wahrheit, sondern für die Wahrheit.“ (2. Kor. 13, 8.)
„Hus muß in dieser Zeit seiner Laufbahn einen schmerzlichen Kampf durchgemacht haben. Obgleich die Kirche ihn mit ihren Donnerkeilen zu überwältigen suchte, hatte er sich nicht von ihrer Autorität losgesagt. Die römische Kirche war für ihn immer noch die Braut Christi, und der Papst Gottes Stellvertreter und Statthalter. Hus kämpfte gegen den Mißbrauch der Autorität und nicht gegen den Grundsatz selbst. Dadurch entstand ein fürchterlicher Kampf zwischen den Überzeugungen seiner Vernunft und den Forderungen seines Gewissens. War die Autorität gerecht und unfehlbar, wie er doch glaubte, wie kam es, daß er sich gezwungen fühlte, ihr ungehorsam zu sein? Zu gehorchen war für ihn sündigen; aber warum sollte der Gehorsam gegen eine unfehlbare Kirche zu solchen Folgen führen? Dies war eine Frage, die er nicht beantworten konnte; es war der Zweifel, der ihn von Stunde zu Stunde quälte. Die größte Annäherung zu einer Lösung, die er zu machen vermochte, war, daß es wiederum war wie einst zuvor, in den Tagen des Heilands, daß die Priester der Kirche gottlos geworden waren und sich ihrer rechtmäßigen Autorität zu unrechtmäßigen Zwecken bedienten. Dies veranlaßte ihn, sich selbst den Grundsatz zur Richtschnur zu machen und ihn andern als den ihrigen einzuschärfen, daß die Lehren der Heiligen Schrift durch das Verständnis unser Gewissen beherrschen sollen; in anderen Worten, daß Gott, der in der Bibel spricht und nicht in der Kirche, die durch die Priester redet, der ein unfehlbarer Führer sei.“ (Wylie, Gesch. d. Protest., 3. Buch, 2. Kap.)
Als die Aufregung in Prag sich nach einiger Zeit legte, kehrte Hus zu seiner Bethlehemskapelle zurück, um mit größerem Eifer und Mut die Predigt des Wortes Gottes fortzusetzen. Seine Feinde waren tätig und mächtig, aber die Königin und viele der Adligen waren seine Freunde, und viele unter dem Volk hielten sich zu ihm. Indem sie seine reinen und erhebenden Lehren und sein heiliges Leben mit den erniedrigenden Glaubenssätzen, welche die Römlinge predigten, und mit dem Geiz und der Schwelgerei, welche sie trieben, verglichen, hielten viele es für eine Ehre, auf seiner Seite zu stehen.
Bis dahin hatte Hus in seiner Arbeit allein gestanden, nun aber verband sich Hieronymus, der, während er in England war, die Lehren Wiklifs angenommen hatte, mit ihm in dem Werke der Reformation. Die beiden waren von da an in ihrem Leben vereinigt, und sollten im Tode auch nicht getrennt werden.
Hieronymus besaß glänzende Anlagen, große Beredsamkeit und Bildung - Gaben, welche die öffentliche Gunst fesseln - in hervorragender Weise; aber in den Eigenschaften, welche die wahre Charakterstärke ausmachen, war Hus der größere. Sein ruhiges Urteil diente dem ungestümen Geiste des Hieronymus als Zügel, und da er in christlicher Demut seinen Wert erkannte, fügte er sich seinen Ratschlägen. Unter ihrer vereinten Arbeit breitete die Reformation sich schneller aus.
Gott erleuchtete den Verstand dieser auserwählten Männer und offenbarte ihnen viele der Irrtümer Roms; doch sie empfingen nicht alles Licht, das der Welt gegeben werden sollte. Durch diese seine Diener führte Gott seine Kinder aus der Finsternis des Romanismus. Weil es jedoch viele und große Hindernisse zu überwinden gab, führte er sie Schritt für Schritt, wie sie es ertragen konnten. Sie waren nicht vorbereitet, alles Licht auf einmal zu empfangen. Wie der volle Glanz der Mittagssonne diejenigen, welche lange in der Finsternis waren, blendet, so würden sie sich von diesem Licht, falls es voll und ganz auf sie gestrahlt hätte, abgewandt haben. Deshalb offenbarte Gott es den Führern nach und nach, wie das Volk es ertragen konnte. Von Jahrhundert zu Jahrhundert sollten andere treue Arbeiter folgen, um das Volk auf dem Pfad der Reformation immer weiter zu führen.
Die Spaltung in der Kirche dauerte noch immer fort. Drei Päpste stritten sich nun um die Oberherrschaft, und ihre Kämpfe füllten die Christenheit mit Verbrechen und Aufregung. Nicht zufrieden damit, ihre Bannstrahlen zu schleudern, griffen sie auch zu weltlichen Waffen. Jeder trachtete danach, Waffen zu kaufen und Söldner zu werben. Natürlich mußte Geld herbeigeschafft werden, und um dieses zu erlangen, wurden alle Gaben, Ämter und Segnungen der Kirche zum Verkauf angeboten. (Siehe Anhang.) Desgleichen nahmen die Priester, dem Beispiel ihrer Vorgesetzten folgend, ihre Zuflucht zur Simonie und zum Krieg, um ihre Nebenbuhler zu demütigen und ihre eigene Macht zu verstärken. Mit täglich wachsender Kühnheit donnerte Hus gegen die Greuel, welche im Namen der Religion geduldet wurden; und das Volk klagte öffentlich die römischen Oberhäupter als die Ursache des Elends an, welches die Christenheit überflutete.
Wiederum schien die Stadt Prag am Rande eines blutigen Kampfes zu stehen. Wie in früheren Zeiten wurde der Diener Gottes angeklagt als der, „der Israel verwirrt.“ (l. Kön. 18, 17.) Die Stadt wurde abermals in den Bann getan, und Hus zog sich auf sein heimatliches Dorf zurück. Die Zeit, da er in seiner geliebten Bethlehemskapelle so treulich Zeugnis abgelegt hatte, war zu Ende; er sollte von einer größeren Bühne herab zu der ganzen Christenheit reden, ehe er sein Leben als Zeuge für die Wahrheit niederlegte.
Um die Übelstände, welche Europa zerrütteten, zu heilen, wurde ein allgemeines Konzil nach Konstanz einberufen. Dieses Konzil wurde „durch die beharrlichen Bemühungen“ Sigismunds von einem der drei Gegenpäpste, Johann XXIII., berufen. Diese Aufforderung kam dem Papst Johann unwillkommen, denn sein Charakter und seine Absichten konnten eine Untersuchung schlecht ertragen, sogar von solchen Prälaten, die in ihren Sitten ebenso locker waren wie die Geistlichkeit jener Zeit im allgemeinen war. Er wagte es jedoch nicht, sich dem Willen Sigismunds zu widersetzen. (Siehe Anhang.)
Die Hauptzwecke, die dies Konzil ins Auge faßte, waren, die Spaltung in der Kirche zu heilen und die Ketzerei auszurotten. Es wurden deshalb die beiden Gegenpäpste sowie der Hauptverbreiter der neuen Ansichten, Johannes Hus, aufgefordert, vor ihm zu erscheinen. Die ersteren erschienen aus Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit nicht persönlich, sondern durch ihre Gesandten. Papst Johann, obgleich dem Anschein nach der Einberufer des Konzils, kam unter vielen Besorgnissen, denn er vermutete, der Kaiser habe die heimliche Absicht, ihn abzusetzen, und er fürchtete, zur Rechenschaft gezogen zu werden für die Laster, welche die päpstliche Krone entwürdigt, sowie für die Verbrechen, welche ihm die Krone verschafft hatten. Doch hielt er seinen Einzug in Konstanz mit großem Gepränge, umgeben von Geistlichen höchsten Ranges und gefolgt von einem Zuge Höflingen. Der ganze Klerus und die Würdenträger der Stadt mit einer ungeheuren Menge von Bürgern kamen heraus, um ihn zu bewillkommnen. Vier der höchsten Beamten trugen über seinem Haupt einen goldenen Traghimmel; vor ihm her trug man die Hostie, und die reichen Gewänder der Kardinäle und des Adels gaben eine eindrucksvolle Prachtentfaltung.
Unterdessen näherte sich ein anderer Reisender Konstanz. Hus war sich der Gefahren bewußt, welche ihm drohten. Er schied von seinen Freunden, als ob er nie wieder mit ihnen zusammenkommen würde und machte sich auf den Weg mit dem Gefühl, daß er ihn zum Scheiterhaufen führen werde. Trotzdem er vom König von Böhmen ein Sicherheitsgeleit empfangen hatte, und obgleich ihm auf seiner Reise ein zweites vom Kaiser Sigismund zuging, traf er doch alle seine Vorkehrungen im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit seines Todes.
In einem an seine Freunde in Prag gerichteten Brief sagte er: „Ich hoffe auf Gott, meinen allmächtigen Heiland, daß er seiner Verheißung wegen und wegen eures heißen Gebets mir Weisheit verleihen wird und eine geschickte Zunge, so daß ich ihnen zu widerstehen vermögen werde. Er wird mir auch verleihen ein Gemüt, zu verachten die Versuchungen, den Kerker, den Tod; wie wir sehen, daß Christus selbst gelitten hat um seiner Auserwählten willen, indem er uns ein Beispiel gab, für ihn und unser Heil alles zu erdulden. Gewiß kann nicht umkommen, wer an ihn glaubt und in seiner Wahrheit verharrt.“ „Wenn mein Tod seinen Ruhm verherrlichen kann, so möge er ihn beschleunigen und mir die Gnade geben, alles Übel, welches es auch sei, guten Muts ertragen zu können. Wenn es aber für mein Heil besser ist, daß ich zu Euch zurückkehre, so wollen wir Gott darum bitten, daß ich ohne Unrecht vom Konzil wieder zu Euch komme; das heißt ohne Beeinträchtigung seiner Wahrheit, so daß wir dieselbe nachher reiner erkennen können, die Lehre des Antichrist vertilgen und unseren Brüdern ein gutes Beispiel zurücklassen.“ „Vielleicht werdet ihr mich in Prag nicht wiedersehen; wenn aber Gott nach seiner Gnade mich Euch wiederschenken will, so werden wir mit desto freudigerem Gemüt in dem Gesetz des Herrn fortschreiten.“ (Neander, Kirchengesch., 6. Per., 2. Abschn., 2. Teil, 49. Par., Gotha, 1856.)
In einem anderen Brief an einen Priester, der ein Jünger des Evangeliums geworden war, sprach Hus mit einer tiefen Demut von seinen Fehlern und klagte sich an, mit Genugtuung reiche Gewänder getragen und Stunden mit wertlosen Beschäftigungen vergeudet zu haben. Er fügte folgende rührende Ermahnung hinzu: „Möge die Herrlichkeit Gottes und das Heil von Seelen dein Gemüt in Anspruch nehmen und nicht der Besitz von Pfründen und Vermögen. Hüte dich, dein Haus mehr zu schmücken als deine Seele; und verwende deine größte Sorgfalt auf das geistliche Gebäude. Sei liebevoll und demütig den Armen gegenüber und verschwende deine Habe nicht durch Festgelage. Solltest du dein Leben nicht bessern und dich des Überflüssigen enthalten, so fürchte ich, wirst du hart gezüchtigt werden, wie ich selbst es bin ... Du kennst meine Lehre, denn du hast meine Unterweisungen von deiner Kindheit auf empfangen, deshalb ist es unnütz für mich, dir weiter zu schreiben. Aber ich beschwöre dich bei der Gnade unseres Herrn, mir nicht in irgendeiner der Eitelkeiten nachzuahmen, in welche du mich fallen sahest.'“ Auf dem Umschlage des Briefes fügte er bei: „Ich beschwöre dich, mein Freund, diese Siegel nicht zu erbrechen, bis du die Gewißheit erlangt hast, daß ich tot bin.“ (Bonnechose, 1. Buch, S. 163, 164.)
Auf seiner Reise sah Hus überall Anzeichen der Verbreitung seiner Lehren und der Zuneigung, die für seine Sache empfunden wurde. Das Volk scharte sich zusammen, um ihn zu begrüßen, und in einigen Städten begleitete ihn der Magistrat durch die Straßen.
Bei seiner Ankunft in Konstanz wurde Hus zuerst seine völlige Freiheit gelassen. Zum Sicherheitsgeleit des Kaisers fügte man noch eine Versicherung des päpstlichen Schutzes hinzu. Trotz diesen feierlichen und wiederholten Erklärungen wurde der Reformator bald auf Betreiben des Papstes und der Kardinäle verhaftet und in einem abscheulichen Verlies festgehalten. Später wurde er nach einer starken Burg (Burg Gottleben) jenseits des Rheins überführt und dort gefangengehalten. Dem Papst nützte aber seine Treulosigkeit keineswegs, denn er war bald darauf selbst ein Insasse desselben Gefängnisses. (Bonnechose, 1. Buch, S. 269.) Er wurde von dem Konzil der gemeinsten Verbrechen überführt - Mord, Simonie, Unkeuschheit und „anderer Sünden, die nicht passend sind, genannt zu werden“, wie das Konzil selbst erklärte. Die Tiara wurde ihm genommen und er ins Gefängnis geworfen. (Hefele, Konziliengesch., VII, 139-141.) Die Gegenpäpste wurden ebenfalls abgesetzt, und ein neuer Papst wurde gewählt.
Obwohl der Papst selbst größerer Verbrechen überführt worden war, als je Hus den Priestern zur Last gelegt und deren Abstellung er verlangt hatte, schritt doch dasselbe Konzil, welches den Papst absetzte, zur Vernichtung des Reformators. Hus' Gefangennahme erregte große Entrüstung in Böhmen. Mächtige Adlige protestierten gegen diese Schmach. (Höfler, Huss. Bewegung, S. 179 f.) Der Kaiser, welcher die Verletzung eines Sicherheitsgeleites ungern zugab, widersetzte sich dem Vorgehen gegen ihn. (Palacky, Geschichte Böhmens Bd. 3, Buch 6, S. 327 f.) Aber die Feinde des Reformators waren gehässig und entschlossen. Sie nutzten des Kaisers Vorurteile, seine Furchtsamkeit und seinen Eifer für die Kirche aus. Sie brachten weitläufige Beweise vor, um darzutun, daß „Ketzern und Leuten, die unter dem Verdachte der Ketzerei stünden, nicht Wort gehalten werden sollte, selbst wenn sie auch mit Sicherheitsgeleit vom Kaiser und von Königen versehen seien.“ (Lenfant, Historie du concile de Constance, 1. Bd., S. 516.) Auf diese Weise setzten sie ihren Willen durch.
Krankheit und Gefangenschaft schwächten Hus, die feuchte, verdorbene Luft seines Kerkers verursachte Fieber, welches sein Leben ernstlich bedrohte. Endlich wurde Hus vor das Konzil geführt. Mit Ketten beladen stand er vor dem Kaiser, der seine Ehre und sein Wort verpfändet hatte, ihn zu beschützen. (Siehe Anhang.) Während seines langen Verhörs vertrat er standhaft die Wahrheit und schilderte vor den versammelten Würdenträgern der Kirche und des Reiches feierlich und redlich die Verderbtheit der Priesterherrschaft. Als ihm die Wahl gelassen wurde zwischen dem Widerruf seiner Lehren oder dem Tod, zog er das Schicksal des Märtyrers vor.
Gottes Gnade unterstützte ihn. Während der Leidenswochen, die seiner schließlichen. Verurteilung vorausgingen, erfüllte der Friede des Himmels seine Seele. In einem Abschiedsbrief an die Böhmen unterzeichnet er sich: „Ich schrieb diesen Brief im Kerker und in Ketten, mein Todesurteil morgen erwartend ... Was der gnädige Gott an mir bewirkt, und wie er mir beisteht in wunderlichen Versuchungen, werdet ihr erst dann einsehen, wenn wir uns bei unserem Herrn Gott durch dessen Gnade in Freuden wiederfinden.“ (Neander, Kirchengesch., 6. Per., 2. Abschn., 2. Teil, 73. Par., Gotha, 1856.)
In der Dunkelheit seines Kerkers sah er den Sieg des wahren Glaubens voraus. In seinen Träumen wurde er zurückversetzt nach der Bethlehemskapelle zu Prag, wo er das Evangelium gepredigt hatte, und sah, wie der Papst und seine Bischöfe die Bilder Jesu Christi, die er an ihren Wänden hatte malen lassen, auslöschten. Dies Traumbild betrübte ihn, aber „am andern Tage stand er auf und sah viele Maler, welche noch mehr Bilder und schönere entworfen hatten, welche er mit Freuden anblickte. Und die Maler sprachen mit dem Volk: Mögen die Bischöfe und Priester kommen und diese Bilder zerstören!“ Der Reformator setzte hinzu: „So hoffe ich doch, daß das Leben Christi, das in Bethlehem durch mein Wort in den Gemütern der Menschen abgebildet worden, ... durch eine größere Anzahl von besseren Predigern, als ich bin, besser wird abgebildet werden, zur Freude des Volks, welches das Leben Christi liebt.“ (Ebd.)
Zum letzten mal wurde Hus vor das Konzil gestellt. Es war eine große und glänzende Versammlung, der Kaiser, die Reichsfürsten, die königlichen Abgeordneten, die Kardinäle, Bischöfe und Priester und eine große Menge, welche als Zuschauer der Tagesereignisse beiwohnten. Aus allen Teilen der Christenheit waren Zeugen dieses ersten großen Opfers in dem langen Kampf, durch welchen die Gewissensfreiheit gesichert werden sollte, versammelt.
Als er zu seiner endgültigen Aussage aufgefordert wurde, erklärte Hus seine Weigerung abzuschwören, und indem er seinen durchdringenden Blick auf den Fürsten richtete, dessen verpfändetes Wort so schamlos verletzt worden war, erklärte er: „Ich bin aus meinem eigenen freien Willen vor dem Konzil erschienen, unter dem öffentlichen Schutze und dem Ehrenworte des hier gegenwärtigen Kaisers.“ (Bonnechose, 2. Bd., S. 84. Siehe auch Palacky, B d. 3, Buch 6, S - 364.) Eine tiefe Röte überzog das Angesicht Sigismunds, als die Augen aller in der Versammlung sich auf ihn richteten.
Das Todesurteil wurde nun ausgesprochen, und die Zeremonie der Amtsentsetzung begann. Die Bischöfe kleideten ihren Gefangenen in das priesterliche Gewand. Als er es anlegte, sagte er: „Unser Herr Jesus Christus wurde zum Zeichen der Schmähung mit einem weißen Mantel bedeckt, als Herodes ihn vor Pilatus bringen ließ.“ (Bonnechose, 3. Buch, S. 95. 96.) Abermals zum Widerruf ermahnt, sprach er zum Volk: „Mit welchem Auge könnte ich den Himmel anblicken, mit welcher Stirne könnte ich auf diese Menschenmenge sehen, der ich das reine Evangelium gepredigt habe? Nein, ich erachte ihre Seligkeit höher als diesen armseligen Leib, der nun zum Tode bestimmt ist.“ Dann wurden ihm die Stücke des Priesterornats eins nach dem andern abgenommen, wobei jeder Bischof bei der Vollführung der Zeremonie einen Fluch über ihn aussprach. Schließlich „wurde ihm eine hohe Papiermütze aufgesetzt, mit Teufeln bemalt, welche vorn die auffällige Inschrift trug: 'Haeresiarcha' (oder Erzketzer). 'Mit größter Freude', sagte Hus, 'will ich diese Krone der Schmach um deinetwillen tragen, o Jesus, der du für mich die Dornenkrone getragen hast.`
Als er so angetan war, sprachen die Prälaten: „Nun übergeben wir deine Seele dem Teufel.“ „Aber ich“, sprach Hus, indem er seine Augen zum Himmel erhob, „empfehle in deine Hände, o Herr Jesus, meine durch dich erlöste Seele.“
Nun wurde er der weltlichen Obrigkeit übergeben und nach dem Richtplatz geführt. Ein ungeheurer Zug folgte nach, Hunderte von Bewaffneten, Priestern und Bischöfen in ihren kostbaren Gewändern und die Einwohner von Konstanz. Als er an den Pfahl festgebunden war, und alles bereit war, das Feuer anzuzünden, wurde er nochmals ermahnt zu widerrufen, sich zu retten, indem er seinen Irrtümern entsage. „Welche Irrtümer,“ sagte Hus, „sollte ich widerrufen, da ich mich keines Irrtums bewußt bin? Ich rufe Gott zum Zeugen an, daß alles, was ich geschrieben oder gepredigt habe, die Rettung der Seelen von Sünde und Verderben bezweckte; deshalb stehe ich bereit, die Wahrheit, welche ich geschrieben und gepredigt habe, freudigst mit meinem Blute zu besiegeln.“ (Wylie, Buch 3, Kap. 7.) Als das Feuer angezündet worden war, begann Hus laut zu singen: „Jesus, Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!“ (Neander, Kirchengesch., 6. Per., 2. Abschn., 2. Teil, 69. Par., Gotha, 1856. Siehe auch Hefele, Kirchengesch., VII, 209f.) So fuhr er fort, bis seine Stimme auf immer verstummte.
Selbst seine Feinde bewunderten seine heldenmütige Haltung. Ein päpstlicher Schriftsteller, der den Märtyrertod von Hus und Hieronymus, der bald darauf starb, beschreibt, sagt: „Beide ertrugen den gewaltsamen Tod mit standhaftem Gemüte und bereiteten sich auf das Feuer vor, als ob sie zu einem Hochzeitsfeste geladen waren. Sie gaben keinen Schmerzenslaut von sich. Als die Flammen empor schlugen, fingen sie an Loblieder zu singen, und kaum vermochte die Heftigkeit des Feuers ihrem Gesang Einhalt zu tun.“ (Aeneas, Hist. Boh., S. 34.)
Als der Körper des Hus völlig verzehrt war, wurde seine Asche samt der Erde, worauf sie ruhte, gesammelt und in den Rhein geworfen und auf diese Weise dem Weltmeer zugeführt. Seine Verfolger bildeten sich eitler weise ein, sie hätten die von ihm verkündeten Wahrheiten ausgerottet. Schwerlich träumten sie, daß die Asche, welche an jenem Tage dem Meer zugeführt wurde, dem Samen gleichen sollte, der über alle Lande der Erde ausgestreut wird, daß er in noch unbekannten Ländern eine reichliche Ernte an Zeugen für die Wahrheit hervorbringen werde. Durch die Stimme, welche im Konziliumssaal zu Konstanz gesprochen hatte, war ein Widerhall erweckt worden, der durch alle künftigen Zeitalter fortgepflanzt werden sollte. Hus war nicht mehr; aber die Wahrheit, für welche er gestorben war, konnte nie untergehen. Sein Beispiel des Glaubens und der Standhaftigkeit mußte viele ermutigen, trotz Qual und Tod entschieden für die Wahrheit einzustehen. Seine Hinrichtung hatte der ganzen Welt die hinterlistige Grausamkeit Roms offenbart. Die Feinde der Wahrheit hatten unbewußt die Sache gefördert, welche sie vergeblich zu vernichten gedachten.
Noch ein zweiter Märtyrerpfahl sollte in Konstanz aufgerichtet werden. Das Blut eines anderen Märtyrers sollte für die Wahrheit zeugen. Als Hieronymus Hus bei seiner Abreise nach dem Konzil Lebewohl sagte, hatte er diesen zu Mut und Standhaftigkeit ermahnt und erklärt, daß er zu seinem Beistand herbeieilen werde, falls er in irgendeine Gefahr gerate. Als er von der Einkerkerung des Reformators vernahm, bereitete sich der treue Jünger sofort vor, sein Versprechen zu erfüllen. Ohne ein Sicherheitsgeleit machte er sich mit einem einzigen Gefährten auf den Weg nach Konstanz. Bei seiner Ankunft daselbst wurde er überzeugt, daß er sich nur in Gefahr begeben hatte, ohne etwas für Hus' Befreiung tun zu können. Er floh aus der Stadt, wurde aber auf dem Heimweg verhaftet, mit Ketten beladen und unter Verwahrung von Soldaten zurückgebracht. Bei seinem ersten Erscheinen vor dem Konzil wurden seine Versuche, auf die gegen ihn vorgebrachten Anklagen zu antworten, mit dem Rufe erwidert: „In die Flammen mit ihm, in die Flammen!“ (Bonnechose, Buch 2, S. 256.) Er wurde in ein Verlies geworfen, in einer Stellung angekettet, die ihm große Schmerzen verursachte, und mit Wasser und Brot genährt. Nach einigen Monaten wurde Hieronymus durch die Grausamkeiten seiner Gefangenschaft lebensgefährlich krank, und seine Feinde, da sie befürchteten, er könne ihnen entrinnen, behandelten ihn mit weniger Härte, obwohl er im ganzen ein Jahr lang im Gefängnis verblieb.
Der Tod des Hus hatte nicht die Wirkung gehabt, welche Rom erhofft hatte. Die Mißachtung des Geleitbriefes hatte einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen, und um einen sicheren Weg einzuschlagen, beschloß das Konzil, anstatt Hieronymus zu verbrennen, ihn womöglich zum Widerruf zu zwingen. (Bonnechose, Buch 3, S. 156. Siehe auch Palacky, Bd. 3, Buch 6, S. 370 f., 382.) Er wurde vor die Versammlung gestellt, und man legte ihm die Wahl vor, zu widerrufen oder auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Am Anfang seiner Einkerkerung wäre der Tod für ihn eine Wohltat gewesen im Vergleich mit den schrecklichen Leiden, die er ausgestanden hatte; aber jetzt, geschwächt durch Krankheit, durch die strenge Haft und die Qualen der Angst und der Ungewißheit, getrennt von seinen Freunden und entmutigt durch den Tod des Hus versagte die Geistesstärke des Hieronymus, und er willigte ein, sich dem Konzil zu unterwerfen. Er verpflichtete sich, dem katholischen Glauben anzuhangen und stimmte dem Konzil in der Verdammung der Lehren Wiklifs und Hus' bei mit Ausnahme „der heiligen Wahrheiten“, welche sie gelehrt hatten. (Th. Vrie, Hist. Conc. Const., 1, 173175.)
Durch diesen Ausweg versuchte Hieronymus, die Stimme des Gewissens zu beruhigen und seinem Schicksal zu entrinnen. Doch in der Einsamkeit seines Gefängnisses sah er klarer, was er getan hatte. Er gedachte des Mutes und der Treue seines Freundes und erwog im Gegensatz dazu seine eigene Verleugnung der Wahrheit. Er dachte an seinen göttlichen Meister, dem zu dienen er sich verpflichtet, und der um seinetwillen den Kreuzestod erlitten hatte. Vor seinem Widerruf hatte er inmitten aller seiner Leiden in der Gewißheit der Gnade Gottes Trost gefunden; jetzt aber quälten Reue und Zweifel seine Seele. Er wußte, daß noch andere Widerrufe gemacht werden mußten, ehe er mit Rom versöhnt werden konnte. Der Pfad, den er jetzt betrat, konnte nur zu einem völligen Abfall führen. Sein Entschluß war gefaßt: er wollte seinen Herrn nicht verleugnen um einer kurzen Zeit des Leidens zu entrinnen.
Er wurde wieder vor das Konzil gestellt. Seine Unterwerfung hatte seine Richter nicht befriedigt. Ihr durch den Tod des Hus gereizter Blutdurst verlangte nach neuen Opfern. Nur durch eine unbedingte Lossagung von der Wahrheit konnte Hieronymus sein Leben erhalten. Aber er hatte sich entschlossen, seinen Glauben zu bekennen und seinem Leidensbruder in die Flammen zu folgen.
Er nahm seinen früheren Widerruf zurück und verlangte feierlich, als ein dem Tode Verfallener, eine Gelegenheit, seine Verteidigung vorzubringen. Die Folgen seiner Worte befürchtend, bestanden die Kirchenfürsten darauf, daß er einfach die Wahrheit der gegen ihn vorliegenden Anklagen zugestehen oder sie ableugnen solle. Hieronymus erhob Einwände gegen solche Grausamkeit und Ungerechtigkeit: „Ganze 340 Tage habt ihr mich in dem schwersten, schrecklichsten Gefängnis, da nichts als Unflat, Gestank, Kot und Fußfesseln neben höchstem Mangel aller notwendigsten Dinge gehalten. Meinen Feinden gewährt ihr gnädige Audienz, mich aber wollt ihr nicht eine Stunde hören. ... So ihr allhier Lichter der Welt und verständige Männer genannt werdet, so sehet zu, daß ihr nichts unbedachtsam wider die Gerechtigkeit tut. Ich bin zwar nur ein armer Mensch, welches Haut es gilt. Ich sage auch, dies nicht, der ich sterblich bin, meinetwegen. Das verdrießt mich, daß ihr als weise, verständige Männer wider alle Billigkeit ein Urteil fällt.“ (Theobald, Hussitenkrieg, S. 158.)
Sein Gesuch wurde ihm schließlich gewährt. In Gegenwart seiner Richter kniete Hieronymus nieder und betete, der göttliche Geist möchte seine Gedanken und Worte regieren, auf daß er nichts spreche, was gegen die Wahrheit oder seines Meisters unwürdig sei. An ihm wurde an jenem Tage die Verheißung Gottes an die ersten Jünger erfüllt: „Und man wird euch vor Fürsten und Könige führen um meinetwillen... Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorgt nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn ihr seid es nicht, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet.“ (Matth. 10, 18-20.)
Hieronymus' Worte erregten selbst bei seinen Feinden Erstaunen und Bewundern. Ein ganzes Jahr hatte er hinter Kerkermauern gesessen, nicht imstande zu lesen oder etwas zu sehen, in großen körperlichen Leiden und Angst der Seele. Doch wurden seine Beweise mit so großer Deutlichkeit und Macht vorgetragen, als ob er ungestört Gelegenheit zum Studium gehabt hätte. Er verwies seine Zuhörer auf die lange Reihe vortrefflicher Männer, die von ungerechten Richtern verurteilt worden waren. In fast jedem Geschlecht habe es Männer gegeben, die, während sie das Volk ihrer Zeit zu heben suchten, mit Vorwürfen überhäuft und ausgestoßen wurden, und es habe sich erst in späterer Zeit herausgestellt, daß sie der Ehre würdig waren. Christus selbst sei von einem ungerechten Gericht als Übeltäter verdammt worden.
Hieronymus hatte bei seinem Widerruf der Gerechtigkeit des Richterspruches beigestimmt, der Hus verdammt hatte; nun erklärte er seine Reue und legte Zeugnis ab für die Unschuld und Heiligkeit des Märtyrers. „Ich kannte ihn von seiner Kindheit an,“ sagte er, „er war ein höchst ausgezeichneter Mann, gerecht und heilig; er wurde trotz seiner Unschuld verurteilt. ... Ich bin ebenfalls bereit zu sterben. Ich schrecke nicht zurück vor den Qualen, die mir bereitet werden von meinen Feinden und falschen Zeugen, welche eines Tages vor dem großen Gott, welchen nichts täuschen kann, für ihre Verleumdungen Rechenschaft ablegen müssen.“ (Bonnechose, Bd. 2, S. 151.)
Indem Hieronymus sich selbst wegen seiner Verleugnung der Wahrheit anklagte, fuhr er fort: „Über dem nagt und plagt mich keine Sünde, die ich von Jugend an getan habe, so hart, als die an diesem pestilenzischen Ort begangene, da ich dem unbilligen Urteil über Wiklif und den heiligen Märtyrer, meinen getreuen Lehrer, beistimmte und aus Zagheit und Todesfurcht sie verfluchte. Deshalb ich an derselben Stelle dagegen durch Hilfe, Trost und Beistand Gottes und des heiligen Geistes frei öffentlich mit Herz und Mund und Stimme bekenne, daß ich meinen Feinden zu Gefallen sehr viel Übels getan habe. Ich bitte Gott, mir solches aus Gnaden zu verzeihen und alle meiner Missetaten, worunter diese die größte ist, nicht zu gedenken.“ (Theobald, Hussitenkrieg, S. 162; Th. Vrie, Hist. Conc. Const., S. 183.) Dann wandte er sich an seine Richter mit den kühnen Worten: „Ihr habt Wiklif und Hus verdammt, nicht etwa, weil sie an den Lehren der Kirche gerüttelt hätten, sondern weil sie die Schandtaten der Geistlichkeit, ihren Aufwand, Hochmut und Laster mißbilligten. Ihre Behauptungen sind unwiderlegbar, auch ich halte daran fest, gleichwie sie.“
Die Prälaten, welche vor Wut bebten, unterbrachen ihn mit den Worten: „Was bedarf es weiteren Beweises, wir sehen mit unseren eigenen Augen den halsstarrigsten Ketzer.“
Unbewegt vom Sturm rief Hieronymus aus: „Was! Meint ihr, ich fürchte mich zu sterben? Ihr habt mich ein ganzes Jahr in einem fürchterlichen Verlies gehalten, schrecklicher als der Tod selbst. Ihr habt mich grausamer behandelt denn einen Türken, Juden oder Heiden; mein Fleisch ist mir buchstäblich auf meinen Knochen bei lebendigem Leibe verfault; und dennoch erhebe ich keine Klage, denn Klagen ziemen sich nicht für einen Mann von Herz und Mut; ich kann aber nicht umhin, meinem Staunen ob solch großer Roheit gegen einen Christen Ausdruck zu geben.“ (Bonnechose, Buch 3, S. 168. 169.)
Abermals brach ein wütender Sturm los, und Hieronymus mußte wieder ins Gefängnis „und sich härter als zuvor an einen gewöhnlichen Pfahl anbinden lassen.“ Doch waren unter den Zuhörern immer etliche, auf die seine Worte tiefen Eindruck machten und die sein Leben zu retten wünschten. „In dem Gefängnis kamen zu ihm viele Kardinäle und Bischöfe, ließen ihn herausziehen, ermahnten ihn vielfältig, er sollte seines Lebens verschonen, der Lehre abschwören und den Tod des Hus billigen.“ Ein Kardinal sagte ihm: „Du könntest zu Ehren kommen in der Kirche, so du dich bekehrst.“ Aber gleich seinem Meister, da ihm die Herrlichkeit der Welt angeboten wurde, blieb Hieronymus standhaft und antwortete: „Kann ich aus der Heiligen Schrift überführt werden, will ich von Herzen um Vergebung bitten; wo nicht, will ich nicht weichen, auch nicht einen Schritt.“ Darauf sagte der Kardinal: „Muß alles durch die Schrift beurteilt werden? Wer kann sie verstehen? Muß man nicht die Kirchenväter zu ihrer Auslegung gebrauchen?“
Darauf erwiderte Hieronymus: „Was höre ich da? Soll das Wort falsch sein oder urteilen? Soll es nicht allein gehört werden? Sollen die Menschen mehr gelten als das heilige Wort Gottes? Warum hat Paulus seine Bischöfe nicht vermahnt, die Ältesten zu hören, sondern gesagt, die Heilige Schrift kann dich unterweisen? Nein, das nimm ich nicht an, es koste mein Leben, Gott kann es wiedergeben.“ Da sah ihn der Kardinal gräßlich an und sagte: „Du Ketzer, es reut mich, daß ich soviel deinetwegen getan habe. Ich sehe wohl, daß der Teufel dich regiert, damit du ihm nicht entwichest.“ (Theobald, Hussitenkrieg, S. 163-166.)
Bald darauf wurde das Todesurteil über ihn gefällt, und er wurde nach demselben Ort geführt, wo Hus seinen Geist aufgegeben hatte. Er ging singend seinen Weg, und sein Angesicht strahlte vor Freude und Friede. Sein Blick war auf Christum gerichtet, und der Tod hatte für ihn seine Schrecken verloren. Als der Henker im Begriffe war, hinter seinem Rücken den Holzstoß anzuzünden, rief der Märtyrer aus: „Kommt dreist nach vorn und zündet es vor meinen Augen an. Wenn ich mich gefürchtet hätte, wäre ich nicht hier.“
Die letzten Worte, die er aussprach, als die Flammen um ihn empor schlugen, waren ein Gebet: „Herr, allmächtiger Vater, erbarme dich mein und vergib mir meine Sünden; denn du weißt, daß ich deine Wahrheit allezeit geliebt habe.“ (Bonnechose, Buch 3, 185. 186.) Seine Stimme verstummte; aber seine Lippen fuhren fort, sich im Gebete zu bewegen. Als das Feuer sein Werk getan hatte, wurde die Asche des Märtyrers samt der Erde, auf welcher sie lag, aufgenommen und gleich der von Hus in den Rhein geworfen. (Theobald, Hussitenkrieg, S. 169.)
So kamen Gottes treue Lichtträger um. Aber das Licht der Wahrheiten, die sie verkündigten - das Licht ihres heldenmütigen Beispiels - konnte nicht ausgelöscht werden. Die Menschen könnten eben sowohl versuchen, die Sonne in ihrem Lauf zurückzustellen, wie die Dämmerung jenes Tages zu verhindern, der gerade damals über die Welt hereinzubrechen begann.
Die Hinrichtung des Hus hatte in Böhmen ein Gefühl der Entrüstung und des Schreckens erweckt. Es wurde von der ganzen Nation empfunden, daß er der Ruchlosigkeit der Priester und der Treulosigkeit des Kaisers zum Opfer gefallen war. Man sagte, er sei ein treuer Lehrer der Wahrheit gewesen und erklärte das Konzil, das ihn zum Tode verurteilt hatte, des Mordes schuldig. Seine Lehren erregten nun größere Aufmerksamkeit als je zuvor. Wiklifs Schriften waren durch päpstliche Erlasse den Flammen übergeben worden; alle, die jedoch der Vernichtung entgangen waren, wurden nun aus ihren Verstecken hervorgeholt und in Verbindung mit der Bibel oder solcher Teile derselben, die das Volk sich zu verschaffen vermochte, studiert. Viele Seelen wurden auf diese Weise veranlaßt, den reformierten Glauben anzunehmen.
Die Mörder des Hus sahen dem Sieg seiner Sache keineswegs ruhig zu. Der Papst und der Kaiser vereinigten sich, um der Bewegung ein Ende zu machen, und Sigismunds Heere stürzten sich auf Böhmen.
Aber es wurde ein Befreier erweckt. Ziska, der bald nach der Eröffnung des Krieges gänzlich erblindete, jedoch einer der tüchtigsten Feldherrn seines Zeitalters war, führte die Böhmen an. Auf die Hilfe Gottes und die Gerechtigkeit seiner Sache vertrauend, widerstand dies Volk den mächtigsten Heeren, die ihm gegenübergestellt werden konnten. Wiederholt hob der Kaiser neue Armeen aus und drang in Böhmen ein, wurde jedoch schimpflich zurückgeschlagen. Die Hussiten waren über die Todesfurcht erhaben, und nichts konnte ihnen standhalten. Wenige Jahre nach der Eröffnung des Krieges starb der tapfere Ziska; jedoch seine Stelle wurde durch Prokopius, der ein ebenso mutiger und geschickter Feldherr, ja in mancher Beziehung ein fähigerer Anführer war, ausgefüllt.
Als der blinde Krieger tot war, erachteten die Feinde der Böhmen die Gelegenheit für günstig, alles, was sie verloren hatten, wiederzugewinnen. Der Papst kündigte nun einen Kreuzzug gegen die Hussiten an, und wiederum warf sich eine ungeheure Streitmacht auf Böhmen, aber eine schreckliche Niederlage war die Folge. Ein neuer Kreuzzug wurde erklärt. In allen katholischen Ländern Europas wurden Männer, Geld und Kriegsgeräte zusammengebracht. Große Scharen sammelten sich unter der päpstlichen Fahne, im Vertrauen darauf, daß den hussitischen Ketzern schließlich ein Ende gemacht werde. Siegesgewiß drang die ungeheure Menge in Böhmen ein. Das Volk sammelte sich, um sie zurückzuschlagen. Die beiden Heere näherten sich gegenseitig, bis nur noch ein Fluß zwischen ihnen lag. „Die Kreuzfahrer waren an der Zahl weit überlegen; doch anstatt kühn über den Fluß zu setzen und die Hussiten anzugreifen, wozu sie doch von so weit hergekommen waren, standen sie schweigend und blickten auf die Krieger.“ (Wylie, 3. Buch, 17. Kap.) Dann fiel plötzlich ein geheimnisvoller Schrecken auf die Scharen. Ohne einen Streich zu tun, löste sich jenes gewaltige Heer auf und zerstreute sich wie von einer unsichtbaren Macht verjagt. (Mies in Onckens Weltgeschichte, 11, 6. S. 405; Mies-Czerwenka, Gesch. d. ev. Kirche Böhmens, Kap. 1, S. 177, Bielefeld, 1869.) Sehr viele wurden von dem Hussiten Heer, weiches die Flüchtlinge verfolgte, erschlagen und eine ungeheure Beute fiel in die Hände der Sieger, so daß der Krieg, anstatt die Böhmen arm zu machen, sie bereicherte.
Wenige Jahre später wurde unter einem neuen Papst wiederum ein Kreuzzug unternommen, und zwar wurden wie zuvor aus allen päpstlichen Ländern Europas Männer und Mittel herbeigeschafft. Große Vorteile wurden denen, die sich an diesem gefährlichen Unternehmen beteiligen würden, in Aussicht gestellt. Eine völlige Vergebung der abscheulichsten Sünden wurde jedem Kreuzfahrer zugesichert. Allen, welche im Kriege umkamen, wurde eine reichliche Belohnung im Himmel verheißen, und die Überlebenden sollten auf dem Schlachtfeld Ehre und Reichtum ernten. Wiederum wurde ein zahlreiches Heer gesammelt, welches die Grenze überschreitend in Böhmen eindrang. Die hussitischen Streitkräfte zogen sich bei seinem Herannahen zurück, lockten die Eindringlinge weiter und weiter in das Land hinein und verleiteten sie dadurch, den Sieg für bereits gewonnen zu erachten. Schließlich machte das Heer des Prokopius Halt, wandte sich gegen den Feind und schritt zum Angriff über. Die Kreuzfahrer entdeckten nun ihren Irrtum, blieben in ihrem Lager und erwarteten den Zusammenstoß. Als das Getöse der herannahenden Streitkräfte vernommen ward, wurden die Kreuzfahrer, ehe noch die Hussiten in Sicht waren, von Schrecken ergriffen; Fürsten, Feldherren und gemeine Soldaten warfen ihre Rüstung weg und flohen in alle Richtungen. Umsonst bestrebte sich der päpstliche Gesandte, der Anführer des Einfalls, seine erschreckten und aufgelösten Truppen wieder zu sammeln. Trotz den äußersten Bemühungen wurde er selbst von dem Strom der Fliehenden mitgerissen. Die Niederlage war vollständig, und wiederum fiel eine ungeheure Beute in die Hände der Sieger. (Tauß in Onckens Weltgeschichte, 11, 6. S. 408; Tauß-Czerwenka, ebd., Kap. 1, S. 211 f .)
So floh zum zweiten Male ein gewaltiges Heer, das von den mächtigsten Nationen Europas ausgesandt worden war, eine Schar tapferer, kriegstüchtiger, zur Schlacht geschulter und gerüsteter Männer ohne einen Schwertstreich, vor den Verteidigern eines unbedeutenden und bisher schwachen Volkes. Hier offenbarte sich göttliche Macht. Die Kreuzfahrer wurden von einem übernatürlichen Schrecken erfaßt. Er, der die Scharen Pharaos im Roten Meer vernichtete, der die Midianiter vor Gideon und seinen dreihundert Mann in die Flucht schlug, der in einer Nacht die Mächte der stolzen Assyrer zerstörte, hatte abermals seine Hand ausgestreckt, die Macht der Gegner zu verderben. „Da fürchteten sie sich aber, wo nichts zu fürchten ist; denn Gott zerstreut die Gebeine derer, die dich belagern. Du machst sie zu Schanden, denn Gott verschmäht sie.“ (Ps. 53, 6.)
Schließlich, da die päpstlichen Anführer daran verzweifelten, ihre Feinde mit Gewalt zu besiegen, nahmen sie ihre Zuflucht zur Diplomatie, und es kam ein Ausgleich zustande, der, während er scheinbar den Böhmen Freiheit des Gewissens gewährte, sie eigentlich in die Gewalt Roms verriet. Die Böhmen hatten vier Punkte als Bedingung des Friedens mit Rom bezeichnet: das freie Predigen der Bibel; die Berechtigung der ganzen Gemeinde zum Brot und Wein beim Abendmahl und den Gebrauch der Muttersprache beim Gottesdienst; den Ausschluß der Geistlichkeit von allen weltlichen Ämtern und weltlicher Gewalt; und in Fällen von Verbrechen die gleiche Gerichtsbarkeit bürgerlicher Gerichtshöfe über Geistlichkeit und Laien. Die päpstlichen Machthaber kamen „schließlich dahin überein, die vier Artikel der Hussiten anzunehmen; aber das Recht ihrer Auslegung, also die Bestimmung ihrer genauen Bedeutung sollte dem Konzil - in anderen Worten dem Papst und dem Kaiser - zustehen.“ (Wylie, 3. Buch, 3. Kap . 18. Siehe auch Czerwenka, ebd., Kap. 11, S. 248-289.) Auf dieser Grundlage wurde ein Vertrag eingegangen, und Rom gewann durch Hinterlist und Betrug, was es verfehlt hatte durch Waffengewalt zu erlangen; denn indem es die hussitischen Artikel, wie auch die Bibel, auf seine eigene Weise auslegte, konnte es ihren Sinn verdrehen, wie es seinen Absichten paßte.
Viele Böhmen konnten, weil sie sahen, daß ihre Freiheit dadurch verraten wurde, dem Vertrage nicht beistimmen. Es entstanden Uneinigkeit und Spaltungen, welche unter ihnen selbst zu Streit und Blutvergießen führten. In diesem Streit fiel der edle Prokopius, und die Freiheit Böhmens ging unter.
Sigismund, der Verräter des Hus' und Hieronymus', wurde nun König von Böhmen und ohne Rücksicht auf seinen Eid, die Rechte der Böhmen zu unterstützen, schritt er dazu, das Papsttum einzuführen. Aber er hatte durch seine Willfährigkeit gegen Rom wenig gewonnen. Zwanzig Jahre lang war sein Leben voll Arbeit und Gefahr gewesen; seine Heere waren aufgerieben und seine Schätze durch einen langen und fruchtlosen Kampf erschöpft worden; und nun, nachdem er ein Jahr regiert hatte, starb er und ließ sein Reich am Rande eines Bürgerkrieges und der Nachwelt einen schmachbedeckten Namen zurück.
Aufruhr, Streit und Blutvergießen folgten nacheinander; fremde Heere drangen wiederum in Böhmen ein, und innere Zwietracht fuhr fort, die Nation zu zerrütten. Die dem Evangelium treu blieben, waren einer blutigen Verfolgung ausgesetzt.
Während ihre früheren Brüder einen Vertrag mit Rom eingingen und dessen Irrtümer annahmen, bildeten diejenigen, welche zu dem alten Glauben hielten, unter dem Namen „Vereinte Brüder“ eine getrennte Gemeinde. Dieser Schritt zog ihnen die Verwünschung aller Klassen zu. Doch blieb ihre Festigkeit unerschüttert. Gezwungen, in den Wäldern und Höhlen Zuflucht zu suchen, versammelten sie sich immer noch, um Gottes Wort zu lesen und ihn gemeinschaftlich anzubeten.
Durch Boten, die sie heimlich in verschiedene Länder aussandten, erfuhren sie, daß hier und da „vereinzelte Bekenner der Wahrheit lebten, etliche in dieser, etliche in jener Stadt, die wie sie der Gegenstand der Verfolgung waren; und daß es in den Alpen eine alte Gemeinde gebe, die auf Grundlage der Schrift stehe und Einspruch gegen die abgöttischen Verderbnisse Roms erhebe.“ (Wylie, 3. Buch, 19. Kap.) Diese Kunde wurde mit großer Freude aufgenommen und ein schriftlicher Verkehr mit den Waldensern eröffnet.
Dem Evangelium treu, harrten die Böhmen die lange Nacht ihrer Verfolgung hindurch, selbst in der dunkelsten Stunde ihre Augen dem Horizont zugewandt, wie Leute, welche auf den Morgen warten. „Ihr Los fiel in böse Tage; aber sie waren eingedenk der Worte, welche Hus ausgesprochen und Hieronymus wiederholt hatte, daß ein Jahrhundert verstreichen müsse, ehe der Tag hereinbrechen könne. Diese Worte waren für die Taboriten (Hussiten) das, was Josephs Worte den Stämmen im Hause der Knechtschaft waren: 'Ich sterbe, und Gott wird euch heimsuchen und aus diesem Lande führen.“ (Wylie, 3. Buch, 19. Kap.) „Die letzten Jahre des 15. Jahrhunderts bezeugen den langsamen aber sicheren Zuwachs der Brüdergemeinden. Obgleich sie durchaus nicht unbelästigt waren, erfreuten sie sich verhältnismäßiger Ruhe. Am Anfang des 16. Jahrhunderts zählten sie in Böhmen und Mähren über zweihundert Gemeinden.“ (Gillett, „Life and Times of John Huß,“ 3. Aufl., 2. Bd., S. 570. Nach Gindeleys Gesch. d. böhm. Brüder war die Anzahl der Gemeinden zwischen 300 und 400.) „So groß war die Zahl der Übriggebliebenen, die der verheerenden Wut des Feuers und des Schwertes entgangen waren und die Dämmerung jenes Tages sehen durfte, den Hus vorhergesagt hatte.“ (Wylie, 3. Buch, 19. Kap.)


 
KAPITEL 7

LUTHERS TRENNUNG VON ROM


Unter denen, welche berufen wurden, die Gemeinde aus der Finsternis des Papsttums in das Licht eines reineren Glaubens zu führen, stand Martin Luther zuvorderst. Eifrig, feurig und fromm, kannte er kein Bangen außer der Gottesfurcht und ließ keine andere Grundlage für den religiösen Glauben gelten als die Heilige Schrift. Luther war der Mann für seine Zeit; durch ihn führte Gott ein großes Werk für die Reformation der Kirche und die Erleuchtung der Welt aus.
Gleich den ersten Herolden des Evangeliums entsprang Luther dem Stande der Armut. Seine frühe Jugend brachte er in dem bescheidenen Heim eines deutschen Landmannes zu. Durch tägliche harte Arbeit als Bergmann verdiente sich sein Vater die Mittel zu seiner Erziehung. Er bestimmte ihn zum Rechtsgelehrten; aber Gott beabsichtigte aus ihm einen Baumeister an dem großen Tempel, der sich im Laufe der Jahrhunderte so langsam erhob, zu machen. Mühsal, Entbehrung und strenge Manneszucht waren die Schule, in welcher die unendliche Weisheit Luther für das wichtige Werk seines Lebens vorbereitete.
Luthers Vater war ein Mann von entschiedenem, tätigem Geist und großer Charakterstärke, ehrlich, entschlossen und geradeaus. Er blieb seinen Überzeugungen der Pflicht treu, was auch die Folgen davon sein mochten. Sein echter, gesunder Verstand ließ ihn das Mönchswesen mit Mißtrauen betrachten. Er war höchst unzufrieden, als Luther ohne seine Einwilligung ein Kloster betrat; und es dauerte zwei Jahre, ehe der Vater sich mit seinem Sohn versöhnt hatte, und selbst dann blieben seine Ansichten dieselben.
Luthers Eltern verwandten große Sorgfalt auf die Erziehung und Ausbildung ihrer Kinder. Sie bestrebten sich, sie in der Gotteserkenntnis und in der Ausübung christlicher Tugenden zu unterweisen. Oft hörte der Sohn des Vaters Gebete zum Himmel emporsteigen, daß das Kind des Namens des Herrn gedenken und eines Tages in der Förderung der Wahrheit mit helfe. Jede Gelegenheit zur sittlichen oder geistigen Bildung, die das arbeitsreiche Leben gestattete, wurde von diesen Eltern eifrig benutzt. Ihre Bemühungen, die Kinder für ein Leben der Frömmigkeit und Nützlichkeit zu erziehen, waren ernsthaft und ausdauernd. In ihrer Entschiedenheit und Charakterfestigkeit übten sie bisweilen eine zu große Härte aus; aber der Reformator selbst, obgleich er sich in mancher Beziehung bewußt war, daß sie geirrt hatten, fand in ihrer Zucht mehr zu billigen als zu verurteilen.
In der Schule, die er schon im frühen Alter besuchte, wurde Luther mit Strenge, ja mit Härte behandelt. So groß war die Armut seiner Eltern, daß er, als er das Vaterhaus verließ, um die Schule eines andern Ortes zu besuchen, eine Zeitlang genötigt war, sich seine Nahrung durch Singen von Tür zu Tür zu erwerben, wobei er oft Hunger litt. Die damals herrschenden finsteren, abergläubischen Vorstellungen von Religion erfüllten ihn mit Furcht. Er legte sich nachts mit sorgenschwerem Herzen nieder, sah mit Zittern in die dunkle Zukunft und schwebte in beständiger Furcht, wenn er an Gott dachte, den er sich mehr als einen harten, unerbittlichen Richter und grausamen Tyrannen als einen liebevollen himmlischen Vater vorstellte.
Doch strebte Luther trotz den vielen und großen Entmutigungen entschlossen vorwärts dem hohen Vorbilde sittlicher und geistiger Vortrefflichkeit zu, welches seine Seele anzog. Ihn dürstete nach Erkenntnis, und sein ernster und praktischer Sinn verlangte eher nach dem Dauerhaften und Nützlichen als nach dem Scheinenden und Oberflächlichen.
Als er im Alter von achtzehn Jahren in die Universität zu Erfurt eintrat, war seine Lage günstiger und seine Aussichten glänzender als in seinen jüngeren Jahren. Da seine Eltern sich durch Fleiß und Sparsamkeit ein Auskommen erworben hatten, waren sie imstande, ihm allen nötigen Beistand zu gewähren; auch hatte der Einfluß verständiger Freunde die düsteren Wirkungen seiner früheren Erziehung etwas gemildert. Er gab sich nun eifrig dem Studium der besten Schriftsteller hin, bereicherte sein Verständnis mit ihren gewichtigsten Gedanken und eignete sich die Weisheit der Weisen an. Sogar unter der rauhen Zucht seiner ehemaligen Lehrmeister berechtigte er schon frühe zu Hoffnungen, sich auszuzeichnen, und unter günstigem Einfluß entwickelte sein Geist sich jetzt schnell. Ein gutes Gedächtnis, eine lebhafte Einbildung, starke Urteilskraft und unermüdlicher Fleiß gewannen ihm bald einen Platz in den vordersten Reihen seiner Gefährten. Schulzucht reifte seinen Verstand und erweckte eine Geistestätigkeit und einen Scharfblick, die ihn für die Kämpfe seines Lebens vorbereiteten.
Die Furcht des Herrn wohnte in Luthers Herzen; sie befähigte ihn, an seinen Vorsätzen festzuhalten und führte ihn zu tiefer Demut vor Gott. Er war sich beständig seiner Abhängigkeit von der göttlichen Hilfe bewußt und versäumte nicht, jeden Tag mit Gebet anzufangen, während sein Herz fortwährend um Führung und Beistand flehte. „Fleißig gebetet,“ sagte er oft, „ist über die Hälfte studiert.“ (Mathesius Historien, 1. Pred., 15. Abschn., Nürnberg, 1567.)
Als Luther eines Tages die Bücher in der Universitätsbibliothek durchschaute, entdeckte er eine lateinische Bibel. Solch ein Buch hatte er nie zuvor gesehen. Er hatte nicht einmal gewußt, daß es überhaupt existiere. Er hatte beim öffentlichen Gottesdienst Bruchstücke der Evangelien und der Episteln gehört und vermutet, daß diese die Bibel ausmachten. Nun blickte er zum ersten Mal auf das ganze Wort Gottes. Mit einem Gemisch von Ehrfurcht und Erstaunen wandte er die heiligen Blätter um; mit beschleunigtem Pulse und klopfendem Herzen las er selbst die Worte des Lebens, dann und wann anhaltend, um auszurufen: „O, daß Gott mir solch ein Buch als mein Eigentum geben wollte!“ (Luthers Werke, Erl., Bd. 60, S. 255.) Engel vom Himmel waren ihm zur Seite, und Strahlen des Lichtes vom Throne Gottes offenbarten seinem Verständnis die Schätze der Wahrheit. Er hatte sich stets gefürchtet, Gott zu beleidigen; jetzt aber bemächtigte sich seiner eine tiefe Überzeugung seines sündhaften Zustandes wie nie zuvor.
Ein aufrichtiges Verlangen, frei von Sünden zu sein und Frieden mit Gott zu haben, veranlaßte ihn schließlich, in ein Kloster einzutreten und ein Mönchsleben zu führen. Hier wurde von ihm verlangt, die niedrigsten Arbeiten zu verrichten und von Haus zu Haus zu betteln. Er stand in dem Alter, da Achtung und Anerkennung am meisten begehrt werden, und diese niedrigen Beschäftigungen kränkten seine natürlichen Gefühle tief; aber geduldig ertrug er die Demütigung, weil er glaubte, es sei notwendig um seiner Sünden willen.
Jeden Augenblick, den er von seinen täglichen Pflichten erübrigen konnte, verwandte er aufs Studium, beraubte sich des Schlafes und gönnte sich kaum die Zeit für seine bescheidenen Mahlzeiten. Vor allem andern erfreute ihn das Studium des Wortes Gottes. Er hatte an der Klostermauer angekettet eine Bibel gefunden und zog sich oft zu ihr zurück. Je mehr er von seinen Sünden überzeugt wurde, desto mehr suchte er durch eigene Werke Vergebung und Frieden zu erlangen. Er führte ein höchst strenges Leben und bemühte sich, seine böse Natur, wovon sein Mönchsstand ihn nicht zu befreien vermocht hatte, durch Fasten, Wachen und Kasteien zu besiegen. Er schreckte vor keinem Opfer zurück, durch welches er die Reinheit des Herzens erlangen möchte, die ihn befähigen wurde, Gott angenehm zu sein. „Wahr ist's, ein frommer Mönch bin ich gewesen, und habe so gestrenge meinen Orden gehalten, daß ich's sagen darf: ist je ein Mönch gen Himmel kommen durch Möncherei, so wollte ich auch hinein gekommen sein; denn ich hätte mich (wo es länger gewährt hätte), zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.“ (Ebd., Bd. 31, S. 273.) Diese schmerzhafte Zucht schwächte ihn, und. er litt an Ohnmachtsanfällen, von deren Folgen er sich nie ganz erholte. Aber trotz allen Anstrengungen fand seine geängstigte Seele keine Erleichterung, sondern wurde der Verzweiflung nahegebracht.
Als es Luther schien, daß alles verloren sei, erweckte ihm Gott einen Helfer und Freund. Der fromme Staupitz eröffnete das Wort Gottes dem Verständnisse Luthers und riet ihm, seine Aufmerksamkeit von sich selbst weg und auf Jesum, seinen Sünden vergebenden Heiland, zu lenken. „Wirf dich in die Arme des Erlösers. Vertraue auf ihn - auf die Gerechtigkeit seines Lebens ' die Versöhnung in seinem Tode. Horch auf den Sohn Gottes. Er ist Mensch geworden, dir die Gewißheit seiner göttlichen Gunst zu geben.“ „Liebe ihn, der dich zuerst geliebt hat.“ (Luther, Walch-Aufl., 11, S. 264.) So sprach dieser Bote der Gnade. Seine Worte machten einen tiefen Eindruck auf Luthers Gemüt. Nach gar manchem Kampfe mit lang gehegten Irrtümern war er imstande, die Wahrheit zu erfassen, und Friede kam in seine beunruhigte Seele.
Luther wurde zum Priester geweiht und aus dem Kloster als Professor an die Universität zu Wittenberg berufen. Hier widmete er sich dem Studium der Heiligen Schrift in den Ursprachen, begann darüber Vorlesungen zu halten und eröffnete das Buch der Psalmen, die Evangelien und Episteln dem Verständnisse von Scharen entzückter Zuhörer. Staupitz nötigte ihn, die Kanzel zu besteigen und das Wort Gottes zu predigen'. Luther zögerte, da er sich unwürdig fühlte, als Bote Christi zum Volke zu reden. Nur nach langem Widerstreben willfahrte er den Bitten seiner Freunde. Bereits war er mächtig in der Heiligen Schrift, und Gottes Gnade ruhte auf ihm. Seine Beredsamkeit fesselte die Zuhörer, die Klarheit und Macht in der Darstellung der Wahrheit überzeugten ihr Verständnis, und seine Inbrunst rührte die Herzen.
Luther war noch immer ein treuer Sohn der päpstlichen Kirche und hatte keinen Gedanken daran, je etwas anderes zu sein. Nach der Vorsehung Gottes bot sich ihm Gelegenheit, Rom zu besuchen. Er reiste zu Fuß, wobei er in den am Wege liegenden Klöstern Herberge fand. In einem Kloster in Italien wurde er mit Verwunderung erfüllt über den Reichtum, die Pracht und den Aufwand, die er sah. Mit einem fürstlichen Einkommen beschenkt, wohnten die Mönche in glänzenden Gemächern, kleideten sich in die reichsten und köstlichsten Gewänder und führten eine üppige Tafel. Mit schmerzlicher Besorgnis verglich Luther diesen Aufwand mit der Selbstverleugnung und der Mühsal seines eigenen Lebens. Seine Gedanken wurden verwirrt.
Endlich erblickte er aus der Ferne die Stadt der sieben Hügel. In tiefer Rührung warf er sich auf die Erde nieder, indem er ausrief: „Sei mir gegrüßt, du heiliges Rom.“ (Luther,- Erl. A., Bd. 62, S. 441.) Er betrat die Stadt, besuchte die Kirchen, horchte auf die von den Priestern und Mönchen wiederholten wunderbaren Erzählungen und verrichtete alle vorgeschriebenen Zeremonien. Überall boten sich ihm Anblicke, die ihn mit Erstaunen und Schrecken erfüllten. Er sah, daß unter allen Klassen der Geistlichkeit Gottlosigkeit herrschte. Von den Lippen der Prälaten mußte er unanständige Scherze hören, und ihr sehr gemeines Wesen, selbst während der Messe, erfüllte ihn mit Entsetzen. Als er sich unter die Mönche und Bürger mischte, fand er Verschwendung und Ausschweifung. Wohin er sich auch wandte, traf er anstatt der Heiligkeit Entheiligung. „Niemand glaubt, was zu Rom für Büberei und greuliche Sünde und Schande gehen,... er sehe, höre und erfahre es denn. Daher sagt man: 'Ist irgendeine Hölle, so muß Rom drauf gebaut sein; denn da gehen alle Sünden im Schwang.` (Ebd.)
Durch einen kürzlichen Erlaß war vom Papst allen denen ein Ablaß verheißen worden, die auf den Knien die „Pilatusstiege“ hinauf rutschen würden, von welcher gesagt wird, unser Heiland sei auf ihr herabgestiegen, als er das römische Gerichtshaus verließ, und daß sie durch ein Wunder von Jerusalem nach Rom gebracht worden sei. Luther erklomm eines Tages andächtig diese Treppe, als plötzlich eine Donner ähnliche Stimme zu ihm zu sagen schien: „Der Gerechte wird seines Glaubens leben!“ (Röm. 1, 17.) Mit Scham und Schrecken sprang er auf die Füße und floh von der Stätte. Jene Bibelstelle verlor nie ihre Wirkung auf seine Seele. Von jener Zeit an sah er deutlicher als je zuvor die Täuschung, auf Menschenwerke zu vertrauen, um Erlösung zu erlangen, und die Notwendigkeit eines beständigen Glaubens an die Verdienste Christi. Seine Augen waren geöffnet worden, um für die Betrügereien des Papsttums nie wieder verschlossen zu werden. Als er Rom den Rücken kehrte, hatte er sich auch in seinem Herzen abgewandt, und von jener Zeit an wurde die Trennung größer, bis er alle Verbindung mit der päpstlichen Kirche abschnitt.
Nach seiner Rückkehr von Rom wurde Luther auf der Universität zu Wittenberg zum Doktor der Theologie ernannt. Nun stand es ihm frei, sich wie nie zuvor der Heiligen Schrift, die er liebte, zu widmen. Er hatte ein feierliches Gelübde getan, alle Tage seines Lebens Gottes Wort, und nicht die Aussprüche und Lehren der Päpste, zu studieren und gewissenhaft zu predigen. Er war nicht länger der einfache Mönch oder Professor, sondern der bevollmächtigte Herold der Bibel; er war zu einem Hirten berufen, die Herde Gottes zu weiden, die nach der Wahrheit hungerte und dürstete. Mit Bestimmtheit erklärte er, daß die Christen keine anderen Lehren annehmen sollten als die, welche auf der Autorität der Heiligen Schrift beruhten. Diese Worte trafen ganz und gar die Grundlage der Oberherrschaft des Papsttums; sie enthielten den wahren Grundsatz der Reformation.
Luther erkannte die Gefahr, menschliche Lehrsätze über das Wort Gottes zu erheben. Furchtlos griff er den spitzfindigen Unglauben der Schulgelehrten an und beanstandete die Philosophie und Theologie, welche so lange einen herrschenden Einfluß auf das Volk ausgeübt hatten. Er verwarf dergleichen Studien als nicht nur wertlos, sondern auch verderblich und suchte die Gemüter seiner Zuhörer von den Trugschlüssen der Philosophen und Theologen abzuziehen und auf die ewigen Wahrheiten zu lenken, welche die Propheten und Apostel verkündigten.
Köstlich war die Botschaft, welche er der begierigen Menge, die an seinen Lippen hing, bringen durfte. Nie zuvor waren solche Lehren zu ihren Ohren gedrungen. Die frohe Kunde von einer Heilandsliebe, die Gewißheit der Vergebung und des Friedens durch das versöhnende Blut erfreuten ihre Herzen und erweckten in ihnen eine unsterbliche Hoffnung. In Wittenberg war ein Licht angezündet worden, dessen Strahlen die entlegensten Teile der Erde erreichen und bis zum Ende der Zeit an Helle zunehmen sollten.
Aber Licht und Finsternis können sich nicht vertragen. Zwischen Wahrheit und Irrtum besteht ein unvermeidlicher Kampf. Das eine aufrecht halten und verteidigen, heißt das andere angreifen und umstürzen. Unser Heiland selbst erklärte: „Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert,“ (Matth. 10, 34.) Und Luther schrieb einige Jahre nach dem Anfang der Reformation: „Gott reißet, treibet und führet mich; ich bin meiner nicht mächtig; ich will stille sein und werde mitten in den Tumult hinein gerissen.“ (L. W., Erl., B d. 1, S. 430, Febr. 20, 1519.)
Die katholische Kirche hatte die Gnade Gottes zu einem Handelsgut gemacht. (Vergl. Matth. 21, 12.) Die Tische der Geldwechsler wurden neben ihren Altären aufgestellt, und die Luft ertönte vom Geschrei der Käufer und Verkäufer. Unter dem Vorwand, Mittel zur Erbauung der St. Peterskirche in Rom zu erheben, wurden kraft der Autorität des Papstes öffentlich Ablässe für die Sünde zum Verkauf angeboten. Auf Kosten von Verbrechen sollte ein Tempel zur Verehrung Gottes gebaut - sein Eckstein mit dem Lohn der Ungerechtigkeit gelegt werden. Aber gerade das Mittel zur Vergrößerung Roms sollte den tödlichsten Schlag gegen' seine Macht und Größe hervorrufen. Gerade dies erweckte die entschlossensten und erfolgreichsten Gegner des Papsttums und führte zu dem Kampf, der den päpstlichen Thron erschütterte und die dreifache Krone auf dem Haupte des Oberpriesters wankend machte.
Der Beamte, der bestimmt war, den Verkauf der Ablässe in Deutschland zu leiten - Tetzel mit Namen - war der gemeinsten Vergehen gegen die menschliche Gesellschaft und gegen das Gesetz Gottes überwiesen worden; nachdem er aber der seinen Verbrechen angemessenen Strafe entronnen war, wurde er angestellt, um die habsüchtigen gewissenlosen Pläne des Papstes zu fördern.
Wenn Tetzel („Leo teilte Deutschland in drei Gebiete ein und übergab 1515 einen Teil Albrecht, Erzbischof von Mainz und Magdeburg.“ „Der Erzbischof bestimmte Johann Tetzel zu seinem Bevollmächtigten.“ Schaff, Deutsche Ref., 1, 150-155), eine Stadt betrat, ging ein Bote vor ihm her und verkündigte: „Die Gnade Gottes und des heiligen Vaters ist vor den Toren.“ Und das Volk bewillkommnete ihn, daß „man hätte nicht wohl Gott selber schöner empfangen und halten können.“ (Dorneth, Luther, S. 102.) Der Handel ging in der Kirche vor sich, Tetzel bestieg die Kanzel und pries die Ablässe als eine kostbare Gabe Gottes. Er erklärte, daß kraft seiner Ablaßzettel dem Käufer alle Sünden, „auch noch so ungeheuerliche, welche der Mensch noch begehen möchte,“ verziehen würden. „Es wäre nicht not, Reue noch Leid oder Buße für die Sünde zu haben.“ Seine Ablässe besäßen Kraft, Lebende und Tote zu retten; wenn einer Geld in den Kasten legte für eine Seele im Fegefeuer, so führe, sobald der Pfennig auf den Boden fiel und klänge, die Seele heraus gen Himmel. (Luthers Werke, Erl., Bd. 26, S. 51 f ., „Wider Hans Wurst.“ Siehe auch Hagenbach, Kirchengesch., Bd. 3, S. 76 f., Leipzig 1887.)
Als Simon Magus sich von den Aposteln die Macht, Wunder zu wirken, erkaufen wollte, antwortete ihm Petrus: „Daß du verdammt werdest mit deinem Gelde, darum daß du meinst, Gottes Gabe werde durch Geld erlangt.“ (Apg. 8,20.) Aber Tetzels Anerbieten wurde von Tausenden gierig ergriffen. Gold und Silber floß in seinen Kasten. Eine Seligkeit, welche mit Geld erkauft werden konnte, war leichter zu erlangen als solche, welche Reue, Glauben und eifrige Anstrengungen erforderte, der Sünde zu widerstehen und sie zu überwinden. (Siehe Anhang.)
Der Ablaßlehre hatten sich schon gelehrte und fromme Männer in der römischen Kirche widersetzt, und es gab viele, welche kein Vertrauen hatten in Behauptungen, die sowohl der Vernunft als der Offenbarung zuwider waren. Kein Prälat wagte es, seine Stimme gegen diesen gottlosen Handel zu erheben; aber die Gemüter der Menschen wurden beunruhigt und ängstlich, und viele forschten ernstlich, ob Gott nicht durch irgendein Werkzeug die Reinigung seiner Kirche bewirken würde.
Luther, obwohl noch immer ein höchst eifriger Anhänger des Papstes, wurde ob den gotteslästerlichen Anmaßungen der Ablaßkrämer mit Entsetzen erfüllt. Viele aus seiner eigenen Gemeinde hatten sich Ablaßbriefe gekauft und kamen bald zu ihrem Beichtvater, bekannten ihre verschiedenen Sünden und erwarteten Freisprechung, nicht weil sie bußfertig waren und sich zu bessern wünschten, sondern auf Grund des Ablasses. Luther verweigerte ihnen die Freisprechung und warnte sie, daß sie, wenn sie nicht Buße täten und ihren Wandel änderten, in ihren Sünden umkommen müßten. In großer Bestürzung suchten sie Tetzel auf und klagten ihm, daß ihr Beichtvater seine Briefe verworfen habe; ja einige forderten kühn die Rückgabe ihres Geldes. Der Mönch wurde mit Wut erfüllt. Er äußerte die schrecklichsten Verwünschungen, ließ etliche mal auf dem Markt ein Feuer anzünden und „beweiste damit, wie er vom Papst Befehl hätte, die Ketzer, die sich wider den Allerheiligsten, den Papst und seinen Allerheiligsten Ablaß legten, zu verbrennen.“ (L. W., Walch, Bd. 15, S. 471.)
Luther trat nun kühn sein Werk als Kämpfer für die Wahrheit an. Seine Stimme wurde von der Kanzel in ernster, feierlicher Warnung gehört. Er zeigte dem Volke das Schädliche der Sünde und lehrte, daß es für den Menschen unmöglich sei, durch seine eigenen Werke die Schuld zu verringern oder der Strafe zu entrinnen. Nichts als Buße vor Gott und der Glaube an Christum könne den Sünder retten. Gottes Gnade könne nicht erkauft werden; sie sei eine freie Gabe. Er riet dem Volke, keine Ablässe zu kaufen, sondern im Glauben auf den gekreuzigten Erlöser zu schauen. Er erzählte seine eigene schmerzliche Erfahrung, da er umsonst gesucht habe, sich durch Demütigung und Buße Erlösung zu verschaffen, und versicherte seinen Zuhörern, daß er Friede und Freude gefunden, als er von sich selbst weggesehen und an Christum geglaubt habe,
Als Tetzel seinen Handel und seine gottlosen Behauptungen fortsetzte, entschloß sich Luther zu einem wirksameren Widerstand gegen diese schreienden Mißbräuche. Bald bot sich hierzu die Gelegenheit. Die Schloßkirche zu Wittenberg war im Besitz vieler Reliquien, welche an gewissen Festtagen für das Volk ausgestellt wurden, und volle Vergebung der Sünden wurde allen gewährt, die dann die Kirche besuchten und beichteten. Demzufolge begab sich viel Volk an diesen Tagen dorthin. Eine der wichtigsten Gelegenheiten, das Fest der „Allerheiligen“, nahte sich. Am vorhergehenden Tage schloß Luther sich der Menge an, die bereits auf dem Wege nach der Kirche war und heftete einen Bogen von 95 Sätzen gegen die Ablaßlehre an die Kirchentür. Er erklärte sich bereit, am folgenden Tage in der Universität diese Sätze gegen alle, die sie angreifen würden, zu verteidigen.
Seine Sätze zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Sie wurden gelesen und abermals gelesen und in allen Richtungen wiederholt. Eine große Aufregung entstand in der Universität und in der ganzen Stadt. Durch diese Lehrsätze wurde gezeigt, daß die Macht, Vergebung der Sünden zu gewähren und ihre Strafe zu erlassen, nie dem Papst oder irgendeinem anderen Menschen übergeben worden sei. Der ganze Plan sei ein Betrug, ein Kunstgriff, um Geld zu erpressen, indem man den Aberglauben des Volkes ausbeute - eine List Satans, um die Seelen aller zu verderben, welche sich auf seine lügenhaften Vorspiegelungen verlassen würden. Es wurde klar gezeigt, daß das Evangelium Christi der kostbarste Schatz der Kirche ist, und daß die darin offenbarte Gnade Gottes allen frei gewährt wird, welche sie in Reue und Glauben suchen.
Luthers Lehrsätze forderten zur Besprechung heraus; aber niemand wagte es, die Herausforderung anzunehmen. Die von ihm gestellten Fragen hatten sich in wenigen Tagen über ganz Deutschland verbreitet und erschollen in wenigen Wochen durch die ganze Christenheit. Viele ergebene Römlinge, welche die in der Kirche herrschende schreckliche Ungerechtigkeit gesehen und beklagt, aber nicht gewußt hatten, wie sie deren Fortgang aufhalten sollten, lasen die Sätze mit großer Freude und erkannten in ihnen die Stimme Gottes. Sie fühlten, daß der Herr gnädig seine Hand ausgestreckt hatte, um die rasch anschwellende Flut der Verderbnis, welche von dem römischen Stuhl ausging, aufzuhalten. Fürsten und Beamte freuten sich im geheimen, daß der anmaßenden Gewalt, welche behauptete, daß gegen ihre Beschlüsse kein Einwand zu erheben sei, Zügel angelegt werden sollten.
Aber die sündenliebende und abergläubische Menge entsetzte sich, als die Spitzfindigkeiten, welche ihre Furcht beruhigt hatten, hinweggefegt wurden. Verschlagene Geistliche, welche in ihrem Treiben, das Verbrechen zu billigen, unterbrochen wurden und ihren Gewinn gefährdet sahen, gerieten in Wut und vereinigten sich, um ihre Behauptung aufrecht zu erhalten. Der Reformator stieß auf erbitterte Ankläger. Einige beschuldigten ihn, in Übereilung und Leidenschaft gehandelt zu haben. Andere klagten ihn der Vermessenheit an und erklärten, daß er nicht von Gott geleitet werde, sondern aus Stolz und Voreile handle. „Wer kann eine neue Idee vorbringen,“ antwortete er, „ohne einen Anschein von Hochmut, ohne Beschuldigung der Streitlust? . .. Weshalb sind Christus und alle Märtyrer getötet worden? Weil sie stolze Verächter der Wahrheit ihrer Zeit geschienen und neue Ansichten ausgesprochen, ohne die Organe der alten Meinung einmütiglich um Rat zu fragen. Ich will nicht, daß nach Menschen Rat, sondern nach Gottes Rat geschehe, was ich tue; ist das Werk von Gott, wer möcht's hindern, ist's nicht aus Gott, wer möcht's fördern? Es geschehe nicht mein Wunsch, noch ihr, noch euer, sondern dein Wille, Heiliger Vater im Himmel!“ (Luthers Werke, St. L., Bd. 15, S. 394; an Lang, Nov. 11, 1517.)
Obwohl Luther vom Geiste Gottes getrieben worden war, sein Werk zu beginnen, so sollte er es doch nicht ohne schwere Kämpfe fortführen. Die Vorwürfe seiner Feinde, ihre Mißdeutung seiner Absichten und ihre ungerechten und boshaften Bemerkungen über seinen Charakter und seine Beweggründe ergossen sich über ihn gleich einer überschwemmenden Flut und blieben nicht ohne Wirkung. Er hatte zuversichtlich darauf gerechnet, daß die Leiter des Volkes sowohl in der Kirche als auch in der Schule sich ihm bereitwillig in seinen Bemühungen zugunsten der Reformation anschließen würden. Worte der Ermutigung von hochgestellten Persönlichkeiten hatten ihm Freude und Hoffnung eingeflößt. In der Vorempfindung hatte er bereits einen helleren Tag für die Gemeinde anbrechen sehen. Aber die Ermutigung hatte sich in Vorwurf und Verurteilung verwandelt. Viele Würdenträger der Kirche und des Staates waren von der Wahrheit seiner Lehrsätze überzeugt; aber sie sahen bald, daß die Annahme dieser Wahrheiten große Veränderungen in sich schließen würde. Das Volk zu erleuchten und umzugestalten, hieße in Wirklichkeit die Autorität Roms untergraben, Tausende von Strömen, die nun in ihre Schatzkammer flossen, aufhalten und auf diese Weise die Verschwendung und den Aufwand der Führer Roms in hohem Grade beschränken. Noch mehr, das Volk zu lehren, als verantwortliche Wesen zu denken und zu handeln und allein auf Christum zu blicken, um selig zu werden, würde den Thron des Papstes stürzen und am Ende ihre (der Würdenträger) Autorität zugrunde richten. Aus diesem Grunde wiesen sie die von Gott dargebotene Erkenntnis zurück und erhoben sich durch ihren Widerstand gegen Christum und die Wahrheit, indem sie gegen den Mann, welchen Gott zu ihrer Erleuchtung gesandt hatte, Stellung nahmen.
Luther zitterte, als er auf sich sah, „mehr einer Leiche, denn einem Menschen gleich,“ den gewaltigsten Mächten der Erde gegenübergestellt. Zuweilen zweifelte er, ob ihn der Herr in seinem Widerstand wider die Autorität der Kirche wirklich leite. Er schrieb: „Wer war ich elender, verachteter Bruder dazumal, der sich sollte wider des Papstes Majestät setzen, vor welcher die Könige auf Erden und der ganze Erdboden sich entsetzten und allein nach seinen Winken sich mußten richten? Was mein Herz in jenen zwei Jahren ausgestanden und erlitten habe und in welcherlei Demut, ja Verzweiflung, ich da schwebte, ach! da wissen die sichern Geister wenig von, die hernach des Papstes Majestät mit großem Stolz und Vermessenheit angriffen.“ (Seckendorf, Commentarius, 1. Buch, 13. Abschn.). Doch er wurde nicht gänzlich entmutigt; fehlten menschliche Stützen, so schaute er auf Gott und lernte, daß er sich mit vollkommener Sicherheit auf dessen allmächtigen Arm verlassen konnte.
Einem Freund der Reformation schrieb Luther: „Es ist vor allem gewiß, daß man die Heilige Schrift weder durch Studium noch mit dem Verstand erfassen kann. Deshalb ist es zuerst Pflicht, daß du mit dem Gebet beginnst und den Herrn bittest, er möge dir zu seiner Ehre, nicht zu deiner, in seiner großen Barmherzigkeit das wahre Verständnis seiner Worte schenken. Das Wort Gottes wird uns von seinem Urheber ausgelegt, wie er sagt, daß sie alle von Gott gelehrt sind. Hoffe deshalb nichts von deinem Studium und Verstand; vertraue allein auf den Einfluß des Geistes. Glaube meiner Erfahrung.“ (Luthers Werke, St. L., B d. 10, S. 218; Jan. 18, 1518.) Hier haben wir eine Lehre von hochwichtiger Bedeutung für alle, die sich von Gott berufen fühlen, anderen die feierlichen Wahrheiten für die gegenwärtige Zeit vorzuführen. Diese Wahrheiten erregen die Feindschaft Satans und derer, welche die Fabeln lieben, die er erdichtet hat. Zum Kampf mit den bösen Mächten ist mehr vonnöten als Verstandeskraft und menschliche Weisheit.
Beriefen sich die Gegner auf Gebräuche und Überlieferungen oder auf die Behauptungen und die Autorität des Papstes, so trat Luther ihnen mit der Bibel, nur mit der Bibel gegenüber. Hier waren Beweisführungen, die sie nicht widerlegen konnten; deshalb schrien die Sklaven des Formenwesens und des Aberglaubens nach seinem Blut, wie die Juden nach dem Blute Christi geschrien hatten. „Er ist ein Ketzer!“ riefen die römischen Eiferer. „Es ist Hochverrat gegen die Kirche, wenn ein so schändlicher Ketzer noch eine Stunde länger lebt. Errichtet den Scheiterhaufen für ihn!“ (Seckendorf, Commentarius, 1. Buch, 12. Abschn.) Aber Luther fiel ihrer Wut nicht zur Beute. Gott hatte ein Werk für ihn zu tun, und himmlische Engel wurden ausgesandt, ihn zu beschützen. Viele jedoch, die von Luther das köstliche Licht empfangen hatten, wurden ein Gegenstand der Wut Satans und erlitten um der Wahrheit willen furchtlos Marter und Tod.
Luthers Lehren zogen die Aufmerksamkeit denkender Geister in ganz Deutschland auf sich. Seine Predigten und Schriften verbreiteten Lichtstrahlen, welche Tausende erweckten und erleuchteten. Ein lebendiger Glaube nahm die Stelle des toten Formenwesens ein, in welchem die Kirche so lange gehalten worden war. Das Volk verlor täglich mehr das Zutrauen zu den abergläubischen Lehren der römischen Religion. Die Schranken des Vorurteils gaben nach. Das Wort Gottes, nach welchem Luther jede Lehre und jede Behauptung prüfte, war gleich einem zweischneidigen Schwert, das sich seinen Weg zu dem Herzen des Volkes bahnte. Überall erwachte ein Verlangen nach geistigem Fortschritt; überall entstand solch ein Hungern und Dürsten nach der Gerechtigkeit, wie man es seit Jahrhunderten nicht gekannt hatte. Die so lange auf menschliche Gebräuche und irdische Vermittler gerichteten Blicke des Volkes wandten sich nun in Reue und Glauben auf Christum, den Gekreuzigten.
Dieses weitverbreitete Heilsverlangen erweckte die Furcht der päpstlichen Autoritäten noch mehr. Luther erhielt eine Aufforderung, in Rom zu erscheinen, um sich gegen die Anklage der Ketzerei zu verantworten. Der Befehl erfüllte seine Freunde mit Schrecken. Sie kannten nur zu gut die Gefahr, welche ihm in jener verderbten, vom Blute der Zeugen Jesu trunkenen Stadt drohte. Sie erhoben Einsprache gegen seine Reise nach Rom und reichten ein Gesuch ein, ihn in Deutschland verhören zu lassen.
Dieses wurde schließlich genehmigt und der päpstliche Gesandte dazu bestimmt, den Fall anzuhören. In den Kajetan mitgeteilten Unterweisungen wurde ausgesagt, daß Luther bereits als Ketzer erklärt worden sei. Der Gesandte wurde deshalb beauftragt, „ihn zu verfolgen und unverzüglich zu verhaften!“ Falls er standhaft bleiben oder der Legat seiner nicht habhaft werden könnte, wurde er bevollmächtigt, ihn an allen Orten Deutschlands zu ächten, zu verbannen, zu verfluchen und alle seine Anhänger in den Bann zu tun. (Luthers Werke, St. L., Bd. 15. S. 443.) Um die Pest der Ketzerei vollständig auszurotten, befahl der Papst seinem Gesandten, alle, ohne Rücksicht auf ihr Amt, mit Ausnahme des Kaisers, in Kirche und Staat in die Acht zu erklären, falls sie es unterließen, Luther und seine Anhänger zu ergreifen und der Rache Roms auszuliefern.
Hier zeigte sich der wahre Geist des Papsttums. Nicht eine Spur christlicher Grundsätze oder auch nur gewöhnlicher Gerechtigkeit war aus dem ganzen Schriftstück ersichtlich. Luther war von Rom weit entfernt; er hatte keine Gelegenheit gehabt, seinen Standpunkt zu erklären oder zu verteidigen, sondern war, bevor sein Fall untersucht worden war, ohne weiteres als Ketzer erklärt und am selben Tage gewarnt, angeschuldigt, gerichtet und verurteilt worden, und zwar von dem anmaßlich Heiligen Vater, der alleinigen höchsten, unfehlbaren Autorität in Kirche und Staat!
Um diese Zeit, da Luther der Liebe und des Rates eines treuen Freundes so sehr bedurfte, sandte Gottes Vorsehung Melanchthon nach Wittenberg. Jung an Jahren, bescheiden und zurückhaltend in seinem Benehmen, gewannen Melanchthons gesundes Urteil, umfassendes Wissen und gewinnende Beredsamkeit im Verein mit der Reinheit und Redlichkeit seines Charakters ihm allgemeine Bewunderung und Achtung. Seine glänzenden Talente waren nicht bemerkenswerter als die Sanftmut seines Gemüts. Er wurde bald ein eifriger Jünger des Evangeliums und Luthers vertrautester Freund und geschätzte Stütze; seine Sanftmut, Vorsicht und Genauigkeit ergänzten Luthers Mut und Tatkraft. Ihr vereintes Wirken gab der Reformation Kraft und war für Luther eine Quelle großer Ermutigung.
Augsburg war als der Ort des Verhörs festgesetzt worden, und der Reformator trat die Reise zu Fuß an. Ernste Befürchtungen wurden seinetwegen gehegt. Man hatte, ihn öffentlich bedroht, ihn auf dem Wege zu ergreifen und zu ermorden, und seine Freunde baten ihn, sich dem nicht auszusetzen. Sie drangen sogar in ihn, Wittenberg für eine Zeitlang zu verlassen und sich dem Schutz derer anzuvertrauen, welche ihn bereitwillig beschirmen würden. Er aber wollte die Stelle nicht verlassen, wo Gott ihn hingestellt hatte. Ungeachtet der übrigen hereinbrechenden Stürme mußte er getreulich die Wahrheit aufrechterhalten. Er sagte sich.: „Ich bin mit Jeremia gänzlich der Mann des Haders und der Zwietracht; ... je mehr sie drohen, desto freudiger bin ich, ... mein Name und Ehre muß auch jetzt gut herhalten; also ist mein schwacher und elender Körper noch übrig, wollen sie den hinnehmen, so werden sie etwas um ein paar Stunden Leben ärmer machen, aber die Seele werden sie mir doch nicht nehmen; ... wer Christi Wort in die Welt tragen will, muß mit den Aposteln stündlich gewärtig sein, mit Verlassung und Verleugnung aller Dinge den Tod zu leiden.“ (Ebd., S. 2377; Juli 10, 1518.)
Die Nachricht von Luthers Ankunft in Augsburg erfüllte den päpstlichen Gesandten mit großer Genugtuung. Der unruhestiftende Ketzer, der die Aufmerksamkeit der ganzen Welt erregte, schien nun in der Gewalt Roms zu sein, und der Legat war entschlossen, ihn nicht entrinnen zu lassen. Der Reformator hatte versäumt, sich mit einem Sicherheitsgeleit zu versehen. Seine Freunde überredeten ihn, nicht ohne ein solches vor dem Gesandten zu erscheinen und unternahmen es, ihm eins vom Kaiser zu verschaffen. Der Legat hatte die Absicht, Luther, wenn möglich, zum Widerrufen zu zwingen oder, falls ihm dies nicht gelang, ihn nach Rom bringen zu lassen, damit er dort das Schicksal eines Hus und Hieronymus teile. Deshalb versuchte er durch seine Werkzeuge Luther zu bewegen, ohne ein Sicherheitsgeleit zu erscheinen und sich seiner Gnade anzuvertrauen. Der Reformator weigerte sich jedoch, dies zu tun und erschien nicht vor dem päpstlichen Gesandten, bis er das Schriftstück, welches ihm den Schutz des Kaisers verbürgte, erhalten hatte.
Aus Staatsklugheit hatten sich die Römlinge entschlossen, Luther durch einen Anschein von Wohlwollen zu gewinnen. Der Legat zeigte in seinen Unterredungen mit ihm eine große Freundlichkeit, verlangte aber, daß Luther sich der Autorität der Kirche bedingungslos unterwerfe und in jedem Punkt ohne Beweis oder Frage nachgebe. Er hatte den Charakter des Mannes, mit dem er verhandelt hatte, nicht richtig eingeschätzt. Luther drückte in Erwiderung seine Achtung gegen die Kirche aus, sein Verlangen nach der Wahrheit, seine Bereitwilligkeit, alle Einwände gegen das, was er gelehrt hatte, zu beantworten und seine Lehren dem Entscheid gewisser tonangebender Universitäten zu unterbreiten. Gleichzeitig aber protestierte er gegen die Verfahrensweise des Kardinals, von ihm einen Widerruf zu verlangen, ohne ihm den Irrtum bewiesen zu haben.
Die einzige Antwort war: „Widerrufe! Widerrufe!“ Der Reformator berief sich auf die Heilige Schrift und erklärte bestimmt, daß er die Wahrheit nicht aufgeben könne. Der Legat, welcher den Beweisführungen Luthers nicht gewachsen war, überhäufte ihn so mit Vorwürfen, Sticheleien und Schmeichelei, vermengt mit Anführungen aus den päpstlichen Bullen und den Vätern, daß der Reformator überhaupt nicht recht zum Worte kam. Luther, der die Nutzlosigkeit einer derartigen Unterredung sah, erhielt schließlich die mit Widerstreben erteilte Erlaubnis, seine Verteidigung schriftlich einzureichen.
Dadurch erzielte Luther trotz seiner Bedrückung einen doppelten Gewinn. Er konnte seine Verteidigung der ganzen Welt zur Beurteilung unterbreiten und auch besser durch eine wohl gesetzte Schrift auf das Gewissen und die Furcht eines anmaßenden und geschwätzigen Tyrannen einwirken, der ihn immer wieder überschrie. (Ebd., Erl., Bd. 17, S. 209; Bd. 53, 3f.) Bei der nächsten Zusammenkunft gab Luther eine klare, gedrängte und eindrucksvolle Erklärung, die er durch viele Schriftstellen begründete, und überreichte sie dem Kardinal, nachdem er sie laut vorgelesen hatte. Dieser warf sie jedoch verächtlich beiseite mit der Bemerkung, sie enthalte nur eine Menge unnützer Worte und unzutreffender Schriftstellen. Luther, nun auch völlig wach, begegnete dem herrischen Prälaten auf seinem eigenen Gebiet - den Überlieferungen und Lehren der Kirche - und widerlegte völlig seine Darlegungen.
Der Prälat sah, daß Luthers Gründe unwiderlegbar waren, verlor seine Selbstbeherrschung und rief schließlich nur voll Wut: „Widerrufe!“ Wenn Luther dies nicht sofort tue oder in Rom sich seinen Richtern stelle, so werde er über ihn und alle, die ihm gewogen seien, den Bannfluch und über alle, zu denen er sich hinwenden werde, das kirchliche Interdikt verhängen. Zuletzt erhob sich der Kardinal mit den Worten: „Gehe! Widerrufe oder komme mir nicht wieder vor die Augen.“ (Ebd., Erl., Bd. 64 S. 364; Bd. 62 S. 72.)
Der Reformator zog sich sofort mit seinen Freunden zurück und gab deutlich zu verstehen, daß man keinen Widerruf von ihm erwarten könne. Dies entsprach keineswegs der Hoffnung des Kardinals. Er hatte sich geschmeichelt, Luther mit Gewalt und Einschüchterung unterwürfig zu machen. Jetzt mit seinen Gönnern allein gelassen, blickte er von dem einen zum andern im höchsten Ärger über das unerwartete Mißlingen seiner Anschläge.
Luthers Bemühungen bei diesem Anlaß waren nicht ohne gute Folgen. Die anwesende große Versammlung hatte Gelegenheit, die beiden Männer zu vergleichen und selbst ein Urteil zu fällen über den Geist, der sich in ihnen offenbarte, und über die Stärke und die Wahrhaftigkeit ihrer Stellungen. Wie bezeichnend der Unterschied! Der Reformator, einfach, bescheiden, entschieden, stand da in der Kraft Gottes, die Wahrheit auf seiner Seite; der Vertreter des Papstes, eingebildet, anmaßend, hochmütig und unverständig, ohne einen einzigen Beweis aus der Heiligen Schrift, laut schreiend: „Widerrufe oder du wirst nach Rom geschickt, um die verdiente Strafe zu erleiden!“
Trotzdem Luther sich ein Sicherheitsgeleit verschafft hatte, planten die Römlinge, ihn zu ergreifen und einzukerkern. Seine Freunde baten ihn dringend, da es für ihn nutzlos sei, seinen Aufenthalt zu verlängern, ohne Aufschub nach Wittenberg zurückzukehren, wobei die äußerste Vorsicht beobachtet werden müsse, um seine Absichten zu verbergen. Demgemäß verließ er Augsburg vor Tagesanbruch zu Pferde, nur von einem Führer, der ihm vom Stadtoberhaupt zur Verfügung gestellt war, begleitet. Unter trüben Ahnungen nahm er heimlich seinen Weg durch die dunklen und stillen Straßen der Stadt; sannen doch wachsame und grausame Feinde auf seinen Untergang! Würde er den ihm gelegten Schlingen entrinnen? Dies waren Augenblicke der Besorgnis und des ernsten Gebetes. Er erreichte ein kleines Tor in der Stadtmauer. Man öffnete ihm, und ohne Hindernis zog er mit seinem Führer hinaus. Sicher außerhalb des Stadtbezirks beschleunigten die Flüchtlinge ihren Ritt, und ehe noch der Legat Kenntnis von Luthers Abreise erhielt, war dieser außer dem Bereich seiner Verfolger. Satan und seine Abgesandten waren überlistet. Der Mann, den sie in ihrer Gewalt glaubten, war entkommen wie der Vogel den Schlingen des Voglers.
Die Nachricht von Luthers Flucht versetzte den Legaten in Überraschung und Ärger. Er hatte erwartet, für die Klugheit und Entschiedenheit in seinem Verfahren mit diesem Unruhestifter der Kirche große Ehre zu empfangen; fand sich jedoch in seiner Hoffnung enttäuscht. Er gab seinem Zorn in einem Briefe an Friedrich, den Kurfürsten von Sachsen, Ausdruck, indem er Luther bitter anschuldigte und verlangte, daß Friedrich den Reformator nach Rom senden oder aus Sachsen verbannen solle.
Zu seiner Rechtfertigung verlangte Luther, daß der Legat oder der Papst ihn seiner Irrtümer aus der Heiligen Schrift überführe, und verpflichtete sich höchst feierlich, seine Lehren zu widerrufen, falls erwiesen werden könnte, daß sie dem Worte Gottes widersprächen. Er drückte auch Gott seine Dankbarkeit aus, daß er würdig erachtet worden sei, um einer so heiligen Sache willen zu leiden.
Der Kurfürst hatte bis dahin nur eine geringe Kenntnis von den reformierten Lehren; aber die Aufrichtigkeit, die Kraft und die Klarheit der Worte Luthers machten einen tiefen Eindruck auf ihn, und er beschloß, solange als des Reformators Beschützer aufzutreten, bis dieser des Irrtums überführt werden könnte. In Antwort auf die Forderung des Legaten schrieb er: „Weil der Doktor Martinus vor euch zu Augsburg erschienen ist, so. könnt ihr zufrieden sein. Wir haben nicht erwartet, daß ihr ihn, ohne ihn widerlegt zu haben, zum Widerruf zwingen wollt. Kein Gelehrter in unsern Fürstentümern hat behauptet, daß die Lehre Martins gottlos, unchristlich und ketzerisch sei.“ (L. W., Erl., lat., Bd. 33, S. 409 f. Siehe auch D'Aubigné, 4. Buch, 10. Absch.) Der Fürst weigerte sich, Luther nach Rom zu schicken oder ihn aus seinem Lande zu vertreiben.
Der Kurfürst sah, daß ein allgemeiner Zusammenbruch der sittlichen Schranken der Gesellschaft im Gange war. Ein großes Reformationswerk war Bedürfnis. Die verwickelten und kostspieligen Einrichtungen zur Verhinderung und Bestrafung des Verbrechens würden unnötig sein, wenn die Menschen Gottes Gebote und die Vorschriften eines erleuchteten Gewissens anerkennten und ihnen Gehorsam leisteten. Er erkannte, daß Luther daraufhin arbeitete, dieses Ziel zu erreichen, und er freute sich heimlich, daß sich ein besserer Einfluß in der Kirche fühlbar machte.
Er sah auch, daß Luther als Professor an der Universität ungemein erfolgreich war. Nur ein Jahr war verstrichen, seitdem der Reformator seine Sätze an die Schloßkirche angeschlagen hatte; dennoch hatte die Zahl der Pilger, welche die Kirche bei Anlaß des Allerheiligenfestes besuchten, bedeutend abgenommen. Rom war seiner Anbeter und Opfergaben beraubt worden; aber ihr Platz wurde von einer anderen Klasse eingenommen, die jetzt nach Wittenberg kam - nicht etwa Pilger, um hier Reliquien zu verehren, sondern Studenten, um die Lehrsäle zu füllen. Luthers Schriften hatten überall ein neues Verlangen nach der Heiligen Schrift wachgerufen, und nicht nur aus allen Teilen Deutschlands, sondern auch aus anderen Ländern strömten Studenten der Universität zu. Jünglinge, die zum ersten Male der Stadt Wittenberg ansichtig wurden, „erhoben die Hände gen Himmel, lobten Gott, daß er wie einst in Zion dort das Licht der Wahrheit leuchten lasse und es in die fernsten Lande schicke.“ (Scultet. Annal. 1, 17.)
Luther war erst teilweise von den Irrtümern Roms bekehrt. Als er aber Gottes Wort mit den päpstlichen Erlassen verglich, schrieb er voll Erstaunen: „Ich gehe die Dekrete der Päpste für meine Disputation durch und bin - ich sage dir's ins Ohr - ungewiß, ob der Papst der Antichrist selbst ist oder ein Apostel des Antichristen; elendiglich wird Christus, d. h. die Wahrheit von ihm in den Dekreten gekreuzigt.“ (L. W., St. L., Bd. 21a, S 156; März 13, 1519.) Noch immer war Luther ein Anhänger der römischen Kirche und dachte nicht daran, sich von ihrer Gemeinschaft zu trennen.
Die Schriften und Lehren des Reformators gingen zu allen Nationen der Christenheit. Das Werk dehnte sich bis zur Schweiz und nach Holland aus. Abschriften seiner Werke fanden ihren Weg nach Frankreich und Spanien. In England wurden seine Lehren als das Wort des Lebens aufgenommen. Auch nach Belgien und Italien drang die Wahrheit. Tausende erwachten aus ihrem todesähnlichen Schlaf zu der Freude und Hoffnung eines Glaubenslebens.
Rom wurde über die Angriffe Luthers mehr und mehr aufgebracht, und einige seiner fanatischen Gegner, sogar Doktoren katholischer Universitäten, erklärten, daß Luthers Ermordung keine Sünde sei. Eines Tages näherte sich dem Reformator ein Fremder, der eine Pistole unter dem Mantel verborgen hatte und ihn fragte, warum er so allein gehe. „Ich stehe in Gottes Hand,“ antwortete Luther. „Er ist meine Kraft und mein Schild. Was kann mir ein Mensch tun?“ (Neith, Umstände, S. 89; L. W., St. L., Bd. 15, S. 444.) Als der Unbekannte diese Worte hörte, erblaßte er und floh wie vor der Gegenwart himmlischer Engel.
Rom war auf die Vernichtung Luthers erpicht; aber Gott war seine Verteidigung. Seine Lehren wurden überall vernommen, „in Hütten und Klöstern,... in Ritterburgen, in Akademien und königlichen Palästen“; und edle Männer erhoben sich auf allen Seiten, um seine Anstrengungen zu unterstützen.
Um diese Zeit las Luther Hus' Werke, und da er dabei fand, daß auch der böhmische Reformator die große Wahrheit der Rechtfertigung durch den Glauben hochgehalten hatte, schrieb er: „Ich habe unbewußt bisher alle seine Lehren vorgetragen und behauptet... Wir sind Hussiten, ohne es zu wissen; schließlich sind auch Paulus und Augustin bis aufs Wort Hussiten.“ „Ich weiß vor starrem Staunen nicht, was ich denken soll, wenn ich die schrecklichen Gerichte Gottes in der Menschheit sehe, daß die offenkundige evangelische Wahrheit schon über hundert Jahre lang öffentlich verbrannt ist und für verdammt gilt.“ (Ebd., Bd. 21a, S. 239; Febr. 1520.)
In einem Aufruf an den Kaiser und den Adel deutscher Nation zur Besserung des christlichen Standes schrieb Luther über den Papst: „Es ist greulich und erschrecklich anzusehen, daß der Oberste in der Christenheit, der sich Christi Statthalter und Petri Nachfolger rühmt, so weltlich und prächtig fährt, daß ihm darinnen kein König, kein Kaiser mag erlangen und gleich werden ... Gleicht sich das mit dem armen Christo und St. Peter, so ist's ein neu Gleichen.“ „Sie sprechen, er sei ein Herr der Welt. Das ist erlogen. Denn Christus, des Statthalter und Amtmann er sich rühmet, sprach vor Pilato: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Es kann je kein Statthalter weiter regieren, denn sein Herr“. (L. W., Erl. Bd. 21, S. 292. 293. 350. 351. Siehe auch D'Aubigné, 6. Buch, 3. Kap., S. 77, Stuttgart, 1848.)
Von den Universitäten schrieb er folgendes: „Ich habe große Sorge, die hohen Schulen seien große Pforten der Hölle, so sie nicht emsiglich, die Heilige Schrift üben und treiben ins junge Volk.“ „Wo aber die Heilige Schrift nicht regiert, da rate ich fürwahr niemand, daß er sein Kind hin tue. Es muß verderben alles, was nicht Gottes Wort ohne Unterlaß treibt.“ D'Aubigné, ebd., S. 81 .)
Dieser Aufruf verbreitete sich mit Windesschnelle über ganz Deutschland und übte einen mächtigen Einfluß auf das Volk aus. Die ganze Nation war in Aufregung, und ganze Scharen wurden angetrieben, sich um die Fahne der Reformation zu sammeln. Luthers Gegner, voller Rachegelüste, drangen in den Papst, entscheidende Maßregeln gegen ihn zu treffen. Es wurde beschlossen, daß seine Lehren sofort verdammt werden sollten. Sechzig Tage wurden dem Reformator und seinen Anhängern gewährt, nach welcher Zeit alle, falls sie nicht widerriefen, aus der Gemeinschaft der Kirche ausgeschlossen werden sollten.
Dies war die Zeit einer großen Entscheidung für die Reformation. Jahrhundertelang hatte Roms Richterspruch des Kirchenbanns mächtigen Monarchen Schrecken eingeflößt, hatte gewaltige Reiche mit Elend und Verwüstung erfüllt. Alle, auf die sein Fluch fiel, wurden allgemein mit Furcht und Entsetzen angesehen; sie wurden von dem Verkehr mit ihren Genossen ausgeschlossen und als Geächtete behandelt, die man hetzen müsse, bis sie ausgerottet seien. Luther war nicht blind für den auf ihn losbrechenden Sturm; aber er stand fest, vertrauend, daß Christus sein Helfer und sein Schirm sei. Mit dem Glauben und Mut eines Märtyrers schrieb er: „Wie soll es werden? Ich bin blind für die Zukunft und nicht darum besorgt sie zu wissen. ... Wohin der Schlag fällt, wird mich ruhig lassen. ... Kein Baumblatt fällt auf die Erde ohne den Willen des Vaters, wieviel weniger wir. ... Es ist ein geringes, daß wir um des Worts willen sterben oder umkommen, da er selbst im Fleisch zuerst für uns gestorben ist. Also werden wir mit demselben aufstehen, mit welchem wir umkommen und mit ihm durchgegangen, wo er zuerst durchgegangen ist, daß wir endlich dahin kommen, wohin er auch gekommen ist und bei ihm bleiben ewiglich.“ (L. W., St. L., Bd. 15, S. 299; 1. Okt. 1529. Siehe auch D'Aubigné, 6. Buch, 9. Kap., S. 113, Stuttgart, 1848.)
Als die Bulle Luther erreichte, schrieb er: „Endlich ist die römische Bulle mit Eck angekommen. ... Ich verlache sie nur und greife sie jetzt als gottlos und lügenhaft ganz Eckianisch an. Ihr seht, daß Christus selbst darin verdammt werde. .... Ich freue mich aber doch recht herzlich, daß mir um der besten Sache willen Böses widerfahre. ... Ich bin nun viel freier, nachdem ich gewiß weiß, daß der Papst als der Antichrist und des Satans Stuhl offenbarlich erfunden sei.“ (L. W., ebd., S. 1475; 12. Okt. 1520.)
Doch das Urteil Roms blieb nicht wirkungslos. Gefängnis, Folter und Schwert erwiesen sich als mächtige Waffen, um den Gehorsam zu erzwingen. Schwache und Abergläubische erzitterten vor dem Erlaß des Papstes. Während man allgemeine Teilnahme für Luther bekundete, schätzten doch viele ihr Leben als zu kostbar, um es für die Reformation zu wagen. Alles deutete darauf hin, daß das Werk des Reformators sich seinem Abschluß nahe.
Luther verblieb aber noch immer furchtlos. Rom hatte seine Bannflüche gegen ihn geschleudert, und die Welt schaute zu in der sicheren Erwartung, daß er verderben oder sich unterwerfen müsse. Doch mit einer schrecklichen Gewalt schleuderte er das Verdammungsurteil auf seinen Urheber zurück und erklärte öffentlich seinen Entschluß, auf immer mit Rom zu brechen. In Gegenwart einer Menge Studenten, Gelehrten und Bürgersleuten jeglichen Ranges verbrannte Luther die päpstliche Bulle, auch die Dekretalien und andere Schriftstücke seiner Gegner, welche Roms Macht unterstützten. Er begründete sein Vorgehen mit den Worten: „Dieweil durch ihr solch Bücherverbrennen der Wahrheit einen großen Nachteil und bei dem schlechten, gemeinen Volke ein Wahn dadurch erfolgen möchte zu vieler Seelen Verderben, habe ich... der Widersacher Bücher wiederum verbrannt.“ „Es sollen diese ein Anfang des Ernstes sein; denn ich bisher doch nur gescherzt und gespielt habe mit des Papstes Sache. Ich habe es in Gottes Namen angefangen; hoffe, es sei an der Zeit, daß es auch in demselben ohne mich sich selbst ausführe.“ (L. W., Erl., Bd. 24, S. 153. 162.)
Auf die Vorwürfe seiner Feinde, welche ihn mit der Schwäche seiner Sache stichelten, erwiderte Luther: „Wer weiß, ob mich Gott dazu berufen und erweckt hat und ihnen zu fürchten ist, daß sie nicht Gott in mir verachten.“ „Mose war allein im Ausgang von Ägypten, Elia allein zu König Ahabs Zeiten, Elisa auch allein nach ihm; Jesaja war allein in Jerusalem. ... Hesekiel allein zu Babylon.“ „Dazu hat er noch nie den obersten Priester oder andere hohe Stände zu Propheten gemacht; sondern gemeiniglich niedrige, verachtete Personen auferweckt, auch zuletzt den Hirten Amos. ... Also haben die lieben Heiligen allezeit wider die Obersten, Könige, Fürsten, Priester, Gelehrten predigen und schelten müssen, den Hals daran wagen und lassen.“ „Ich sage nicht, daß ich ein Prophet sei; ich sage aber, daß ihnen so vielmehr zu fürchten ist, ich sei einer,... so bin ich jedoch gewiß für mich selbst, daß das Wort Gottes bei mir und nicht bei ihnen ist.“ (Ebd., S. 55. 56.)
Es geschah jedoch nicht ohne einen schrecklichen inneren Kampf, daß sich Luther zu einer schließlichen Trennung von Rom entschloß. Ungefähr um diese Zeit schrieb er: „Ich empfinde täglich bei mir, wie gar schwer es ist, langwährige Gewissen, und mit menschlichen Satzungen gefangen, abzulegen. 0 wie mit viel großer Mühe und Arbeit, auch durch gegründete heilige Schrift, habe ich mein eigen Gewissen kaum können rechtfertigen, daß ich einer allein wider den Papst habe dürfen auftreten, ihn für den Antichrist halten. ... Wie oft hat mein Herz gezappelt, mich gestraft, und mir vorgeworfen ihr einig stärkstes Argument: Du bist allein klug? Sollten die anderen alle irren, und so eine lange Zeit geirrt haben? Wie, wenn du irrst und so viele Leute in den Irrtum verführest, welche alle ewiglich verdammt würden? Bis so lang, daß mich Christus mit seinem einigen gewissen Wort befestigt und bestätigt hat, daß mein Herz nicht mehr zappelt.“ (Ebd., Bd. 53, S. 93. 94. Siehe auch Martyn, Leben und Zeiten Luthers, S - 372. 373 .)
Der Papst hatte Luther den Kirchenbann angedroht, falls er nicht widerrufen wollte, und die Drohung wurde jetzt ausgeführt. Eine neue Bulle erschien, welche die schließliche Trennung des Reformators von der römischen Kirche ankündigte, ihn als vom Himmel verflucht erklärte und in dieselbe Verdammung alle einschloß, die seine Lehren annehmen würden. Der große Kampf war völlig angetreten worden.
Widerstand ist das Schicksal aller, welche Gott benutzt, um Wahrheiten, welche eine besondere Anwendung auf ihre Zeit haben, zu verkündigen. Es gab eine gegenwärtige Wahrheit in den Tagen Luthers - eine Wahrheit, die zu jener Zeit von besonderer Wichtigkeit war; es gibt auch eine gegenwärtige Wahrheit für die heutige Kirche. Ihm, der alles nach dem Rat seines Willens vollzieht, hat es gefallen, die Menschen in verschiedene Verhältnisse zu bringen und ihnen Pflichten aufzuerlegen, die der Zeit, in der sie leben, und den Umständen, in denen sie sich befinden, entsprechen. Würden sie das ihnen verliehene Licht wertschätzen, so würde ihnen auch die Wahrheit in größerem Maße offenbart werden. Aber die Mehrzahl begehrt die Wahrheit heutzutage ebensowenig wie damals die Römlinge, die Luther widerstanden. Es besteht noch heute dieselbe Neigung, menschliche Theorien und Überlieferungen, anstatt des Wortes Gottes anzunehmen wie in früheren Zeiten. Die, welche die Wahrheit für diese Zeit bringen, dürfen nicht erwarten, eine günstigere Aufnahme zu finden als die früheren Reformatoren. Der große Kampf zwischen Wahrheit und Irrtum, zwischen Christo und Satan, wird bis zum Schluß der Geschichte dieser Welt an Heftigkeit zunehmen.
Jesus sagte zu seinen Jüngern: „Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb; weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich habe euch von der Welt erwählt, darum haßt euch die Welt. Gedenket an mein Wort, das ich euch gesagt habe: 'Der Knecht ist nicht größer, denn sein Herr.' Haben sie mich verfolgt, sie werden euch auch verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so werden sie eures auch halten.“ (Joh. 15, 19.20.) Anderseits erklärte unser Heiland deutlich: „Wehe euch, wenn euch jedermann wohl redet! Desgleichen taten ihre Väter den falschen Propheten auch.“ (Luk. 6, 26.) Der Geist der Welt steht heute nicht mehr in Übereinstimmung mit dem Geiste Christi als in früheren Zeiten; und wer das Wort Gottes in seiner Reinheit verkündigt, wird heute nicht willkommener sein als damals. Die Art und Weise des Widerstands gegen die Wahrheit mag sich verändern, die Feinschaft mag weniger offen sein, weil sie verschlagener ist; aber die nämliche Feindschaft besteht noch und wird sich bekunden bis zum Ende der Zeit.


 
KAPITEL 8

LUTHER VOR DEM REICHSTAG

Ein neuer Kaiser, Karl V., hatte den Thron Deutschlands bestiegen, und die römischen Legaten beeilten sich, ihre Glückwünsche darzubringen und den Monarchen zu bewegen, seine Macht gegen die Reformation anzuwenden. Auf der anderen Seite ersuchte ihn der Kurfürst von Sachsen, dem der Kaiser zum großen Teil seine Krone verdankte, keine Schritte gegen Luther zu unternehmen, bevor er ihm Gehör verliehen hätte. Der Kaiser sah sich auf diese Weise in eine sehr schwierige Lage versetzt. Die Römlinge würden mit nichts Geringerem als einem kaiserlichen Erlaß, der Luther zum Tode verurteilte, zufrieden sein. Der Kurfürst hatte bestimmt erklärt, ihm sei weder von kaiserlicher Majestät noch von sonst jemand nachgewiesen worden, daß Luthers Schriften widerlegt seien; er verlange deshalb, daß Luther unter sicherem Geleite vor gelehrten, frommen und unparteiischen Richtern erscheine. (Köstlin, Luther, S. 365f., 398; Elberf., 1883.)
Die Aufmerksamkeit aller Parteien wurde nun auf die Versammlung der deutschen Staaten gerichtet, welche kurz nach dem Karl den kaiserlichen Thron bestiegen hatte, in Worms tagte. Wichtige politische Fragen und Gegenstände sollten auf dieser Nationalberatung erörtert werden; zum ersten Mal sollten die deutschen Fürsten ihrem jugendlichen Monarchen auf einer Ratsversammlung begegnen. Aus allen Teilen des Vaterlandes hatten sich die Würdenträger der Kirche und des Staates eingefunden. Weltliche Herren vom Adel, gewaltig und eifersüchtig auf ihre Erbrechte; Kirchenfürsten, stolz in dem Bewußtsein ihrer Überlegenheit in Rang und Macht; galante Ritter und ihr bewaffnetes Gefolge; Gesandte von fremden und fernen Ländern - alle versammelten sich in Worms. Und auf dieser ungeheuren Versammlung war der Gegenstand, der die größte Aufmerksamkeit erregte, die Sache des sächsischen Reformators
Karl hatte zuvor den Kurfürsten angewiesen, Luther mit sich auf den Reichstag zu bringen; er hatte ihm des Schutzes versichert und ihm eine freie Erörterung mit maßgebenden Personen zugesagt, um die strittigen Punkte zu besprechen. Luther wartete mit Spannung auf sein Erscheinen vor dem Kaiser. Seine Gesundheit hatte zu jener Zeit sehr gelitten; doch schrieb er an den Kurfürsten: „Ich werde, wenn man mich ruft, kommen, so weit an mir liegt, ob ich mich auch krank müßte hinfahren lassen, denn man darf nicht zweifeln, daß ich vom Herrn gerufen werde, wenn der Kaiser mich ruft. Greifen sie zur Gewalt, wie es wahrscheinlich ist - denn dazu, um belehrt zu werden, lassen sie mich nicht rufen -, so muß man dem Herrn die Sache befehlen; dennoch lebt und regiert derselbige, der die drei Knaben im Feuerofen des Königs von Babylon erhalten hat. Will er mich nicht erhalten, so ist's um meinen Kopf eine geringe Sache,... man muß nur dafür sorgen, daß wir das Evangelium, das wir begonnen, den Gottlosen nicht zum Spott werden lassen,... wir wollen lieber unser Blut dafür vergießen. Wir können nicht wissen, ob durch unser Leben oder unsern Tod dem allgemeinen Wohle mehr genützt werde; ... nimm von mir alles, nur nicht, daß ich fliehe oder widerrufe: fliehen will ich nicht, widerrufen noch viel weniger.“ (L. W., St. L., B d - 15, S. 1885f ., Dez. 21. 1520.)
Als sich zu Worms die Nachricht verbreitete, daß Luther vor dem Reichstag erscheinen sollte, rief sie eine allgemeine Aufregung hervor. Aleander, der päpstliche Gesandte, dem der Fall besonders anvertraut worden war, geriet in Unruhe und Wut. Er sah, daß die Folgen für die päpstliche Sache verhängnisvoll werden würden. Eine Untersuchung anzustellen in einem Falle, in welchem der Papst bereits das Verdammungsurteil ausgesprochen hatte, hieße die Autorität des unumschränkten Priesterfürsten geringschätzen. Auch befürchtete er, daß die beredten und gewaltigen Beweisführungen dieses Mannes viele der Fürsten von der Sache des Papstes abwendig machen könnten. Er erhob deshalb vor Karl auf die dringlichste Weise Einwendungen gegen das Erscheinen Luthers in Worms. Ungefähr um diese Zeit wurde die Bulle, welche Luthers Ausschließung erklärte, veröffentlicht, und dies, zusammen mit den Vorstellungen des Legaten, veranlaßte den Kaiser, nachzugeben. Er schrieb dem Kurfürsten, daß, wenn Luther nicht widerrufen wolle, er zu Wittenberg bleiben müsse.
Nicht zufrieden mit diesem Siege wirkte Aleander mit aller ihm zu Gebote stehenden Macht und Schlauheit daraufhin, Luthers Verurteilung zu erreichen. Mit einer Beharrlichkeit, die einer besseren Sache würdig gewesen wäre, lenkte er die Aufmerksamkeit der Fürsten, Prälaten und anderer Mitglieder der Versammlung auf die Sache, indem er den Reformator des Aufstandes, der Empörung, Gottlosigkeit und Gotteslästerung anschuldigte. Aber die Heftigkeit und Leidenschaft, welche der Legat an den Tag legte, zeigten nur zu deutlich, von welchem Geist er getrieben wurde. Man fühlte allgemein, „es sei mehr Neid und Rachelust als Eifer der Frömmigkeit, die ihn aufreizten.“ (Cochlaeus J., „De actis et scriptis M. Lutheri,“ S. 27-29, Paris, 1565.) Die Mehrzahl der Reichsstände war geneigter als je, Luthers Sache günstig zu beurteilen.
Mit doppeltem Eifer drang Aleander in den Kaiser, daß es seine Pflicht sei, die päpstlichen Erlasse auszuführen. Dies konnte jedoch unter den bestehenden deutschen Gesetzen nicht ohne die Zustimmung der Fürsten getan werden; und schließlich der Zudringlichkeit des Legaten unterliegend, gestattete ihm Karl, seine Sache vor den Reichstag zu bringen. „Es war ein stolzer Tag für den Nuntius. Die Versammlung war groß; noch größer war die Sache. Aleander sollte für Rom, die Mutter und Herrin aller Kirchen, das Wort führen.“ Er sollte vor den versammelten Machthabern der Christenheit das Fürstentum Petri rechtfertigen. „Er hatte die Gabe der Beredsamkeit und zeigte sich der Erhabenheit des Anlasses gewachsen. Die Vorsehung wollte es, daß Rom vor dem erlauchtesten Tribunal erscheinen und seine Sache durch den begabtesten seiner Redner vertreten werden sollte, ehe es verdammt würde.“ (Wylie, History of Protestantism, 6. Buch, 4. Kap.)
Mit Besorgnis sahen die Gönner des Reformators der Wirkung der Rede Aleanders entgegen. Der Kurfürst von Sachsen war nicht zugegen, doch wohnten nach seiner Bestimmung etliche seiner Räte bei, um die Ansprache des Nuntius zu berichten.
Aleander bot alle Gelehrsamkeit und Beredsamkeit auf, die Wahrheit zu stürzen. Beschuldigung auf Beschuldigung schleuderte er gegen Luther als einen Feind der Kirche und des Staates, der Lebenden und der Toten, der Geistlichkeit und der Laien, der Konzilien und der einzelnen Christen. Er sagte, in Luthers Schriften seien so viele Irrtümer, daß hunderttausend Ketzer ihrethalben verbrannt werden könnten.
Zum Schluß versuchte er, die Anhänger der Reformation verächtlich zu machen. „Wie viel zahlreicher, gelehrter und an jenen Gaben, welche im Wettstreit den Ausschlag geben, überlegener ist doch die katholische Partei! Die berühmtesten Universitäten haben Luther verurteilt. Wer dagegen sind diese Lutheraner? Ein Haufe unverschämter Grammatiker, verderbter Priester, unordentlicher Mönche, unwissender Advokaten, entarteter Adeliger und verführten Pöbels. Ein einstimmiger Beschluß dieser erlauchten Versammlung wird die Einfältigen belehren, die Unklugen warnen, die Schwankenden befestigen und die Schwachen kräftigen.“ (Pallavicini, 1. Buch, 25. Kap., S. 111.)
Mit solchen Waffen sind die Verteidiger der Wahrheit zu jeder Zeit angegriffen worden. Dieselben Beweise werden noch immer gegen alle vorgebracht, welche es wagen, im Gegensatz zu den eingebürgerten Irrtümern die klaren und deutlichen Lehren des Wortes Gottes zu zeigen. Wer sind diese Prediger neuer Lehren? Rufen diejenigen aus, welche eine volkstümliche Religion begehren. Es sind Ungebildete, gering an Zahl und aus dem ärmeren Stande; doch behaupten sie, die Wahrheit zu haben und das auserwählte Volk Gottes zu sein. Sie sind unwissend und betrogen. Wieviel steht unsere Kirche an Zahl und Einfluß über ihnen! Wie viele gelehrte und große Männer sind in unseren Reihen, wieviel mehr Macht auf unserer Seite! Dies sind Beweise, welche einen entscheidenden Einfluß auf die Welt haben, aber jetzt nicht folgerichtiger sind als in den Tagen des Reformators.
Die Reformation endete nicht mit Luther, wie viele annehmen; sie muß bis zum Ende der Geschichte dieser Welt fortgesetzt werden. Luthers großes Werk bestand darin, das Licht, das Gott auf ihn scheinen ließ, auf andere widerstrahlen zu lassen; doch hatte er nicht alles Licht empfangen, welches der Welt mitgeteilt werden sollte. Von jener Zeit an bis heute hat ununterbrochen neues Licht auf die Heilige Schrift geschienen, und neue Wahrheiten sind seither beständig enthüllt worden.
Die Ansprache des Legaten machte einen tiefen Eindruck auf den Reichstag. (Hefele, Konziliengesch., Bd. 9, S. 202.) Kein Luther war zugegen, um den päpstlichen Kämpfer mit den klaren und überzeugenden Wahrheiten des Wortes Gottes zu überwinden. Kein Versuch wurde gemacht, den Reformator zu verteidigen. Man war allgemein geneigt, nicht nur ihn und seine Lehren zu verdammen, sondern womöglich auch die Ketzerei selbst auszurotten. Rom hatte die günstigste Gelegenheit gehabt, seine Sache zu verteidigen. Alles, was es zu seiner Rechtfertigung sagen konnte, war gesagt worden. Aber der scheinbare Sieg war das Zeichen der Niederlage. Künftighin sollte der Gegensatz zwischen Wahrheit und Irrtum deutlicher erkannt werden, da sie sich im offenen Kampfe messen sollten. Von jenem Tage an sollte Rom nie mehr so sicher stehen, wie es gestanden hatte.
Während die meisten Mitglieder des Reichstages nicht gezögert haben würden, Luther der Rache Roms zu übergeben, sahen und beklagten viele die in der Kirche bestehende Verderbtheit und wünschten eine Unterdrückung der Mißbräuche, welche das deutsche Volk infolge der Verkommenheit und der Gewinnsucht der Priesterherrschaft dulden mußte. Der Legat hatte die päpstliche Herrschaft im günstigsten Lichte dargestellt. Nun bewog der Herr ein Mitglied des Reichstages, die Wirkung der päpstlichen Gewaltherrschaft wahrheitsgetreu zu schildern. Mit edler Entschiedenheit erhob sich Herzog Georg von Sachsen in jener fürstlichen Versammlung und beschrieb mit unerbittlicher Genauigkeit die Betrügereien und Greuel des Papsttums und dessen schlimme Folgen. Zum Schluß sagte er: „Da ist keine Scham in Herausstreichung und Erhebung des Ablasses, man suchet nur, daß man viel Geld zusammenbringe; also geschieht, daß die Prediger, welche die Wahrheit lehren sollten, nichts als Lügen und Betrug den Leuten vorschwatzen. Das duldet man und diesen Leuten lohnet man, weil je mehr Geld in den Kasten kommt, je mehr die Leute beschwatzt werden. Aus diesem verderbten Brunnen fließt ein groß Ärgernis in die Bäche heraus,... plagen die Armen mit Bußen ihrer Sünden wegen, verschonen die Reichen, übergehen die Priester. ... Daher nötig ist eine allgemeine Reformation anzustellen, welche nicht füglicher als in einem allgemeinen Konzil zu erhalten ist; darum bitten wir alle solches mit höchstem Fleiß zu fördern.“ (Seckendorf , Commentarius, 1. Buch, 37. Absch.)
Luther selbst hätte die Mißbräuche Roms nicht klarer und eindrücklicher vorführen können. Die Tatsache aber, daß der Redner ein entschlossener Feind des Reformators war, verlieh seinen Worten desto mehr Einfluß.
Wären den Versammelten die Augen geöffnet worden, so würden sie Engel Gottes in ihrer Mitte erblickt haben, welche durch die Finsternis des Irrtums Strahlen des Lichts ergossen und Gemüter und Herzen für die Wahrheit empfänglich machten. Selbst die Gegner der Reformation wurden von der Macht des Gottes der Wahrheit und Weisheit beeinflußt, und auf diese Weise wurde der Weg für das große Werk, das nun vollbracht werden sollte, bereitet. Martin Luther war nicht zugegen; aber man hatte die Stimme eines Größeren als Luther in jener Versammlung gehört.
Sofort wurde von dem Reichstag ein Ausschuß bestimmt, um eine Liste der päpstlichen Mißbräuche, die so schwer auf dem deutschen Volk lasteten, aufzustellen. Dies Verzeichnis, welches 101 Beschwerden enthielt, wurde dem Kaiser mit dem Gesuch unterbreitet, unmittelbare Schritte zur Beseitigung dieser Mißbräuche tun zu wollen. „Es gehen so viele Seelen verloren,“ sagten die Bittenden, „so viele Räubereien, Bestechungen finden statt, weil das geistliche Oberhaupt der Christenheit sie gestattet. Es muß dem Untergang und der Schande unseres Volkes vorgebeugt werden. Wir bitten euch untertänigst und inständigst, dahin zu wirken, daß eine Besserung und gemeine Reformation geschehe.“ (Kapp, Nachlese ref. Urkunden, Bd. 3, S. 275.)
Die Reichsstände drangen auf das Erscheinen Luthers. Ungeachtet aller Bitten, Einwände und Drohungen Aleanders willigte der Kaiser schließlich doch ein, und Luther wurde aufgefordert, vor dem Reichstage zu erscheinen. Mit der Aufforderung wurden ihm auch die nötigen Geleitbriefe ausgestellt, die ihm auch seine Rückkehr nach einem sicheren Ort verbürgten. (Der Herzog Georg von Sachsen, der Kurfürst und auch der Kaiser stellten Geleitbriefe aus. Siehe L., W., Erl. Bd. 3, S. 406. 409. 412.) Ein Herold, der beauftragt war, ihn sicher nach Worms zu bringen, überbrachte die Briefe nach Wittenberg.
Freunde Luthers wurden von Schrecken und Bestürzung ergriffen. Sie kannten das Vorurteil und die gegen ihn herrschende Feindschaft und befürchteten, daß selbst das Sicherheitsgeleite nicht beachtet und sein Leben gefährdet werden möchte. Auf ihr Bitten, davon abzustehen, erwiderte er einem, die Römlinge wollten ihn nicht in Worms sehen, doch „ich schreibe auch jetzt und bitte dich, bete nicht für mich, sondern für das Wort Gottes. Jener Widersacher Christi setzt alle Kräfte ein, mich zu verderben. Der Wille Gottes geschehe! Christus wird mir seinen Geist geben, daß ich diese Widersacher des Satans verachte im Leben, besiege im Tode. ... Sie arbeiten, daß ich viele Artikel widerrufe; aber mein Widerruf wird also lauten: Ich habe früher gesagt, der Papst sei der Statthalter Christi, jetzt widerrufe ich und sage, der Papst ist der Widersacher Christi und der Apostel des Teufels.“ (L. W., St. L., Bd. 20a, S. 345; 24. März 1521.)
Luther sollte seine gefahrvolle Reise nicht allein machen. Außer dem kaiserlichen Boten hatten sich drei seiner treuesten Freunde entschlossen, ihn zu begleiten. Es verlangte Melanchthon herzlich, sich ihnen anzuschließen. Sein Herz hing an Luther, und er sehnte sich, ihm zu folgen, wenn es sein müsse ins Gefängnis oder in den Tod. Seine Bitten wurden jedoch abgeschlagen. Sollte Luther umkommen, so ruhte die Hoffnung der Reformation allein auf seinem jugendlichen Mitarbeiter.
Unterwegs nahmen sie wahr, daß die Gemüter des Volkes von düsteren Vorahnungen beschwert waren. In einigen Städten erwies man ihnen keine Ehrenbezeigung. Als sie übernachteten, gab ein freundlich gesinnter Priester seinen Befürchtungen Ausdruck, indem er Luther das Bild eines italienischen Reformators, der den Tod erlitten hatte, zeigte. (Das Bild Savonarolas wurde ihm in Naumburg gezeigt.) Am andern Tage erfuhren sie, daß seine Schriften zu Worms verdammt worden seien. Boten verkündigten des Kaisers Erlaß und forderten jedermann auf, die geächteten Bücher den Behörden auszuliefern. Der Herold, der um Luthers Sicherheit auf dem Reichstag bekümmert war und befürchtete, sein Entschluß könnte dadurch erschüttert sein, fragte: „Herr Doktor, wollt ihr fortziehen? Da antwortete ich: Ja, unangesehen daß man mich hätte in Bann getan und das in allen Städten veröffentlicht, so wollt ich doch fortziehen.“ (L. W., Erl. Bd. 64, S. 367.)
In Erfurt wurde Luther mit großen Ehren empfangen. Von der bewundernden Menge umgeben, durchschritt er die Straßen, die er oft mit seinem Bettelsack durchzogen hatte. Er besuchte seine Klosterzelle und gedachte der Kämpfe, durch welche das nun über Deutschland strömende Licht auch über seine Seele sich ergossen hatte. Man nötigte ihn zum Predigen. Zwar war ihm dies verboten, aber der Herold gestattete es. Der Mönch, der einst im Kloster jedermanns Handlanger gewesen war, bestieg jetzt die Kanzel.
Zu einem überfüllten Hause predigte er über die Worte Christi: „Friede sei mit euch!“ und „zeigte ... ihnen die Hände und seine Seite.“ „Ihr wisset auch, daß alle Philosophen, Doktoren und Scribenten sich beflissen zu lehren und schreiben, wie sich der Mensch der Frömmigkeit halten soll, haben sich des sehr bemüht, aber wie man sieht, wenig ausgerichtet.“ „Denn Gott, der hat auserwählet einen Menschen, den Herrn Jesum Christ, daß der soll den Tod zerknirschen, die Sünde zerstören und die Hölle zerbrechen,... also daß wir durch seine Werke, die uns fremd sind, und nicht mit unsern Werken selig werden.“ „Unser Herr Christus hat gesagt: Habt Frieden und sehet meine Hände. Sieh, Mensch, ich bin der allein, der deine Sünde hat hinweg genommen, der dich erlöste. Nun habe Frieden.“
„So soll ein jeglicher Mensch sich besinnen und denken, daß wir uns nicht helfen können, sondern Gott, auch daß unsere Werke gar gering sind: so haben wir den Frieden Gottes; und ein jeglicher Mensch soll sein Werk also schicken, daß ihm nicht allein nutz sei, sondern auch einem andern, seinem Nächsten. Ist er reich, so soll sein Gut den Armen nutz sein; ist er arm, soll sein Verdienst den Reichen zu gut kommen... dann wann du merkst, daß du deinen Nutzen allein schaffst, so ist dein Dienst falsch.“ (Ebd., Bd. 16, S. 251f.)
Das Volk lauschte seinen Worten wie gebannt. Das Brot des Lebens wurde jenen hungernden Seelen gebrochen. Christus wurde vor ihnen über Papst, Legat, Kaiser und König erhoben. Luther machte keine Andeutungen auf seine gefährliche Lage. Er suchte sich nicht zum Gegenstand der Gedanken oder des Mitgefühls zu machen. In der Betrachtung Christi hatte er sich selbst ganz aus den Augen verloren. Er verbarg sich hinter dem Schmerzensmann von Golgatha und trachtete nur danach, Jesum als den Erlöser des Sünders darzustellen.
Auf der Weiterreise betrachtete das Volk den Reformator mit der größten Teilnahme. Eine neugierige Menge drängte sich überall um ihn, und freundschaftliche Stimmen warnten ihn vor den Absichten der Römlinge. Einige sagten: Man wird dich verbrennen wie den Hus. Luther antwortete: Und wenn sie gleich ein Feuer machten, das zwischen Wittenberg und Worms bis an den Himmel reicht, weil es aber gefordert wäre, so wollte er doch im Namen des Herrn erscheinen und dem Behemoth zwischen seine großen Zähne treten und Christum bekennen und denselben walten lassen. (Ebd., Walch, Bd. 15, S. 2172. 2173.)
Die Kunde, daß Luther sich Worms nähere, rief große Aufregung hervor. Seine Freunde zitterten für seine Sicherheit; seine Feinde fürchteten um den Erfolg ihrer Sache. Ernste Anstrengungen wurden gemacht, ihm von seinem Eintritt in die Stadt abzuraten. Auf Anstiften der Römlinge drang man in ihn, sich auf das Schloß eines befreundeten Ritters zu begeben, wo nach ihrer Darstellung dann alle Schwierigkeiten auf freundschaftlichem Wege beigelegt werden könnten. Freunde bestrebten sich, ihm durch Vorhalten der ihm drohenden Gefahr Furcht einzuflößen. Alle Bemühungen blieben nutzlos. Luther wankte nicht, sondern schrieb: Er wollte gen Worms, wenngleich so viel Teufel drinnen wären, als immer Ziegel auf ihren Dächern! (L. W., St. L., Bd. 15, S. 1828; April 1521.)
Bei seiner Ankunft in Worms war die Zahl derer, welche sich den Toren zudrängten, ihn zu bewillkommnen, sogar noch größer als beim Einzug des Kaisers. Es herrschte eine ungeheure Erregung, und aus der Mitte der Volksmenge sang eine durchdringende, klagende Stimme ein Grablied, um Luther vor dem bevorstehenden Schicksal zu warnen. „Gott wird mit mir sein,“ sprach er mutig beim Verlassen des Wagens.
Die Anhänger des Papstes hatten nicht erwartet, daß Luther es doch noch wagen würde, in Worms zu erscheinen, und seine Ankunft bestürzte sie aufs äußerste. Der Kaiser rief sofort seine Räte zusammen, um das einzuschlagende Verfahren zu erwägen. Einer der Bischöfe, ein fester Anhänger Roms, erklärte: „Wir haben uns schon lange darüber beraten. Kaiserliche Majestät möge diesen Mann beiseite tun und ihn umbringen lassen. Sigismund hat den Johann Hus ebenso behandelt; einem Ketzer braucht man kein Geleit zugeben oder zu halten.’ Karl verwarf diesen Vorschlag, man müsse halten, was man versprochen habe. Der Reformator solle also vorgeladen werden.“ D'Aubigné, 7. Buch, 8. Kap., S. 195, Stuttgart, 1848. Siehe auch Ranke, Reformationsgesch., 1, S. 330f.)
Die ganze Stadt wollte diesen merkwürdigen Mann sehen, und bald füllte sich seine Wohnung mit vielen Besuchern. Luther hatte sich kaum von seiner kürzlichen Krankheit erholt; er war ermüdet von der Reise, die zwei volle Wochen in Anspruch genommen hatte; er mußte sich auf die wichtigen Ereignisse des morgenden Tages vorbereiten und bedurfte der Stille und der Ruhe. Das Verlangen, ihn zu sehen, war jedoch so groß, daß er sich nur einiger Stunden der Stille erfreut hatte, als Edelleute, Ritter, Priester und Bürger sich begierig um ihn sammelten. Unter ihnen waren viele der Edelleute, welche von dem Kaiser so kühn eine Reform der kirchlichen Mißbräuche verlangt hatten, und die, wie sich Luther ausdrückte, „alle durch mein Evangelium frei geworden waren.“ Feinde sowohl als Freunde kamen, um den unerschrockenen Mönch zu sehen, aber er empfing sie mit unerschütterlicher Ruhe und antwortete allen mit Würde und Weisheit. Seine Haltung war fest und mutig; sein bleiches, abgemagertes Gesicht, welches Spuren von Mühe und Krankheit zeigte, trug einen freundlichen, ja sogar freudigen Ausdruck. Die Feierlichkeit und der tiefe Ernst seiner Worte verliehen ihm eine Macht., welcher selbst seine Feinde nicht gänzlich widerstehen konnten. Freunde und Feinde waren voller Bewunderung. Einige waren überzeugt, daß ein göttlicher Einfluß ihn begleite; andere erklärten wie die Pharisäer hinsichtlich Christi: Er hat den Teufel.
Am folgenden Tage wurde Luther aufgefordert, vor dem Reichstag zu erscheinen. Ein kaiserlicher Beamter sollte ihn in den Empfangssaal führen; aber nur mit Mühe erreichte er den Ort. Jeder Zugang war angefüllt mit Beobachtern, die den Mönch sehen wollten, der es gewagt hatte, der Autorität des Papstes zu widerstehen.
Als Luther im Begriff war, vor seine Richter zu treten, sagte ein Feldherr, der Held mancher Schlacht, zu ihm: „Mönchlein, Mönchlein, du gehst jetzt einen Gang, einen Stand zu tun, dergleichen ich und mancher Oberster auch in unsern aller ernstesten Schlachtordnungen nicht getan haben. Bist du auf rechter Meinung und deiner Sache gewiß, so fahre in Gottes Namen fort und sei getrost, Gott wird dich nicht verlassen.“ (Spangenberg, Adelsspiegel Ill,S.54.)
Endlich, stand Luther vor dem Reichstag. Der Kaiser saß auf dem Thron. Er war von den erlauchtesten Persönlichkeiten des Kaiserreichs umgeben. Nie zuvor war je ein Mensch vor einer bedeutsameren Versammlung erschienen als jene war, vor welcher Martin Luther seinen Glauben verantworten sollte. „Die Erscheinung selbst war ein großer Sieg über das Papsttum. Der Papst hatte diesen Mann verurteilt, und dieser Mann stand jetzt vor einem Gericht, welches sich dadurch über den Papst stellte. Der Papst hatte ihn in den Bann getan, von aller menschlichen Gesellschaft ausgestoßen, und er war in ehrenhaften Ausdrücken vorgeladen und erschien vor der höchsten Versammlung der Welt. Der Papst hatte ihm den Mund verschlossen, und er sollte vor Tausenden von Zuhörern aus den verschiedensten Landen der Christenheit reden. So hatte Luther eine gewaltige Revolution durchgesetzt: Rom stieg schon von seinem Thron herab, und das Wort eines Mönches gab die Veranlassung dazu.“ (D'Aubigné, 7. Buch, 8. Abschn., S. 199, Stuttgart, 1848.)
Vor jener gewaltigen und hochadeligen Versammlung schien der in Niedrigkeit geborene Reformator eingeschüchtert und verlegen. Mehrere der Fürsten, die seine Gefühle bemerkten, näherten sich ihm, und einer von ihnen flüsterte: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht mögen töten.“ Ein anderer sagte: „Wenn ihr vor Fürsten und Könige geführt werdet um meinetwillen, wird es euch durch den Geist eures Vaters gegeben werden, was ihr reden sollt.“ (Melanchthon, Leben Luthers, S. 53.) Auf diese Weise wurden Christi Worte von den Großen dieser Erde gebraucht, um Gottes Diener in der Stunde der Prüfung zu stärken.
Luther wurde ein Platz unmittelbar vor dem kaiserlichen Thron angewiesen. Tiefes Schweigen herrschte in der großen Versammlung. Dann erhob sich der vom Kaiser beauftragte Redner und verlangte, indem er auf eine Sammlung von Luthers Schriften hinwies, daß der Reformator zwei Fragen beantworte: ob er die hier vorliegenden Bücher für die seinigen anerkenne oder nicht; und ob er die Ansichten, die er darin vorgebracht hatte, widerrufe.
Nachdem die Titel der Bücher verlesen worden waren, erwiderte Luther, daß er hinsichtlich der ersten Frage jene Bücher für die seinigen annehme und nichts je davon ableugne. Aber was da folge, „weil dies eine Frage vom Glauben und der Seelen Seligkeit sei und das göttliche Wort betreffe, was das höchste sei im Himmel und auf Erden,... da wäre es vermessen und sehr gefährlich, etwas Unbedachtes auszusprechen. Ich könnte ohne vorherige Überlegung leicht weniger behaupten als die Sache erfordere, oder mehr als der Wahrheit gemäß wäre, und durch das eine und andere jenem Urteile Christi verfallen: Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. (Matth. 10, 33.) Deshalb bitte ich von Kaiserlicher Majestät aufs aller untertänigste um Bedenkzeit, damit ich ohne Nachteil für das göttliche Wort und ohne Gefahr für meine Seele dieser Frage genugtue.“ (L. W., Erl., Bd. 64, S. 377f; lat. 37, 5-8.)
Indem Luther dieses Gesuch stellte, handelte er weislich. Sein Benehmen überzeugte die Versammlung, daß er nicht aus Leidenschaft oder bloßem Antrieb handle. Solche Ruhe und Selbstbeherrschung, wie man sie von einem, der sich so kühn und unnachgiebig gezeigt hatte, nicht erwartet hätte, erhöhten Luthers Macht und befähigten ihn nachher, mit einer Vorsicht, Entschiedenheit, Weisheit und Würde zu antworten, daß seine Gegner überrascht und enttäuscht und ihre Anmaßung und ihr Stolz beschämt wurden.
Am nächsten Tage sollte er erscheinen, um seine endgültige Antwort zu geben. Als er die gegen die Wahrheit verbündeten Mächte betrachtete, entfiel ihm für den Augenblick der Mut. Sein Glaube schwankte, Furcht und Zittern ergriffen ihn und Grauen überkam ihn. Die Gefahren vervielfältigten sich vor ihm, seine Feinde schienen im Begriff zu siegen und die Mächte der Finsternis die Oberhand zu gewinnen. Wolken sammelten sich um ihn und drohten, ihn von Gott zu trennen. Er sehnte sich nach der Gewißheit, daß der Herr der Heerscharen mit ihm sei. In seiner Seelennot warf er sich mit dem Angesicht auf die Erde und stieß jene gebrochenen, herzzerreißenden Angstrufe aus, die Gott allein völlig versteht.
Er betete: „Allmächtiger, ewiger Gott! Wie ist es nur ein Ding um die Welt! Wie sperrt sie den Leuten die Mäuler auf! Wie klein und gering ist das Vertrauen der Menschen auf Gott! ... und siehet nur allein bloß an, was prächtig und gewaltig, groß und mächtig ist und ein Ansehen hat. Wenn ich auch meine Augen dahin wenden soll, so ist's mit mir aus, die Glocke ist schon gegossen und das Urteil gefällt. Ach Gott! o du mein Gott, stehe du mir bei wider alle Welt, Vernunft -und Weisheit. Tue du es; du mußt es tun, du allein. Ist es doch nicht meine, sondern deine Sache. Habe ich doch für meine Person hier nichts zu schaffen und mit diesen großen Herren der Welt zu tun. ... Aber dein ist die Sache, Herr, die gerecht und ewig ist. Stehe mir bei, du treuer, ewiger Gott! Ich verlasse mich auf keinen Menschen. Es ist umsonst und vergebens, es hinket alles, was fleischlich ist. ... Hast du mich dazu erwählt? Ich frage dich; wie ich es denn gewiß weiß; Ei, so walt es Gott; ... steh mir bei in dem Namen deines lieben Sohnes Jesu Christi, der mein Schutz und Schirm sein soll, ja meine feste Burg.“ (Ebd., Bd. 64, S. 289f.)
Eine allweise Vorsehung hatte Luther gestattet, seine Gefahr zu erkennen, damit er nicht auf seine eigene Kraft baue und sich vermessen in Gefahr stürze. Es war jedoch nicht die Furcht vor dem eigenen Leiden, nicht die Angst vor der scheinbar direkt vor ihm stehenden Qual oder dem Tod, welche ihn mit ihrem Schrecken überwältigten; er hatte einen entscheidenden Zeitpunkt erreicht und fühlte seine Untüchtigkeit, darin zu bestehen. Die Sache der Wahrheit könnte infolge seiner Schwäche Verlust erleiden. Er rang mit Gott, nicht um seine eigene Sicherheit, sondern um des Sieges des Evangeliums willen. Die Angst und das Ringen seiner Seele glich jenem nächtlichen Kampf Israels am einsamen Bach; wie jener trug auch er den Sieg davon. In seiner gänzlichen Hilflosigkeit klammerte sich sein Glaube an Christum, den mächtigen Befreier. Er wurde durch die Versicherung gestärkt, daß er nicht allein vor dem Reichstag erscheinen sollte; Friede zog wiederum in seine Seele ein, und er freute sich, daß es ihm vergönnt war, das Wort Gottes vor den Herrschern des Volkes empor zuhalten.
Mit festem Gottvertrauen bereitete sich Luther auf den ihm bevorstehenden Kampf vor. Er plante seine Antwort, prüfte etliche Stellen seiner eigenen Schriften und suchte in der Bibel passende Belege zur Unterstützung seiner Behauptungen. Dann gelobte er, seine Linke auf das offen vor ihm liegende heilige Buch legend und seine Rechte zum Himmel erhebend, „dem Evangelium treu zu bleiben und seinen Glauben frei zu bekennen, sollte er ihn auch mit seinem Blute besiegeln.“ (D'Aubigné, Reformationsgesch., Buch 7,S.8.)
Als er wieder vor den Reichstag geführt wurde, trug sein Angesicht keine Spur von Furcht oder Verlegenheit. Ruhig und friedlich, dennoch mutig und edel stand er als Gottes Zeuge unter den Großen der Erde. Der kaiserliche Beamte verlangte nun seinen Entscheid, ob er gewillt sei, seine Lehren zu widerrufen. Luther gab die Antwort in einem unterwürfigen und bescheidenen Ton, ohne Heftigkeit oder Erregung. Sein Benehmen war demütig und ehrerbietig; dennoch offenbarte er eine Zuversicht und eine Freudigkeit, welche die Versammlung überraschte.
Seine Antwort lautete. „Allerdurchlauchtigster, großmächtigster Kaiser, durchlauchtigste Fürsten, gnädigste und gnädige Herren! Auf die Bedenkzeit, mir auf gestrigen Abend ernannt, erscheine ich gehorsam und bitte durch die Barmherzigkeit Gottes eure Kais. Maj. und Gnaden, daß sie wollen, wie ich hoffe, diese Sachen der Gerechtigkeit und Wahrheit gnädiglich zuhören, und so ich von wegen meiner Unerfahrenheit ... wider die höflichen Sitten handle, mir solches zu verzeihen als einen, der nicht an fürstlichen Höfen erzogen, sondern in Mönchswinkeln aufkommen.“ (Luthers Werke, Erl., Bd. 64, S. 378.)
Indem er dann zur Frage überging, erklärte er, daß seine Bücher nicht einerlei Art seien. Einige behandelten den Glauben und die guten Werke, daß auch seine Widersacher sie für nützlich und unschädlich anerkennen müßten. Diese zu widerrufen wäre ein Verdammen der Wahrheiten, welche alle Freunde und Feinde zugleich bekennen. Die zweite Art bestehe aus Büchern, welche die Verderbtheiten und Übeltaten des Papsttums darlegten. Diese Werke zu widerrufen, würde die Gewaltherrschaft Roms nur stärken und würde die Tür für viele und große Gottlosigkeiten noch weiter öffnen. In der dritten Art seiner Bücher habe er einzelne Personen angegriffen, welche bestehende Übelstände verteidigt hätten. Betreffs dieser bekenne er, heftiger gewesen zu sein, als es sich gezieme. Er beanspruche keineswegs fehlerfrei zu sein. Aber auch diese Bücher könne er nicht widerrufen, denn auf diese Weise würden die Feinde der Wahrheit nur noch kühner werden, und sie würden Gelegenheit nehmen, das Volk Gottes mit noch größerer Grausamkeit zu bedrücken.
„Dieweil aber ich ein Mensch und nicht Gott bin, so mag ich meine Büchlein anders nicht verteidigen, denn mein Herr Jesus Christus seine Lehre unterstützt hat: Habe ich übel geredet, so gib Zeugnis vom Übel.“ (Joh. 18, 23.) „Derhalben bitte ich durch die Barmherzigkeit Gottes Eure Kaiserliche Majestät und Gnaden oder aber alle anderen Höchsten und Niedrigen mögen mir Zeugnis geben, mich Irrtums überführen, mich mit prophetischen und evangelischen Schriften überwinden. Ich will auf das Allerwilligste bereit sein, so ich dessen überwiesen werde, alle Irrtümer zu widerrufen und der Allererste sein, meine Bücher in das Feuer zu werfen; aus welchem allen ist, meine ich, offenbar, daß ich genügsam bedacht, erwogen und ermessen habe die Gefahr, Zwietracht, Aufruhr und Empörung, so wegen meiner Lehre in der Welt erwachsen ist. ... Wahrlich mir ist das Liebste zu hören, daß wegen des göttlichen Wortes sich Mißhelligkeit und Uneinigkeit erheben; denn das ist der Lauf, Fall und Ausgang des göttlichen Wortes, wie der Herr selbst sagt: Ich bin nicht gekommen, Frieden zu senden, sondern das Schwert. (Matth. 10, 34.) ... Darum müssen wir bedenken, wie wunderbar und schrecklich unser Gott ist in seinen Gerichten, auf daß nicht das, was jetzt unternommen wird, um die Uneinigkeit beizulegen, hernach, so wir den Anfang dazu mit Verdammung des göttlichen Wortes machen, vielmehr zu einer Sintflut unerträglicher Übel ausschlage; bedenken müssen wir und fürsorgen, daß nicht diesen jungen, edlen Kaiser Karl, von welchem nächst Gott vieles zu hoffen ist, ein unseliger Eingang und ein unglücklich Regiment zuteil werde. Ich könnte dafür reichliche Exempel bringen aus der Heiligen Schrift, von Pharao, vom König zu Babel und von den Königen Israels, welche gerade dann am meisten Verderben sich bereit haben, wenn sie mit den klügsten Reden und Anschlägen ihr Reich zu befrieden und zu befestigen gedachten. Denn der Herr ist's, der die Klugen erhaschet in ihrer Klugheit und die Berge umkehrt, ehe sie es innewerden; darum tut's not, Gott zu fürchten.“ (L. W., Erl., Bd. 64, S. 370. 379-382; lat. Bd. 37, S. 11-13.)
Luther hatte in deutscher Sprache geredet; er wurde nun ersucht, dieselben Worte in lateinischer Sprache zu wiederholen. Wiewohl er durch die frühere Anstrengung erschöpft war, willfahrte er doch der Bitte und trug dieselbe Rede ebenso deutlich und tatkräftig noch einmal vor, so daß ihn alle verstehen konnten. Gottes Vorsehung waltete in dieser Sache. Viele Fürsten waren durch Irrtum und Aberglauben so verblendet, daß sie bei Luthers erster Anrede die Wichtigkeit seiner Gründe nicht klar erfassen konnten; diese Wiederholung aber setzte sie in den Stand, die vorgeführten Punkte nun deutlich zu sehen.
Die, welche ihre Herzen dem Lichte hartnäckig verschlossen und sich geflissentlich nicht von der Wahrheit überzeugen lassen wollten, wurden durch die Macht seiner Worte in Wut versetzt. Als er aufhörte zu reden, mahnte der Redner des Reichs im strafenden Ton, Luther hätte nicht zur Sache geantwortet, und es gebühre sich nicht, hier Verdammungsurteile und Feststellungen von Konzilien in Frage zu ziehen. Luther solle eine schlichte und klare Antwort, geben, ob er widerrufen wolle oder nicht.
Darauf erwiderte der Reformator: „Weil denn Ew. Majestät und die Herrschaften eine einfache Antwort begehren, so will ich eine geben, die weder Hörner noch Zähne hat, dermaßen: wenn ich nicht durch Schriftzeugnisse oder helle Gründe werde überwunden werden, (denn ich glaube weder dem Papst noch den Konzilien allein, weil feststeht, daß sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben), so bin ich überwunden durch die von mir angeführten Schriften und mein Gewissen gefangen in Gottes Worten; widerrufen kann ich nichts und will ich nichts, weil wider das Gewissen zu handeln beschwerlich, unsicher und nicht lauter ist.“ (L. W., Erl., Bd. 64, S. 382.) „Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helf mir. Armen.“ (Ebd., lat., Bd. 37, S. 13.)
Also stand dieser gerechte Mann auf dem sicheren Grunde des göttlichen Wortes. Des Himmels Licht erleuchtete sein Angesicht. Die Größe und Reinheit seines Charakters sowie auch der Friede und die Freude seines Herzens offenbarten sich allen, als er die Macht des Irrtums bloßstellte und die Hoheit jenes Glaubens, der die Welt überwindet, bezeugte.
Die Versammlung staunte über diese kühne Verteidigung. Seine erste Antwort hatte Luther mit gedämpfter Stimme in achtungsvoller, beinahe unterwürfiger Haltung gesprochen. Die Römlinge hatten dies als einen Beweis gedeutet, daß sein Mut zu wanken angefangen habe. Sie betrachteten sein Gesuch um Bedenkzeit nur als einen Vorläufer seiner Widerrufung. Sogar Kaiser Karl, der halb verächtlich die gebeugte Gestalt des Mönches, sein schlichtes Gewand und die Einfachheit seiner Ansprache wahrnahm, hatte erklärt: „Der soll mich nicht zum Ketzer machen.“ Der Mut aber und die Festigkeit, welche Luther nun an den Tag legte, sowohl als auch die Macht und Klarheit seiner Beweisführung, überraschten alle Parteien. Viele deutsche Fürsten blickten mit Stolz und Freude auf diesen Vertreter ihrer Nation.
Die Anhänger Roms waren geschlagen worden, und ihre Sache erschien in einem sehr ungünstigen Licht. Sie suchten nicht etwa dadurch ihre Macht aufrechtzuerhalten, daß sie sich auf die Heilige Schrift beriefen, sondern sie nahmen ihre Zuflucht zu Roms stets benutztem Beweismittel, nämlich zur Drohung. Der Redner des Reiches sagte: „Würde er keinen Widerspruch tun, so würden K. Maj. samt den Fürsten und Ständen des Reiches ratschlagen, wie sie gegen einen solchen Ketzer verfahren sollten.“
Luthers Freunde hatten seiner edlen Verteidigungsrede mit großer Freude gelauscht, doch diese Worte machten sie für seine Sicherheit zittern. Luther selbst aber sagte gelassen: „So helf mir Gott, denn einen Widerruf kann ich nicht tun.“ (L. W., Walch, B. 15, S. 2234. 2235.)
Luther trat aus dem Reichstage ab, damit die Fürsten sich beraten konnten. Man fühlte, daß man vor einem großen Wendepunkt stand. Luthers beharrliche Weigerung, sich zu unterwerfen, könnte die Geschichte der Kirche auf Jahrhunderte hinaus beeinflussen. Es wurde beschlossen, ihm eine weitere Gelegenheit zum Widerruf zu geben. Zum letzten Male wurde er in die Versammlung gebracht. Der Redner des Reichs fragte ihn nochmals im Namen des Kaisers, ob er nicht einen bestimmten Widerruf leisten wolle. Darauf erwiderte er: „Ich weiß keine andere Antwort zu geben wie die bereits vorgebrachte, er könne nicht widerrufen, er wäre denn aus Gottes Wort eines besseren überwiesen.“ (L. A. Bd. 17, S. 580.) Es war offenbar, daß weder Versprechungen noch Drohungen ihn zur Nachgiebigkeit gegen Roms Befehle bewegen konnten.
Die Vertreter Roms ärgerten sich, daß ihre Macht, vor welcher Könige und Adelige gezittert hatten, auf diese Weise von einem bescheidenen Mönch geringgeschätzt werden sollte; sie sehnten sich danach, ihn ihren Zorn fühlen zu lassen, indem sie ihn zu Tode marterten. Aber Luther, der seine Gefahr begriff, hatte zu allen mit christlicher Würde und Gelassenheit gesprochen. Seine Worte waren frei von Stolz, Leidenschaft und Verdrehung gewesen. Er hatte sich selbst und die großen Männer, die ihn umgaben, aus den Augen verloren und fühlte nur, daß er in der Gegenwart dessen war, der unendlich erhaben über Päpste, Prälaten, Könige und Kaiser ist. Christus hatte durch Luthers Zeugnis mit einer Macht und Größe gesprochen, die zur Zeit sowohl Freunden als Feinden Ehrfurcht und Erstaunen einflößten. Der Geist Gottes war in jener Versammlung gegenwärtig gewesen und hatte die Herzen der Großen des Kaiserreichs ergriffen. Mehrere Fürsten anerkannten offen die Gerechtigkeit der Sache Luthers. Viele waren von der Wahrheit überzeugt; bei einigen aber dauerten die Eindrücke nicht an. Andere drückten zur Zeit ihre Überzeugung nicht aus, wurden aber später, nachdem sie die Heilige Schrift für sich selbst durchforscht hatten, kühne Vertreter der Reformation.
Der Kurfürst Friedrich hatte mit großer Besorgnis dem Erscheinen Luthers vor dem Reichstag entgegengesehen und hörte jetzt mit tiefer Bewegung seiner Rede zu. Mit Stolz und Freude sah er den Mut, die Entschiedenheit und die Selbstbeherrschung des Doktors und nahm sich vor, ihn entschiedener als je zu verteidigen. Er verglich die streitenden Parteien und erkannte, daß die Weisheit der Päpste, der Könige und der Prälaten durch die Macht der Wahrheit zunichte gemacht worden war. Das Papsttum hatte eine Niederlage erlitten, welche unter allen Nationen und zu allen Zeiten gefühlt werden sollte.
Als der Legat die Wirkung von Luthers Rede wahrnahm, fürchtete er wie nie zuvor für die Sicherheit der römischen Macht und entschloß sich, alle ihm zu Gebote stehenden Mittel anzuwenden, um den Untergang des Reformators zu bewirken. Mit all der Beredsamkeit und dem staatsklugen Geschick, worin er sich in einem so hohen Grade auszeichnete, stellte er dem jugendlichen Kaiser die Torheit und die Gefahr dar, eines unbedeutenden Mönches wegen die Freundschaft und die Hilfe des mächtigen Stuhles in Rom zu opfern.
Seine Worte blieben nicht wirkungslos. Schon am nächsten Tage ließ der Kaiser Karl den Reichsständen seinen Beschluß melden, daß er nach der Weise seiner Vorfahren fest entschlossen sei, ihren Glauben zu unterstützen und zu beschützen. Da Luther sich geweigert hatte, seinen Irrtümern zu entsagen, sollten die strengsten Maßregeln gegen ihn und die Ketzereien, die er lehrte, angewendet werden. „Es sei offenkundig, daß ein durch seine eigene Torheit verleiteter Mönch der Lehre der ganzen Christenheit widerstreite, ... so bin ich fest entschlossen, alle meine Königreiche, das Kaisertum, Herrschaften, Freunde, Leib, Blut und das Leben und mich selbst daran zu setzen, daß dies gottlose Vornehmen nicht weiter um sich greife. ... Gebiete demnach, daß er sogleich nach der Vorschrift des Befehls wieder heimgebracht werde und sich laut des öffentliches Geleites in acht nehme, nirgends zu predigen, noch dem Volk seine falschen Lehren weiter vorzutragen. Denn ich habe fest beschlossen, wider ihn als einen offenbaren Ketzer zu verfahren. Und begehre daher von euch, daß ihr in dieser Sache dasjenige beschließet, was rechten Christen gebührt und wie ihr zu tun versprochen habt.“ (L. W., Walch, Bd. 15, S. 2236. 2237.) Der Kaiser erklärte, daß Luther das sichere Geleit müsse gehalten werden, und ehe Maßregeln gegen ihn getroffen werden könnten, müsse ihm gestattet sein, seine Heimat in Sicherheit zu erreichen.
Wiederum machten sich zwei entgegengesetzte Meinungen der Reichsstände geltend. Die Legaten und Vertreter des Papstes forderten von neuem, daß das Sicherheitsgeleit Luthers nicht beachtet werden sollte und sagten: „Der Rhein muß seine Asche in sich aufnehmen, wie die des Hus vor einem Jahrhundert.“ (D'Aubigné, 7. Buch, 9. Kap.) Doch deutsche Fürsten, wiewohl päpstlich gesinnt und offene Feinde Luthers, erklärten sich gegen einen öffentlichen Treubruch als einen Schandflecken für die Ehre der ganzen Nation. Sie wiesen auf das schreckliche Unglück hin, welches auf den Tod des Hus folgte, und erklärten, daß sie es nicht wagten, eine Wiederholung dieser fürchterlichen Schrecknisse über Deutschland und auf das Haupt ihres jugendlichen Kaisers zu bringen.
Karl selbst erwiderte auf den niederträchtigen Vorschlag: „Wenn Treue und Glauben nirgends mehr gelitten würden, so sollten doch solche an den fürstlichen Höfen ihre Zuflucht finden.“ (Seckendorf, Commentarius, 1. Buch, 38. Abschn.) Die unerbittlichsten der römischen Feinde Luthers drangen noch weiter auf den Kaiser ein, mit dem Reformator zu verfahren, wie Sigismund Hus behandelt hatte und ihn der Gnade der Kirche zu überlassen. Karl V. aber, der sich ins Gedächtnis zurückrief, wie Hus in der öffentlichen Versammlung auf seine Ketten hingewiesen und den Kaiser an seine verpfändete Treue erinnert hatte, erklärte entschlossen: „Ich will nicht wie Sigismund erröten!“ (Lenfant, Historie du Concile de Constance, 1. Bd., 3. Buch, S. 404, Amsterdam, 1727.)
Karl hatte jedoch mit Vorbedacht die von Luther verkündigten Wahrheiten verworfen. „Ich bin,“ schrieb der Herrscher, „fest entschlossen, in die Fußstapfen meiner Ahnen zu treten.“ (D'Aubigne, 7. Buch, 9. Kap.) Er hatte sich entschieden, nicht vom Pfade herkömmlichen Gebrauchs abzuweichen, selbst nicht um in den Wegen der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu wandeln. Weil seine Väter es taten, wollte auch er das Papsttum mit all seiner Grausamkeit und Verderbtheit aufrechterhalten. Bei diesem Entscheid blieb er und weigerte sich, irgendwelches weitere Licht, als seine Väter erhalten hatten, anzunehmen oder irgendeine Pflicht auszuüben, die sie nicht erfüllt hatten.
Viele halten heute in gleicher Weise an den Gebräuchen und Überlieferungen der Väter fest. Schickt der Herr ihnen weiteres Licht, so weigern sie sich, es anzunehmen, weil ihre Väter, da es ihnen nicht gewährt ward, es auch nicht angenommen hatten. Wir stehen nicht da, wo unsere Väter standen, infolgedessen sind unsere Pflichten und Verantwortlichkeiten auch nicht dieselben. Gott wird es nicht gutheißen, wenn wir auf das Beispiel unserer Väter blicken, anstatt das Wort der Wahrheit für uns selbst zu untersuchen, um unsere Pflichten zu erkennen. Unsere Verantwortlichkeit ist größer als die unserer Vorfahren. Wir sind verantwortlich für das Licht, welches sie erhielten und uns als Erbgut überkommen ist, und wir müssen auch Rechenschaft ablegen für das hinzukommende Licht, welches jetzt aus dem Worte Gottes auf uns scheint.
Christus sagte von den ungläubigen Juden: „Wenn ich nicht gekommen wäre und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde; nun aber können sie nichts vorwenden, ihre Sünde zu entschuldigen.“ (Joh. 15, 22.) Dieselbe göttliche Macht hatte durch Luther zu dem Kaiser und den Fürsten Deutschlands gesprochen. Und als das Licht aus dem Worte Gottes strahlte, rechtete sein Geist mit vielen in jener Versammlung zum letzten Male. Wie Pilatus Jahrhunderte zuvor dem Stolz und der Volksgunst gestattete, dem Erlöser der Welt sein Herz zu verschließen; wie der zitternde Felix den Boten der Wahrheit bat: „Gehe hin auf diesmal; wenn ich gelegene Zeit habe, will ich dich herrufen lassen;“ (Apg. 24, 25.) Wie der stolze Agrippa bekannte: „Es fehlt nicht viel, du überredest mich, daß ich ein Christ würde,“ (Apg. 26, 8.) und sich doch von der vom Himmel gesandten Botschaft abwandte, so hatte Karl V., den Eingebungen des weltlichen Stolzes und der Staatsklugheit folgend, sich entschieden, das Licht der Wahrheit zu verwerfen.
Gerüchte über die Absichten gegen Luther wurden weithin verbreitet und verursachten große Aufregung in der ganzen Stadt. Der Reformator hatte sich viele Freunde erworben, welche, da sie die verräterische Grausamkeit Roms gegen alle kannten, die es wagten, seine Verkommenheit bloßzustellen, beschlossen, daß er nicht geopfert werden solle. Hunderte von Edelleuten verpflichteten sich, ihn zu beschützen. Nicht wenige rügten die kaiserliche Botschaft öffentlich als einen Beweis der Schwäche, sich der Macht Roms unterzuordnen. An Haustüren und auf öffentlichen Plätzen wurden Plakate angebracht, von denen einige Luther verurteilten und andere ihn unterstützen. Auf einem von ihnen waren nur die bedeutsamen Worte des weisen Mannes geschrieben: „Wehe dir Land, dessen König ein Kind ist.“ (Pred. 10, 16.) Die Begeisterung des Volkes für Luther, welche in ganz Deutschland herrschte, überzeugte sowohl den Kaiser als auch den Reichstag, daß irgendwelches ihm zugefügte Leid den Frieden des Reiches und selbst die Sicherheit des Thrones gefährden würde.
Friedrich von Sachsen verhielt sich in wohlweislicher Zurückhaltung und verbarg sorgfältig seine wirklichen Gefühle gegen den Reformator, während er ihn gleichzeitig mit unermüdlicher Wachsamkeit beschützte und sowohl seine als auch die Bewegungen seiner Feinde überwachte. Viele jedoch sprachen offen ihre Teilnahme für Luther aus. Er wurde besucht von vielen Fürsten, Grafen, Baronen und anderen einflußreichen Personen von weltlicher und kirchlicher Seite. „Das kleine Zimmer des Doktors,“ schrieb Spalatin, „konnte die vielen Besucher, die sich vorstellten, nicht fassen.“ (L. W., Erl., lt., Bd. 37, S. 15. 16.) Selbst solche, die seine Lehren nicht glaubten, mußten doch jenen Seelenadel bewundern, der ihn antrieb, eher sein Leben in den Tod zu geben als sein Gewissen zu verletzen.
Doch wurden noch weitere ernstliche Anstrengungen gemacht, um Luther zu einem Ausgleich mit Rom zu bewegen. Besondere kleine Ausschüsse, aus Fürsten, Prälaten und Gelehrten bestehend, bemühten sich weiter um ihn, und sein Geleitbrief wurde gegen den Wunsch des Legaten um fünf Tage verlängert. Sie stellten ihm vor, daß wenn er hartnäckig auf seiner Meinung bestände, sein eigenes Urteil gegen das der Kirche und Konzilien aufrechtzuerhalten, der Kaiser ihn aus dem Reich vertreiben und in ganz Deutschland keine Zuflucht lassen würde. Luther antwortete auf diese ernste Vorstellung: „Ich weigere mich nicht, Leib, Leben und Blut dahin zugeben, nur will ich nicht gezwungen werden, Gottes Wort zu widerrufen, in dessen Verteidigung man Gott mehr als den Menschen gehorchen muß. Auch kann ich nicht das Ärgernis des Glaubens verhüten, sintemal Christus ein Stein des Ärgernisses ist.“ (Ebd., S. 18.)
Wiederum drang man auf ihn ein, seine Bücher dem Urteil des Kaisers und des Reiches ohne Furcht zu unterwerfen. Luther erwiderte: „Ich habe nichts dawider, daß der Kaiser oder die Fürsten oder der geringste Christ meine Bücher prüfen, aber nur nach dem Worte Gottes. Die Menschen dürfen diesem allein gehorchen. Mein Gewissen ist mit Gottes Wort und Heiliger Schrift gebunden.“ (D'Aubigné, 7. Buch, 7. Kap., S. 221. 224, Stuttgart 1848.)
Auf einen andern Versuch, ihn zu überreden, gab er zur Antwort: „Ich will eher das Geleit aufgeben, meine Person und mein Leben dem Kaiser preisgeben, aber niemals Gottes Wort.“ (s. vorige Anm.) Er erklärte sich bereit, sich dem Entscheid eines allgemeinen Konzils zu unterwerfen, aber nur unter der Bedingung, daß es nach der Schrift zu entscheiden sich gezwungen halte. „Was das Wort Gottes und den Glauben anbelangt,“ fügte er hinzu, „so kann jeder Christ ebensogut urteilen wie der Papst es für ihn tun könnte, sollten ihn auch eine Million Konzilien unterstützen.“ (Luthers Werke, Halle, 2. Bd., S. 107.) Sowohl Freunde als Gegner wurden schließlich überzeugt, daß weitere Versöhnungsversuche nutzlos waren.
Hätte der Reformator nur in einem einzigen Punkt nachgegeben, so würden die Mächte der Finsternis den Sieg davongetragen haben. Aber sein felsenfestes Ausharren beim Worte Gottes war das Mittel zur Befreiung der Gemeinde und der Anfang eines neuen und besseren Zeitalters. Indem Luther in Sachen der Religion für sich selbst zu denken und zu handeln wagte, übte er nicht nur eine Wirkung auf Kirche und Weh in seinen eigenen Tagen aus, sondern auch in allen künftigen Zeitaltern. Seine Standhaftigkeit und Treue sollten bis zum Ende der Tage alle stärken, welche ähnliche Erfahrungen zu bestehen haben. Gottes Macht und Majestät standen erhaben über dem Rat der Menschen und über der gewaltigen Macht des Bösen.
Bald darauf erging an Luther der kaiserliche Befehl, nach seiner Heimat zurückzukehren, und er wußte, daß dieser Weisung bald auch seine Verurteilung folgen würde. Drohende Wolken hingen über seinem Pfad. Doch als er Worms verließ, erfüllten Freude und Preis sein Herz. „Der Teufel hat auch wohl verwahret des Papstes Regiment und wollte es verteidigen; aber Christus machte ein Loch darein.“ (L. W., Leipz., Bd. 17, S. 589.)
Auf seiner Heimreise schrieb Luther, der noch immer von dem Wunsche beseelt war, daß seine Festigkeit nicht als Empörung mißdeutet werden möchte, an den Kaiser: „Gott, der ein Herzenskündiger ist, ist mein Zeuge, daß ich in aller Untertänigkeit E. K. Maj. Gehorsam zu leisten ganz willig und bereit bin, es sei durch Leben oder Tod, durch Ehre, durch Schande, Gut oder Schaden. Ich habe auch nichts vorgehalten als allein das göttliche Wort, in welchem der Mensch nicht allein lebt, sondern wonach es auch den Engeln gelüstet zu schauen.“ „In zeitlichen Sachen sind wir schuldig, einander zu vertrauen, weil derselben Dinge Unterwerfung, Gefahr und Verlust, der Seligkeit keinen Schaden tut. Aber in Gottes Sache und ewigen Gütern leidet Gott solche Gefahr nicht, daß der Mensch dem Menschen solches unterwerfe.“ „Solcher Glaube und Unterwerfung ist das wahre rechte Anbeten und der eigentliche Gottesdienst.“ (Ebd., Erl., Bd. 3, S. 129-141, 28. April 1521.)
Auf der Rückreise von Worms war Luthers Empfang sogar noch großartiger als auf der Hinreise. Hochstehende Geistliche bewillkommten den mit dem Bann belegten Mönch, und weltliche Obrigkeiten ehrten den von dem Kaiser geächteten Mann. Er wurde zur Predigt gedrungen und betrat auch trotz dem kaiserlichen Verbote die Kanzel. Selbst hatte er kein Bedenken; „denn er hatte nicht darein gewilligt, daß Gottes Wort gebunden werde.“ (L. W., St. L., Bd. 15, S. 2512; 14. Mai 1521.)
Die Legaten des Papstes erpreßten bald nach seiner Abreise vom Kaiser die Erklärung der Reichsacht. (Ebd., Erl., Bd. 24, S. 215f., 224.) Darin wurde Luther „nicht als ein Mensch, sondern als der böse Feind in Gestalt eines Menschen mit angenommener Mönchskutte“ (D'Aubigné, 7. Buch, 11. Kap., S. 232, Stuttgart, 1848.) gebrandmarkt. Es wurde befohlen, daß nach Ablauf seines Sicherheitsgeleites Maßregeln gegen ihn ergriffen werden sollten, um sein Werk aufzuhalten. Es war jedermann verboten, ihn zu beherbergen, ihm Speise oder Trank anzubieten, noch durch Wort oder Tat öffentlich oder geheim ihm zu helfen oder ihn zu unterstützen. Er sollte, ganz gleich wo er sei, ergriffen und der Obrigkeit ausgeliefert werden. Seine Anhänger sollten ebenfalls gefangengesetzt und ihr Eigentum beschlagnahmt werden. Seine Schriften sollten vernichtet und schließlich alle, die es wagen würden, diesem Erlasse entgegenzuhandeln, in seine Verurteilung eingeschlossen werden. Der Kurfürst von Sachsen und die Fürsten, welche Luther am günstigsten waren, hatten Worms bald nach seiner Abreise verlassen, und der Reichstag hatte zu dem Erlaß des Kaisers seine Genehmigung gegeben. Jetzt frohlockten die Römlinge und betrachteten das Schicksal der Reformation als besiegelt.
Gott hatte für seinen Diener in dieser Stunde der Gefahr einen Weg des Entrinnens vorgesehen. Ein wachsames Auge war Luthers Bewegungen gefolgt, und ein treues und edles Herz hatte sich zu seiner Befreiung entschlossen. Es war klar, daß Rom sich mit nichts Geringerem als mit seinem Tode begnügen würde; nur durch Geheimhaltung konnte er vor dem Rachen des Löwen bewahrt werden. Gott gab Friedrich von Sachsen Weisheit, einen Plan zu entwerfen, den Reformator zu erhalten. Unter der Mitwirkung treuer Freunde wurde des Kurfürsten Absicht ausgeführt und Luther erfolgreich vor Freunden und Feinden verborgen. Auf seiner Heimreise wurde er ergriffen, von seinen Begleitern getrennt und in aller Eile durch die Wälder nach dem Schloß Wartburg, einer einsamen Burgfeste, befördert. Sowohl seine Gefangennahme als auch seine Verbergung geschahen so geheimnisvoll, daß selbst Friedrich lange nicht wußte, wohin Luther geführt worden war. Diese Unkenntnis war plangemäß, denn solange der Kurfürst nichts von Luthers Aufenthalt wußte, konnte er keine Auskunft geben. Er vergewisserte sich, daß der Reformator in Sicherheit war, und mit dieser Kenntnis gab er sich zufrieden.
Frühling, Sommer und Herbst gingen vorbei, der Winter kam und Luther blieb noch immer ein Gefangener. Aleander und seine Anhänger frohlockten, daß das Licht des Evangeliums dem Auslöschen nahe schien. Statt dessen aber füllte der Reformator seine Lampe aus dem Vorratshause der Wahrheit, damit ihr Licht in einem um so helleren Glanze leuchte.
In der freundlichen Sicherheit der Wartburg erfreute sich Luther eine Zeitlang seiner Befreiung von der Hitze und dem Getümmel des Kampfes. Aber in der Ruhe und Stille konnte er nicht lange Befriedigung finden. An ein Leben der Tätigkeit und des harten Kampfes gewöhnt, konnte er es schwer ertragen, untätig zu sein. In jenen einsamen Tagen trat der Zustand der Kirche vor seine Augen, und er rief in seiner Not: „Aber es ist niemand, der sich aufmache und zu Gott halte oder sich zur Mauer stelle für das Haus Israel an diesem letzten Tage des Zorns Gottes!“ (L. W., St - L., B d. 15, S. 2514; 12. Mai 1521 an Melanchthon.) Wiederum richteten sich seine Gedanken auf sich selbst, und er befürchtete, daß er durch seinen Rückzug vom Kampfe der Feigheit beschuldigt würde. Dann machte er sich Vorwürfe wegen seiner Sorglosigkeit und Selbstbefriedigung. Und doch vollbrachte er zu derselben Zeit täglich mehr, als für einen Mann zu tun möglich schien. Seine Feder war nie müßig. Während seine Feinde sich schmeichelten, ihn zum Schweigen gebracht zu haben, wurden sie erstaunt und verwirrt durch handgreifliche Beweise, daß er noch immer tätig war. Ein Heer von Abhandlungen, die aus seiner Feder flossen, machten die Runde durch ganz Deutschland. Auch leistete er seinen Landsleuten einen höchst wichtigen Dienst, indem er das Neue Testament in die deutsche Sprache übersetzte. Von seinem felsigen Patmos aus fuhr er beinahe ein ganzes Jahr lang fort, das Evangelium zu verkündigen und die Sünden und Irrtümer der Zeit zu rügen.
Es geschah aber nicht nur, um Luther vor dem Zorn seiner Feinde zu bewahren oder um ihm für diese wichtigen Arbeiten eine Zeit der Ruhe zu verschaffen, daß Gott seinen Diener dem Schauplatze des öffentlichen Lebens entrückt hatte. Köstlichere Erfolge als diese sollten erzielt werden. In der Einsamkeit und Verborgenheit seiner bergigen Zufluchtsstätte war Luther allen irdischen Stützen fern und abgeschlossen von menschlichem Lob. Somit war er vor dem Stolz und dem Selbstvertrauen bewahrt, welche so oft durch den Erfolg verursacht werden. Durch Leiden und Demütigung wurde er vorbereitet, wiederum mit Sicherheit die schwindelnden Höhen zu betreten, wozu er so plötzlich erhoben worden war.
Wenn Menschen sich der Freiheit, welche die Wahrheit ihnen bringt, erfreuen, so sind sie geneigt, die zu verherrlichen, welche Gott gebraucht, um die Ketten des Irrtums und des Aberglaubens zu brechen. Satan versucht, der Menschen Gedanken und Zuneigungen von Gott abzuwenden und sie auf menschliche Werkzeuge zu richten. Er veranlaßt sie, das bloße Werkzeug zu ehren und die Hand, welche alle Ereignisse der Vorsehung leitet, unbeachtet zu lassen. Nur zu oft verlieren religiöse Leiter, welche auf diese Weise gepriesen und verehrt werden, ihre Abhängigkeit von Gott aus den Augen und vertrauen auf sich selbst. Infolgedessen suchen sie die Gemüter und Gewissen des Volkes, welches geneigt ist, auf sie, anstatt auf das Wort Gottes um Führung zu sehen, zu beherrschen. Das Werk der Reformation wird oft gehemmt, weil dieser Geist von ihren Anhängern genährt wird. Vor dieser Gefahr wollte Gott die Sache der Reformation bewahren. Er wünschte, daß dieses Werk nicht das Gepräge des Menschen, sondern das Gepräge Gottes empfange. Die Augen der Menschen hatten sich auf Luther, den Ausleger der Wahrheit, gewandt; er wurde entfernt, damit aller Augen auf den ewigen Urheber der Wahrheit gerichtet werden möchten.


 
KAPITEL 9

DER REFORMATOR DER SCHWEIZ

In der Wahl der Werkzeuge zur Verbesserung der Kirche zeigt sich derselbe göttliche Plan wie bei der Pflanzung der Gemeinde. Der himmlische Lehrer ging an den Großen der Erde, an den Angesehenen und Reichen, welche gewohnt waren, als Leiter des Volkes Lob und Huldigung zu empfangen, vorüber. Diese waren so stolz und vertrauten so sehr auf ihre viel gerühmte Überlegenheit, daß sie nicht umgebildet werden konnten, um mit ihren Nebenmenschen zu fühlen und Mitarbeiter des demütigen Nazareners zu werden. An die ungelehrten, schwer arbeitenden Fischer von Galiläa erging der Ruf: „Folget mir, und ich will euch zu Menschenfischern machen.“ (Matth. 4, 19.) Diese Jünger waren demütig und ließen sich belehren. Je weniger sie von den falschen Lehren ihrer Zeit beeinflußt waren, desto erfolgreicher konnte Christus sie unterrichten und für seinen Dienst heranbilden. So war es auch in den Tagen der großen Reformation. Die leitenden Reformatoren waren Männer von geringer Herkunft - Männer, die unter ihren Zeitgenossen von Rangstolz und dem Einfluß der Scheinfrömmigkeit und Priesterlist am freiesten waren. Es liegt im Plane Gottes, sich demütiger Werkzeuge zur Erreichung großer Erfolge zu bedienen. Dann wird nicht die Ehre den Menschen gegeben, sondern dem, der durch sie das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen wirkt.
Nur wenige Wochen nach Luthers Geburt in der Hütte eines sächsischen Bergmannes wurde in den Alpen Ulrich Zwingli geboren. Zwinglis Umgebung in seiner Kindheit und seine erste Erziehung waren derart, daß sie ihn für seine zukünftige Aufgabe vorbereiteten. Erzogen inmitten einer Umgebung von natürlicher Pracht, feierlicher Schönheit und Erhabenheit, wurde sein Gemüt frühzeitig von einem Gefühl der Größe, der Macht und der Hoheit Gottes erfüllt. Die Geschichte der auf seinen heimatlichen Bergen vollbrachten tapferen Taten entzündete seine jugendlichen Bestrebungen. Zu den Füßen seiner frommen Großmutter lauschte er auf die wenigen köstlichen Erzählungen aus der Bibel, welche sie aus den Legenden und den Überlieferungen der Kirche entnommen hatte. Mit tiefem Anteil hörte er von den großen Taten der Erzväter und Propheten, von den Hirten, die auf den Hügeln Palästinas ihre Herden weideten, wo Engel mit ihnen von dem Kindlein zu Bethlehem und dem Mann auf Golgatha redeten.
Gleich Hans Luther wünschte Zwinglis Vater, daß sein Sohn eine gute Ausbildung empfange, und der Knabe wurde frühzeitig aus seinem heimatlichen Tale fortgeschickt. Sein Verstand entwickelte sich rasch, und bald entstand die Frage, wo man fähige Lehrer für ihn finden könne. Im Alter von dreizehn Jahren ging er nach Bern, wo damals die hervorragendste Schule der Schweiz war. Hier jedoch erhob sich eine Gefahr, die sein verheißungsvolles Leben zu vernichten drohte. Die Mönche machten beharrliche Anstrengungen, ihn in ein Kloster zu locken. Die Dominikaner und die Franziskaner wetteiferten um die Gunst des Volkes, die sie durch den glänzenden Schmuck ihrer Kirchen, das Gepränge ihrer Zeremonien, den Reiz berühmter Reliquien und Wunder wirkende Bilder zu erreichen suchten.
Die Dominikaner von Bern sahen, daß, falls sie diesen begabten jungen Studenten gewinnen könnten, sie sich Gewinn und Ehre verschaffen würden. Seine außerordentliche Jugend, seine natürliche Fähigkeit als Redner und Schreiber sowie seine Begabung für Musik und Dichtkunst würden wirksamer sein, das Volk zu ihren Gottesdiensten herbeizuziehen und die Einkünfte ihres Ordens zu vermehren als all ihr Prunk und Aufwand. Durch Täuschung und Schmeichelei bemühten sie sich, Zwingli zu verleiten, in ihr Kloster einzutreten. Luther hatte sich, während er Student auf einer Hochschule war, in eine Klosterzelle begraben und würde für die Welt verloren gewesen sein, hätte nicht Gottes Vorsehung ihn befreit. Zwingli geriet nicht .in dieselbe Gefahr. Die Vorsehung fügte es so, daß sein Vater von der Absicht der Mönche erfuhr, und da er nicht gewillt war, daß sein Sohn dem müßigen und nutzlosen Leben der Mönche folge und erkannte, daß dessen zukünftige Brauchbarkeit auf dem Spiele stand, wies er ihn an, unverzüglich nach Hause zurückzukehren.
Der Jüngling gehorchte, doch blieb er nicht lange in seinem heimatlichen Tale; er nahm bald seine Studien wieder auf und ging kurze Zeit darauf nach Basel. Hier hörte Zwingli das Evangelium einer freien Gottesgnade zum ersten Mal. Wyttenbach, ein Lehrer der alten Sprachen, war durch das Studium des Griechischen und Hebräischen zu der Heiligen Schrift geführt worden, und so ergossen sich in die Gemüter derer, die er unterrichtete, Strahlen des göttlichen Lichtes. (Staehelin, Zwingli, 1. Bd., 1. Kap., S. 38-43, Basel, 1895.) Er erklärte, daß es eine Wahrheit gebe, die älter und von unendlich größerem Werte sei als die Ansichten der Schulgelehrten und Philosophen. Er lehrte, „der Tod Christi sei die einzige Genugtuung für unsere Sünden.“ (Wirz, helv. Kirchengesch. 3, S. 452.) Für Zwingli waren diese Worte wie der erste Lichtstrahl der Morgendämmerung.
Bald wurde Zwingli von Basel abgerufen, um seine Lebensaufgabe anzutreten. Sein erstes Arbeitsfeld war eine Pfarrei in den Alpen, nicht weit von seinem heimatlichen Tale. Nachdem Zwingli die Priesterweihe empfangen hatte, widmete er sich ganz der Erforschung der göttlichen Wahrheit, „denn er wußte, fügte Mykonius hinzu, wie vieles derjenige zu wissen nötig hat, welchem das Amt anvertraut ist, die Herde Christi zu lehren.“ (Staehelin, 1. Bd., 2. Kap., S. 45.) Je mehr er in der Heiligen Schrift forschte, desto deutlicher sah er den Gegensatz zwischen ihren Wahrheiten und den Irrlehren Roms. Er unterwarf sich der Bibel als dem Worte Gottes, der allein fähigen, unfehlbaren Richtschnur. Er sah, daß sie ihr eigener Ausleger sein müsse, und wagte es nicht, die Heilige Schrift auszulegen, um eine vorgefaßte Ansicht oder Lehre zu beweisen, sondern hielte es für seine Pflicht, ihre bestimmte, offenbare Lehre zu erforschen. Er bediente sich eines jeden Hilfsmittels, um ein volles und richtiges Verständnis ihres Sinnes zu erlangen und erflehte den Beistand des Heiligen Geistes, der nach seiner Überzeugung es allen, die ihn aufrichtig und mit Gebet suchten, offenbaren würde.
Zwingli schrieb hierüber: „Die Schrift ist von Gott und nicht von Menschen hergekommen.“ 2.. Petr. 1, 21. „Eben der Gott, der erleuchtet, der wird auch dir zu verstehen geben, daß seine Rede von Gott kommt.“ „Das Wort Gottes ist gewiß, fehlt nicht, es ist klar, läßt nicht in der Finsternis irren, es lehrt sich selbst, tut sich selbst auf und bescheint die menschliche Seele mit allem Heil und Gnaden, tröstet sie in Gott, demütigt sie, so daß sie selbst verliert, ja verwirft und faßt Gott in sich, in dem lebt sie, darnach fechtet sie.“ (Zwingli [Schuler und Schultheß] 1, S. 81.) Zwingli hatte die Wahrheit dieser Worte an sich selbst erfahren, wie er auch später mit folgenden Worten bezeugt: „Als ich vor sieben oder acht Jahren anhub, mich ganz an die Heilige Schrift zu lassen, wollte mir Philosophie und Theologie der Zänker immerdar ihre Einwürfe machen. Da kam ich zuletzt dahin, daß ich dachte, (doch mit Schrift und Wort Gottes dazu geleitet): Du mußt das alles lassen liegen und die Meinung Gottes lauter aus seinem eignen einfältigen Wort lernen. Da hub ich an, Gott zu bitten um sein Licht, und fing mir an die Schrift viel heller zu werden.“ (Zwingli 1, S. 79.)
Die Lehre, welche Zwingli verkündigte, hatte er nicht von Luther empfangen: es war die Lehre Christi. „Predigt Luther Christum,“ schrieb der schweizerische Reformator, „so tut er eben dasselbe, was ich tue; wiewohl, Gott sei gelobt, durch ihn eine unzählbare Welt mehr als durch mich und andere zu Gott geführt werden. Dennoch will ich keinen andern Namen tragen als den meines Hauptmanns Christi, dessen Kriegsmann ich bin; der wird mir Amt und Sold geben, so viel ihm gut dünkt.“ „Dennoch bezeuge ich vor Gott und allen Menschen, daß ich keinen Buchstaben alle Tage meines Lebens Luther geschrieben habe, noch er mir, noch hab ich solches veranstaltet. Solches habe ich nicht unterlassen aus Menschenfurcht, sondern weil ich dadurch habe allen Menschen offenbaren wollen, wie einhellig der Geist Gottes sei, daß wir so weit voneinander wohnen, dennoch so einhellig die Lehre Christi lehren, obwohl ich ihm nicht anzuzählen bin, denn jeder von uns tut, soviel ihm Gott weist.“ (Zwingli 1, S. 256 f.)
Zwingli wurde 1516 eine Pfarrstelle am Kloster zu Einsiedeln angeboten. Hier sollte er eine klarere Einsicht in die Verderbtheit Roms erhalten und einen reformatorischen Einfluß ausüben, der weit über seine heimatlichen Alpen hinaus gefühlt wurde. Ein Gnadenbild der Jungfrau Maria, angeblich ein wunderwirkendes, übte hier die größte Anziehung aus. Über der Eingangspforte des Klosters prangte die Inschrift: „Hier findet man volle Vergebung aller Sünden.“ (Wirz, 4, S. 142.) Das Jahr hindurch zogen Pilger zu dem Altare Marias. Doch an einem jährlichen großen Feste kamen sie massenhaft aus allen Teilen der Schweiz und auch aus Deutschland und Frankreich. Dieser Anblick schmerzte Zwingli sehr, und er benutzte solche Gelegenheiten, ihnen die herrliche Freiheit des Evangeliums zu verkündigen.
Die Verzeihung der Sünden und das ewige Leben seien „bei Christo und nicht bei der heiligen Jungfrau zu suchen; der Ablaß, die Wallfahrt und Gelübde, die Geschenke, die man den Heiligen mache, haben wenig Wert. Gottes Gnade und Hilfe sei allen Orten gleich nahe, und er höre das Gebet anderswo nicht weniger als zu Einsiedeln.“ (Wirz, 4, S. 142.) „Wir ehren Gott mit Plappergebeten, mit viel Fasten, mit auswendigem Schein der Kutten, mit weißen Geschleife, mit säuberlich geschorenen Glatzen, mit langen, schön gefalteten Röcken, mit wohl vergoldeten Mauleseln.“ „Aber das Herz ist fern von Gott.“ „Christus, der sich einmal für uns geopfert, ist ein in Ewigkeit währendes und bezahlendes Opfer für die Sünden aller Gläubigen.“ (Zwingli, 1, S. 216. 232.)
Nicht allen seiner vielen Zuhörer war diese Lehre willkommen. Es enttäuschte manche sehr, daß ihre lange und mühsame Pilgerreise umsonst gemacht worden sei. Sie konnten die ihnen in Christo frei angebotene Vergebung nicht fassen, und der alte Weg zum Himmel, wie ihn Rom vorgezeichnet hatte, genügte ihnen. Sie schreckten zurück vor der Schwierigkeit, nach etwas Besserem zu suchen. Ihre Seligkeit Papst und Priestern anzuvertrauen, fiel ihnen leichter, als nach Reinheit des Herzens zu trachten. Andere aber freuten sich über die frohe Kunde der Erlösung in Christo. Ihnen hatten die von Rom auferlegten Bürden keinen Seelenfrieden gebracht, und gläubig nahmen sie des Heilandes Blut zu ihrer Versöhnung an. Froh kehrten sie nach ihrer Heimat zurück, um andern das empfangene köstliche Licht zu offenbaren. Auf diese Weise pflanzte sich die Wahrheit von Weiler zu Weiler und von Stadt zu Stadt fort, die Zahl der Pilger nach dem Altar der Jungfrau dagegen nahm ab, die Gaben verringerten sich, und somit auch sein Gehalt, das aus diesen Gaben bestritten wurde. Doch ihm verursachte es nur Freude zu sehen, daß die Macht des Fanatismus und Aberglaubens gebrochen wurde.
Seine Vorgesetzten wußten von Zwinglis Wirken. Er drang in sie, die Mißstände abzustellen; aber sie schritten nicht ein, sondern hofften durch Schmeichelei ihn für ihre Sache zu gewinnen. Unterdessen faßte die Wahrheit Wurzel in den Herzen des Volkes. Zwinglis Wirken in Einsiedeln hatte ihn für ein größeres Feld vorbereitet, welches er bald betreten sollte. Im Dezember 1518 wurde er zum Leutpriester am Dom in Zürich berufen. Es war damals schon die bedeutendste Stadt der schweizerischen Genossenschaft, so daß der dort ausgeübte Einfluß sich weithin fühlbar machte. Die Domherren, auf deren Einladung Zwingli nach Zürich gekommen war, schärften ihm bei seiner Verpflichtung zur Amtsordnung, da sie Neuerungen befürchteten, folgende Hauptpflichten ein:
„Du mußt nicht versäumen, für die Einkünfte des Domkapitels zu sorgen und auch das Geringste nicht verachten. Ermahne die Gläubigen von der Kanzel und dem Beichtstuhle, alle Abgaben und Zehnten zu entrichten und durch Gaben ihre Anhänglichkeit an die Kirche zu bewähren. Auch die Einkünfte von Kranken, von Opfern und jeder andern kirchlichen Handlung mußt du zu mehren suchen. Auch gehört zu deinen Pflichten die Verwaltung des Sakramentes, die Predigt und die Seelsorge. In mancher Hinsicht, besonders in der Predigt, kannst du dich durch einen Vikar ersetzen lassen. Die Sakramente brauchst du nur den Vornehmen, wenn sie dich fordern, zu reichen; du darfst es sonst ohne Unterschied der Personen nicht tun.“ (Schuler, Zwingli, S. 227; Hottinger, Hist. Eccl. 4, S. 6385.)
Ruhig hörte Zwingli diesem Auftrage zu, drückte auch seinen gebührenden Dank aus für die Ehre, zu solchem wichtigen Amt berufen worden zu sein und erklärte ihnen, welchen Lauf er einzuschlagen gedenke: „Von der Geschichte Christi des Erlösers, wie sie der Evangelist Matthäus beschrieben hat, sei wohl schon der Titel länger bekannt, aber deren Vortrefflichkeit sei schon lange Zeit nicht ohne Verlust des göttlichen Ruhmes und der Seelen verborgen geblieben. Dasselbe sei nicht nach menschlichem Gutdünken zu erklären, sondern im Sinne des Geistes mit sorgfältigem Vergleich und innigem Gebet,“ (Myconius, Zwingli, S. 6) „alles zur Ehre Gottes und seines einigen Sohnes und dem rechten Heil der Seelen und Unterrichtung der frommen und biedern Leute.“ (Bullinger, 1. Bd., 4. Kap., Frauenfeld, 1838.) Wiewohl etliche Domherren diesen Plan nicht billigten und ihn davon abzubringen suchten, blieb doch Zwingli standhaft und erklärte, diese Art zu predigen sei keine neue, sondern gerade die alte und ursprüngliche, wie sie die Kirche in ihrem reineren Zustande geübt habe.
Da bereits seine Zuneigung für die von ihm gelehrten Wahrheiten geweckt war, strömte das Volk in großer Zahl herzu, um seinen Predigten zu lauschen. Viele, die schon lange keine Gottesdienste besucht hatten, befanden sich unter seinen Zuhörern. Er begann sein Amt mit dem ersten Kapitel Matthäus und erklärte, wie ein Zuhörer dieser ersten Predigt berichtet, „das Evangelium so köstlich durch alle Propheten und Patriarchen, desgleichen auch nach aller Urteil nie gehört worden war.“ (Füßli, Beiträge, 4, S. 34.) Wie in Einsiedeln, so stellte er auch hier das Wort Gottes als die alleinige unfehlbare Autorität und den Tod Christi als das einzige, völlige Opfer dar. Sein Hauptzweck war, „Christus aus der Quelle zu predigen und den reinen Christus in die Herzen einzupflanzen.“ Zwingli 7, S. 142 f.) Alle Stände des Volkes, Ratsherren und Gelehrte sowohl wie auch der Handwerker und Bauer, scharten sich um diesen Prediger. Mit innigstem Anteil lauschten sie seinen Worten. Er verkündigte nicht nur das Angebot eines freien Heils, sondern rügte auch furchtlos die Übelstände und Verderbnisse seiner Zeit. Viele priesen Gott bei ihrer Rückkehr aus dem Dom und sprachen: „Dieser ist ein rechter Prediger der Wahrheit, der wird sagen, wie die Sachen stehn und als ein Moses uns aus Ägypten führen.“ (Hottinger, helv. Kirchengesch., 6, S. 40.)
Seine Bemühungen wurden zuerst mit großer Begeisterung aufgenommen; doch mit der Zeit regte sich der Widerstand immer mehr. Die Mönche bemühten sich, sein Werk zu hindern und seine Lehren zu verurteilen. Viele bestürmten ihn mit Hohn und Spott; andere drohten und schmähten. Zwingli erduldete alles mit christlicher Geduld und sagte: „Wenn man die Bösen zu Christo führen will, so muß man bei manchem die Augen zudrücken.“ (Salats, Ref.-Chr., S. 155.)
Ungefähr um diese Zeit kam ein neues Werkzeug hinzu, die Sache der Reformation zu fördern. Ein gewisser Lucian wurde von einem Freunde des reformierten Glaubens in Basel, welcher meinte, daß der Verkauf jener Bücher ein mächtiges Mittel zur Ausbreitung des Lichtes sein möchte, mit etlichen Schriften Luthers nach Zürich gesandt. Er schrieb Zwingli: „Wenn nun dieser Lucian Klugheit und Geschmeidigkeit genügend zu haben scheint, so muntere ihn auf, daß er Luthers Schriften, vor allen die für Laien gedruckte Auslegung des Herrn Gebets, in allen Städten, Flecken, Dörfern, auch von Haus zu Haus verbreite. Je mehr man ihn kennt, desto mehr Absatz hat er. Doch soll er sich hüten, gleichzeitig andere Bücher zu verkaufen, denn je mehr er gezwungen ist, nur diese anzupreisen, eine desto größere Menge solcher Bücher verkauft er.“ (Zwingli, 7, S. 81, 2. Juli 1519.) Auf solche Weise fand das Licht Eingang.
Doch wenn Gott sich anschickt, die Fesseln der Unwissenheit und des Aberglaubens zu brechen, dann wirkt auch Satan mit der größten Macht, die Menschen in Finsternis zu hüllen und ihre Bande noch fester zu schmieden. Männer standen in verschiedenen Ländern auf, um den Menschen die freie Vergebung und Rechtfertigung durch das Blut Christi anzubieten; Rom aber öffnete mit erneuter Tatkraft seinen Markt in der ganzen Christenheit, Vergebung um Geld feilzubieten.
Jede Sünde hatte ihren Preis, und den Menschen wurde volle Freiheit für grobe Vergehungen gewährt, wenn nur der Schatzkasten der Kirche damit wohl gefüllt erhalten wurde. So schritten beide Bewegungen voran, die eine bot Freisprechung von Sünden um Geld an, die andere Vergebung durch Christum; Rom erlaubte die Sünde und machte sie zu einer Quelle seiner Einnahmen; die Reformatoren verurteilten die Sünde und wiesen auf Christum als den einzigen Versöhner und Befreier hin.
In Deutschland war der Verkauf von Ablässen den Dominikanermönchen anvertraut worden, wobei Tetzel solche berüchtigte Rolle spielte. In der Schweiz lag der Handel in den Händen der Franziskaner und wurde von Samson, einem italienischen Mönch, geleitet. Samson hatte der Kirche bereits gute Dienste geleistet, indem er sich aus der Schweiz und auch aus Deutschland ungeheure Summen verschafft hatte, um die Schatzkammer des Papstes zu füllen. Jetzt durchreiste er die Schweiz unter großem Zuzug, beraubte die armen Landleute ihres dürftigen Einkommens und erpreßte reiche Geschenke von den wohlhabenden Klassen. Aber der Einfluß der Reformation machte sich bereits fühlbar, und dieser Handel wurde, wenn ihm auch nicht völlig Einhalt geboten werden konnte, sehr beschnitten. Als Samson zuerst die Schweiz betrat und den Ablaß in einem benachbarten Orte anbot, weilte Zwingli noch zu Einsiedeln. Sobald er von seinem Kommen hörte, widersetzte er sich ihm auch. Die beiden trafen sich wohl nicht, doch stellte Zwingli die Anmaßungen des Mönches mit solchem Erfolge bloß, daß Samson die Gegend verlassen mußte.
Auch in Zürich predigte Zwingli eifrig gegen den Ablaßhandel, und als Samson sich später dieser Stadt näherte, deutete ihm ein Ratsbote an, er solle weiterziehen. Doch schließlich verschaffte er sich durch List Eingang, wurde jedoch fortgeschickt ohne einen einzigen Ablaß verkauft zu haben, und bald darauf verließ er die Schweiz. (Staehelin, Zwingli, 1. Bd., 2. Kap. S. 144f., Basel, 1895.)
Das Auftreten der Pest, des sogenannten „schwarzen Todes“, welche 1519 die Schweiz heimsuchte, verlieh der Reformation einen großen Anstoß. Als die Menschen auf diese Weise dem Verderben von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt wurden, fingen viele an einzusehen, wie nichtig und wertlos die Ablässe seien, die sie so kürzlich gekauft hatten, und sie sehnten sich nach einem sicheren Grund für ihren Glauben. In Zürich wurde auch Zwingli niedergeworfen und lag so schwer krank danieder, daß alle Hoffnung auf seine Genesung aufgegeben wurde und weit umher das Gerücht sich verbreitete, er sei tot. In jener schweren Stunde der Prüfung blieben jedoch seine Hoffnung und sein Mut unerschüttert. Er blickte im Glauben auf das Kreuz von Golgatha und vertraute auf die allgenugsame Versöhnung für die Sünde. Als er von der Pforte des Todes zurückkehrte, predigte er das Evangelium mit größerer Kraft als je zuvor, und seine Worte übten eine ungewöhnliche Macht aus. Das Volk begrüßte seinen geliebten Seelsorger, der von der Schwelle des Grabes zu ihm zurückkehrte, mit Freuden. Selbst mit der Besorgung der Kranken und Sterbenden beschäftigt, fühlte es wie nie zuvor den Wert des Evangeliums.
Zwingli war zu einem klareren Verständnis der Evangeliumswahrheit gelangt und hatte an sich selbst seine neu gestaltende Macht völliger erfahren. Der Sündenfall und der Erlösungsplan waren die Gegenstände, mit welchen er sich beschäftigte. Er schrieb: „In Adam sind wir alle tot und in Verderbnis und Verdammnis versunken,“ aber Christus ist „wahrer Mensch, gleichwie wahrer Gott und ein ewig währendes Gut.“ „Sein Leiden ist ewig gut und fruchtbar, tut der göttlichen Gerechtigkeit in Ewigkeit für die Sünden aller Menschen genug, die sich sicher und gläubig darauf verlassen.“ Doch lehrte er deutlich, daß es den Menschen wegen der Gnade Christi nicht freistehe, in Sünde fortzufahren. „Siehe, wo der wahre Glaube ist (der von der Liebe nicht geschieden), da ist Gott. Wo aber Gott ist, da geschieht nichts Arges,... da fehlt es nicht an guten Werken.“ (Zwingli 1, S. 182 f., Art. 5.)
Zwinglis Predigten erregten ein solches Aufsehen, daß der Dom die Menge nicht fassen konnte, die kam, um ihm zuzuhören. Nach und nach wie sie es ertragen konnten, eröffnete er seinen Zuhörern die Wahrheit. Er war sorgfältig, nicht gleich am Anfang Lehren einzuführen, welche sie erschrecken und Vorurteile erregen würden. Seine Aufgabe war, ihre Herzen für die Lehren Christi zu gewinnen, sie durch seine Liebe zu erweichen und ihnen sein Beispiel vor Augen zu halten; dann würden auch, indem sie die Grundsätze des Evangeliums annahmen, ihre abergläubischen Begriffe und Gebräuche unvermeidlich schwinden.
Schritt für Schritt ging die Reformation in Zürich vorwärts Voll Schrecken erhoben sich ihre Feinde zu tatkräftigem Widerstand. Ein Jahr zuvor hatte der Mönch von Wittenberg in Worms dem Papst und dem Kaiser sein Nein ausgesprochen, und nun schien in Zürich alles auf ein ähnliches Widerstreben gegen die päpstlichen Aussprüche hinzudeuten. Zwingli wurde wiederholt angegriffen. In den päpstlichen Kantonen wurden von Zeit zu Zeit Jünger des Evangeliums auf den Scheiterhaufen gebracht., doch das genügte nicht; der Lehrer der Ketzerei mußte zum Schweigen gebracht werden. Demgemäß sandte der Bischof von Konstanz drei Abgeordnete an den Rat zu Zürich mit der Anklage, daß Zwingli das Volk lehre, die Gesetze der Kirche zu übertreten und er somit den Frieden und die gute Ordnung der Gesellschaft gefährde. Sollte aber, behauptete er, die Autorität der Kirche unberücksichtigt bleiben, so würde ein Zustand allgemeiner Gesetzlosigkeit eintreten. Zwingli antwortete: „Ich habe schon beinahe vier Jahre lang das Evangelium Jesu mit saurer Mühe und Arbeit hier gepredigt. Zürich ist ruhiger und friedlicher als kein anderer Ort der Eidgenossenschaft, und dies schreiben alle guten Bürger dem Evangelium zu.“ (Wirz, B d. 4, S. 226. 227.)
Die Abgeordneten des Bischofs hatten die Räte ermahnt, da es außer der Kirche kein Heil gebe, in ihr zu verharren. Zwingli erwiderte: „Laßt euch, liebe Herrn und Bürger, durch diese Ermahnung nicht auf den Gedanken führen, daß ihr euch jemals von der Kirche Christi gesondert habt. Ich glaube zuversichtlich, daß ihr euch noch wohl zu erinnern wißt, was ich euch in meiner Erklärung über Matthäus gesagt habe, daß jener Fels, welcher dem ihn redlich bekennenden Jünger den Namen Petrus gab, das Fundament der Kirche sei. In jeglichem Volk, an jedem Ort, wer mit seinem Munde Jesum bekennt und im Herzen glaubt, Gott habe ihn von den Toten auferweckt, wird selig werden. Es ist gewiß, daß niemand außer derjenigen Kirche selig werden kann.“ (Ebd. S. 233.) Die Folge der Verhandlung war, daß bald darauf Wanner, einer der drei Abgeordneten des Bischofs, sich offen zum Evangelium bekannte. (Staehelin, Zwingli, 1. Bd. 5. Kap. S. 212. Basel, 1895.)
Der Züricher Rat lehnte jedes Vorgehen gegen Zwingli ab, und Rom rüstete sich zu einem neuen Angriff. Da aber Zwingli vernahm, daß sie den Kampf erneuern wollten, schrieb er, „welche ich weniger fürchte, wie ein hohes Ufer die Wellen drohender Flüsse. Mit Gott!“ (Zwingli 7, S. 202, 22. Mai 1522.) Die Anstrengung der Priester förderten nur die Sache, welche sie zu stürzen trachteten. Die Wahrheit breitete sich immer mehr aus. In Deutschland faßten die Anhänger Luthers, welche durch sein Verschwinden niedergeschlagen waren, neuen Mut, da sie von dem Fortschritt des Evangeliums in der Schweiz hörten.
Als die Reformation in Zürich Wurzel faßte, sah man ihre Früchte in der Unterdrückung des Lasters und in der Förderung guter Ordnung und friedlichen Einvernehmens, so daß Zwingli schreiben konnte: „Der Friede weilt in unserer Stadt. Zu dieser Ruhe hat aber wohl die Einigkeit der Prediger des Worts nicht das geringste beigetragen. Zwischen uns gibt es keine Spannung, keine Zwietracht, keinen Neid, keine Zänkereien und Streitigkeiten. Wem könnte man aber diese Übereinstimmung der Gemüter mehr zuschreiben als wie dem höchsten, besten Gott?“ (Zwingli, 7, S. 389, 5. April 1525.)
Die von der Reformation errungenen Siege reizten die Anhänger Roms zu noch größeren Anstrengungen, sie zu vernichten. Da die Unterdrückung der Sache Luthers in Deutschland durch Verfolgung so wenig fruchtete, entschlossen sie sich, die Reform mit ihrer eigenen Waffe zu schlagen. Sie wollten ein Streitgespräch mit Zwingli halten, und da die Anordnung der Sache in ihrer Hand lag, wollten sie sich dadurch den Sieg sichern, daß sie beides, den Kampfplatz und die Richter wählten, welche zwischen den Streitenden entscheiden sollten. Konnten sie einmal Zwingli in ihre Gewalt bekommen, dann wollten sie schon dafür sorgen, daß er ihnen nicht entwische. Und war der Führer zum Schweigen gebracht, dann konnte die Bewegung rasch erstickt werden. Doch verheimlichten sie sorgfältig ihre Absicht.
Das Religionsgespräch wurde in Baden abgehalten; Zwingli wohnte aber nicht bei. Der Züricher Rat mißtraute den Absichten Roms, auch das Auflodern der in den katholischen Kantonen für die Evangelischen angezündeten Scheiterhaufen diente als Warnung; Deshalb verbot er seinem Seelsorger, sich dieser Gefahr auszusetzen. Zwingli stand bereit, sich allen Römlingen in Zürich zur Verantwortung zu stellen, aber nach Baden zu gehen, wo eben erst das Blut von Märtyrern um der Wahrheit willen vergossen worden war, hätte für ihn nur sicheren Tod bedeutet. Ökolampad und Haller vertraten die Reformation, während der bekannte Dr. Eck, den eine Schar päpstlicher Gelehrten und Kirchenfürsten unterstützten, der Kämpe Roms war.
War auch Zwingli nicht zugegen, so wurde doch sein Einfluß verspürt. Die Katholischen hatten selbst die Schreiber bestimmt, und allen andern war jede Aufzeichnung bei Todesstrafe verboten. Dessen ungeachtet erhielt Zwingli täglich von den in. Baden abgehaltenen Reden genauen Bericht. Ein bei den Verhandlungen anwesender Student schrieb jeden Abend die Beweisführungen auf. Zwei andere Jünglinge übernahmen es, diesen Bericht über die Verhandlungen des Tages sowie die brieflichen Anfragen Ökolompads und seiner Genossen an Zwingli zu befördern. Die brieflichen Antworten des Reformators mußten nachts geschrieben und seine Ratschläge und Andeutungen erteilt werden. Frühmorgens kehrten dann die Jünglinge nach Baden zurück. Um der Wachsamkeit der an den Stadttoren aufgestellten Hüter zu entgehen, brachten sie auf ihren Häuptern Körbe mit Federvieh und konnten so ungehindert hindurchgehen.
Auf diese Weise kämpfte Zwingli mit seinen verschlagenen Gegnern. „Er hat“, schreibt Myconius, „während des Gesprächs durch Nachdenken, Wachen, Raten, Ermahnen und Schreiben mehr gearbeitet, als wenn er der Disputation selbst beigewohnt hätte.“ (Zwingli, 7, S. 517; Myconius, Vita Zwingli, S. 10.)
Die Römlinge, jubelfroh infolge des voraussichtlichen Sieges, hatten sich in ihrem schönsten Kleide und ihren glänzendsten Juwelen nach Baden begeben. Sie lebten schwelgerisch; ihre Tafeln waren mit den köstlichsten Leckerbissen und ausgesuchtesten Weinen besetzt. Die Lasten ihrer kirchlichen Pflichten wurden mit Schmausen und Lustbarkeiten erleichtert. In bezeichnendem Gegensatz erschienen die Reformatoren, welche von dem Volke als wenig besser denn eine Schar von Bettlern angesehen wurden, und ihre anspruchslosen Mahlzeiten hielten sie nur kurze Zeit bei Tische. Ökolampads Hauswirt, der Anlaß nahm, ihn auf seinem Zimmer zu überwachen, fand ihn stets beim Studium oder im Gebet und sagte in großer Verwunderung: „Man muß gestehen, das ist ein sehr frommer Ketzer.“ (D'Aubigné, 11. Buch, 13. Kap., S. 271, Stuttgart, 1848. Siehe auch Bullinger, 1. Bd., 189 Kap. S. 351, Frauenfeld, 1838.)
Bei der Versammlung betrat Eck „eine prächtig verzierte Kanzel, der einfach gekleidete Ökolampad mußte ihm gegenüber auf ein grob gearbeitetes Gerüste treten.“ (D'Aubigné, ebd., S. 270.) Ecks mächtige Stimme und seine unbegrenzte Zuversicht ließen ihn nie im Stich. Sein Eifer wurde durch die Aussicht auf Gold und Ruhm gereizt, war doch dem Verteidiger des Glaubens eine ansehnliche Belohnung zugesichert. Wo es ihm an besseren Belegen mangelte, wandte er beleidigende Reden und sogar Flüche an.
Der bescheidene Ökolampad, der in sich kein Vertrauen setzte, hatte vor dem Streit zurückgeschreckt und erklärte am Anfang feierlichst, daß alles nach dem Worte Gottes als Richtschnur ausgemacht werden sollte. Sein Auftreten war bescheiden und geduldig, doch erwies er sich als fähig und tapfer. „Eck, der mit der Schrift nicht zurechtkommen konnte, berief sich immer wieder auf Überlieferungen und Herkommen, Ökolompad antwortet: ’Über allen Übungen steht in unserem Schweizerlande das Landesrecht. Unser Landbuch aber (in Glaubenssachen) ist die Bibel.` (Hagenbach, Väter d. ref. Kirche, Bd. 2, S. 94.)
Der Gegensatz zwischen den beiden Hauptrednern verfehlte nicht seine Wirkung. Die ruhige, deutliche Beweisführung Ökolampads und sein bescheidenes Betragen gewannen die Gemüter für sich, welche sich mit Widerwillen von den prahlerischen und lauten Behauptungen Ecks abwandten. Das Religionsgespräch dauerte 18 Tage. An dessen Schlusse beanspruchten die Anhänger Roms mit großer Zuversicht den Sieg. Die meisten Abgesandten hielten es mit Rom, und die Sitzung erklärte die Reformatoren für geschlagen und mit Zwingli, ihrem Haupt, von der Kirche ausgeschlossen. Die Früchte dieses Religionsgespräches offenbarten jedoch, auf welcher Seite der Vorteil lag. Das Streitgespräch verlieh der protestantischen Sache einen starken Antrieb, und nicht lange nachher erklärten sich die wichtigen Städte Bern und Basel für die Reformation.


 
KAPITEL 10

FORTSCHRITT DER REFORMATION IN DEUTSCHLAND

Luthers geheimnisvolles Verschwinden erregte in ganz Deutschland Bestürzung. Nachfragen über ihn wurden überall gemacht. Die wildesten Gerüchte wurden in Umlauf gesetzt, und viele glaubten, er sei ermordet worden. Es entstand großes Klagen, nicht nur unter seinen offenen Freunden, sondern auch unter Tausenden, welche nicht öffentlich ihren Stand für die Reformation genommen hatten. Manche banden sich durch einen feierlichen Eid, seinen Tod zu rächen.
Die römischen Machthaber sahen mit Schrecken, auf welche Höhe die Gefühle gegen sie gestiegen waren. Obgleich sie erst über den vermeintlichen Tod Luthers frohlockten, wünschten sie bald, sich vor dem Zorn des Volkes zu verbergen. Seine Feinde waren durch die kühnsten Handlungen während seines Verweilens unter ihnen nicht so beunruhigt worden wie durch sein Verschwinden. Die in ihrer Wut den kühnen Reformator umzubringen suchten, wurden nun, da er ein hilfloser Gefangener war, mit Furcht erfüllt. „Es bleibt uns nur das Rettungsmittel übrig,“ sagte einer, „daß wir Fackeln anzünden und Luther in der Welt aufsuchen, um ihn dem Volke, das nach ihm verlangt, wiederzugeben.“ (D'Aubigné, 9. Buch, 1. Abschn., S. 5, Stuttgart, 1848.) Der Erlaß des Kaisers schien kraftlos zu sein, und die päpstlichen Gesandten wurden entrüstet, als sie sahen, daß ihm weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde als dem Schicksal Luthers.
Die Kunde, daß er, wenngleich ein Gefangener, doch in Sicherheit sei, beruhigte die Befürchtungen des Volkes, steigerte aber auch dessen Begeisterung für ihn. Seine Schriften wurden mit größerer Begierde gelesen als je zuvor. Eine stets wachsende Zahl schloß sich der Sache des heldenmütigen Mannes an, der einer so ungeheuren Überlegenheit gegenüber das Wort Gottes verteidigt hatte. Die Reformation gewann fortwährend an Kraft. Der von Luther gesäte Same ging überall auf. Seine Abwesenheit vollbrachte ein Werk, welches seine Anwesenheit nicht hätte tun können. Andere Arbeiter fühlten jetzt, da ihr großer Anführer verschwunden war, eine ernste Verantwortlichkeit. Mit neuem Glauben und Eifer strebten sie voran, um alles zu tun, was in ihrer Macht stehe, damit das so edel begonnene Werk nicht gehindert werde.
Satan war jedoch auch nicht müßig. Er versuchte nun, was er bei jeder anderen Reformbewegung zu tun versucht hat - das Volk zu täuschen und zu verderben, indem er an Stelle des wahren Werkes eine Nachahmung unterschob. Wie es im ersten Jahrhundert der christlichen Gemeinde falsche Christi gab, so erhoben sich im 16. Jahrhundert falsche Propheten.
Etliche Männer, durch die Erregung in der religiösen Welt tief ergriffen, bildeten sich ein, besondere Offenbarungen vom Himmel erhalten zu haben und erhoben den Anspruch, göttlich beauftragt worden zu sein, das Werk der Reformation, das von Luther nur schwach begonnen worden sei, zur Vollendung zu bringen. In Wahrheit rissen sie gerade das wieder nieder, was er aufgebaut hatte. Sie verwarfen den Hauptgrundsatz, die wahre Grundlage der Reformation - das Wort Gottes als die allgenugsame Glaubens und Lebensregel, und setzten an Stelle jenes untrüglichen Führers den veränderlichen, unsicheren Maßstab ihrer eigenen Gefühle und Eindrücke. Dadurch wurde der große Prüfstein des Irrtums und des Betrugs beseitigt und Satan der Weg geöffnet, die Gemüter zu beherrschen, wie es ihm am besten gefiel.
Einer dieser Propheten behauptete, von dem Engel Gabriel unterrichtet worden zu sein. Ein Student, der sich mit ihm vereinigte, verließ seine Studien und erklärte, von Gott selbst mit Weisheit ausgerüstet zu sein, die Schrift auszulegen. Andere, die von Natur zur Schwärmerei geneigt waren, verbanden sich mit ihnen. Das Vorgehen dieser Schwarmgeister rief keine geringe Aufregung hervor. Luthers Predigten hatten überall das Volk erweckt, um die Notwendigkeit einer Reform einzusehen, und nun wurden einige wirklich redliche Seelen durch die Behauptungen der neuen Propheten irregeleitet.
Die Anführer der Bewegung begaben sich nach Wittenberg und nötigten Melanchthon und seinen Mitarbeitern ihre Ansprüche auf. Sie sagten: „Wir sind von Gott gesandt, das Volk zu unterweisen. Wir haben vertrauliche Gespräche mit Gott und sehen in die Zukunft; wir sind Apostel und Propheten und berufen uns auf den Doktor Luther.“ (Ebd., 9. Buch, 7. Abschn., S. 42f.)
Die Reformatoren waren erstaunt und verlegen. Dies war eine derartige Richtung, wie sie es nie zuvor angetroffen hatten, und sie wußten nicht, welches Verfahren dagegen einzuschlagen sei. Melanchthon sagte: „Diese Leute sind ungewöhnliche Geister, aber was für Geister? ... Wir wollen den Geist nicht dämpfen, aber uns auch vom Teufel nicht verführen lassen.“ (Ebd.)
Die Früchte dieser neuen Lehre wurden bald offenbar. Das Volk wurde zur Vernachlässigung oder gänzlichen Verwerfung der Bibel verleitet. Die Hochschulen wurden in Verwirrung gestürzt. Studierende verließen, sich über alle Schranken hinwegsetzend, ihre Studien und zogen sich von der Universität zurück. Die Männer, welche sich selbst als maßgebend betrachteten, das Werk der Reformation wieder zu beleben und zu leiten, brachten sie bis zum Rande des Untergangs. Die Römlinge gewannen nun ihr Vertrauen wieder und riefen frohlockend aus: „Noch ein Versuch,... und alles wird wiedergewonnen.“ (Ebd.)
Als Luther auf der Wartburg hörte, was vorging, sagte er in tiefem Kummer: „Ich habe immer erwartet, daß Satan uns eine solche Wunde versetzen würde.“ (s. vorige Anm.) Er gewahrte den wahren Charakter jener angeblichen Propheten und sah die Gefahr, welche der Sache der Wahrheit drohte. Der Widerstand des Papstes und des Kaisers hatte ihm nicht so große Unruhe und Kummer verursacht, wie er nun durchmachte. Aus den vorgeblichen Freunden der Reformation waren die schlimmsten Feinde erwachsen. Gerade die Wahrheiten, welche ihm so große Freude und Trost gebracht hatten, wurden jetzt benutzt, um Zwiespalt und Verwirrung in der Gemeinde zu stiften.
In dem Werke der Reformation war Luther vom Geiste Gottes angetrieben und über sich selbst hinaus geführt worden. Er hatte nicht beabsichtigt, eine Stellung, wie die seinige jetzt war, einzunehmen oder so gründliche Veränderungen zu machen. Er war nur das Werkzeug in der Hand der unendlichen Macht Gottes gewesen. Doch zitterte er oft für die Folgen seines Werkes. Einst hatte er gesagt: „Wüßte ich, daß meine Lehre einem einfältigen Menschen schadete (und das kann sie nicht, denn sie ist das Evangelium selbst), so möchte ich eher zehn Tode leiden, als nicht widerrufen.“ (Ebd. Siehe auch Anhang.)
Jetzt fiel aber Wittenberg selbst, der eigentliche Mittelpunkt der Reformation, schnell unter die Macht des Fanatismus und der Gesetzlosigkeit. Dieser schreckliche Zustand wurde nicht von Luthers Lehren verursacht, und doch warfen in ganz Deutschland seine Feinde die Schuld auf ihn. In der Bitterkeit seiner Seele fragte er zuweilen: „Dahin sollte es mit der Reformation kommen?“ Wenn er aber mit Gott im Gebet rang, ergoß sich der Friede in sein Herz: „Gott hat es begonnen, Gott wird es vollenden.“ (Siehe vorige Anm.) „Du wirst es nicht dulden, daß es durch Aberglauben und Fanatismus verderbt wird.“ Doch der Gedanke, sich zu dieser entscheidenden Zeit länger von dem Schauplatz des Kampfes fernzuhalten, wurde ihm unerträglich; er entschloß sich, nach Wittenberg zurückzukehren.
Ohne Verzug trat er seine gefahrvolle Reise an. Er war unter dem Reichsbann. Seinen Feinden stand es frei, ihm das Leben zu nehmen; seinen Freunden war es untersagt, ihm zu helfen oder ihn zu beschützen. Die kaiserliche Regierung ergriff die strengsten Maßregeln gegen seine Anhänger. Aber er sah, daß das Evangeliumswerk gefährdet war, und im Namen des Herrn ging er furchtlos für die Wahrheit in den Kampf.
In einem Schreiben an den Kurfürsten sagte Luther, nachdem er seine Absicht, die Wartburg zu verlassen, ausgesprochen hatte: „E.K. Gnaden wisse, ich komme gen Wittenberg in gar viel einem höheren Schutz denn des Kurfürsten. Ich hab‘s auch nicht im Sinne von E.K. Gnaden Schutz zu begehren; ja ich halt, ich wollte E.K. Gnaden mehr schützen, denn sie mich schützen könnte. Dazu, wenn ich wüßte, daß E.K. Gnaden mich könnte und wollte schützen, so wollte ich nicht kommen. Dieser Sache soll noch kann kein Schwert raten oder helfen, Gott muß hier allein schaffen, ohne alles menschliche Sorgen und Zutun. Darum, wer am meisten glaubt, der wird hier am meisten schützen.“ (Ebd., 9. Buch, 8. Absch., S. 53f).
In einem zweiten Brief, den er auf dem Wege nach Wittenberg verfaßte, fügte Luther hinzu: „Ich will E.K. Gnaden Ungunst und der ganzen Welt Zorn ertragen. Die Wittenberger sind meine Schafe. Gott hat sie mir anvertraut. Ich muß mich für sie in den Tod begeben. Ich fürchte in Deutschland einen großen Aufstand, wodurch Gott unser Volk strafen will. (Ebd.)
Mit großer Vorsicht und Demut, doch fest und entschlossen, trat er sein Werk an. „Mit dem Worte“, sagte er, „müssen wir streiten, mit dem Worte stürzen, was die Gewalt eingeführt hat. Ich will keinen Zwang gegen Aber- und Ungläubige. … Keiner soll zum Glauben und zu dem, was des Glaubens ist, gezwungen werden.“ (s. vorige Anm.) Bald wurde es in Wittenberg bekannt, daß Luther zurückgekehrt sei und predigen solle. Das Volk strömte aus allen Richtungen herbei, und die Kirche war überfüllt. Er bestieg die Kanzel und lehrte, ermahnte und strafte mit großer Weisheit und Zartgefühl. Indem er auf das Verfahren etlicher hinwies, welche sich der Gewalt bedient hatten, um die Messe abzuschaffen, sagte er:
„Die Messe ist ein böses Ding, und Gott ist ihr feind; sie muß abgetan werden, und ich wollte, daß in der ganzen Welt allein die gemeine evangelische Messe gehalten würde. Doch soll man niemand mit dem Haar davonreißen, denn Gott soll man hierin die Ehre geben und sein Wort allein wirken lassen, nicht unser Zutun und Werk. Warum? Ich habe nicht in meiner Hand die Herzen der Menschen, wie der Hafner den Leimen. Wir haben wohl das Recht der Rede, aber nicht das Recht der Vollziehung. Das Wort sollen wir predigen, aber die Folge soll allein in seinem Gefallen sein. So ich nun darein falle, so wird dann aus dem Gezwang oder Gebot ein Spiegelfechten, ein äußerlich Wesen, ein Affenspiel, aber da ist kein gut Herz, kein Glaube, keine Liebe. Wo diese drei fehlen, ist ein Werk nichts; ich wollte nicht einen Birnstiel darauf geben. ... Also wirkt Gott mit seinem Wort mehr, denn wenn du und ich alle Gewalt auf einen Haufen schmelzen. Also wenn du das Herz hast, so hast du ihn nun gewonnen. …
„Predigen will ich‘s, sagen will ich‘s, schreiben will ich‘s; aber zwingen, dringen mit der Gewalt will ich niemand, denn der Glaube will willig und ohne Zwang angezogen werden. Nehmt ein Exempel an mir. Ich bin dem Ablaß und allen Papisten entgegen gewesen, aber mit keiner Gewalt. Ich hab allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst hab ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe … also viel getan, daß das Papsttum also schwach geworden ist, daß ihm noch nie kein Fürst noch Kaiser so viel abgebrochen hat. Ich habe nichts getan, das Wort hat es alles gehandelt und ausgericht. Wenn ich hätte wollen Ungemach fahren, ich wollte Deutschland in ein groß Blutvergießen gebracht haben. Aber was wär es? Ein Verderbnis an Leib und Seele. Ich habe nichts gemacht, ich habe das Wort lassen handeln.“ (Ebd.)
Tag um Tag, eine ganze Woche lang, predigte Luther der aufmerksam lauschenden Menge. Das Wort Gottes brach den Bann der fanatischen Aufregung. Die Macht des Evangeliums brachte das irregeleitete Volk auf den Weg der Wahrheit zurück.
Luther hatte kein Verlangen, den Schwärmern, deren Verfahren so großes Übel hervorgebracht hatte, zu begegnen. Er wußte, daß es Männer von erkrankter Urteilskraft und unbeherrschten Leidenschaften waren, welche, während sie behaupteten, vom Himmel besonders erleuchtet zu sein, nicht den geringsten Widerspruch oder auch nur die freundlichste Ermahnung oder einen Rat dulden würden. Da sie sich selbst die höchste Autorität anmaßten, verlangten sie von einem jeden, daß er ohne jegliche Frage ihre Ansprüche anerkenne. Als sie aber eine Unterredung mit ihm verlangten, willigte er ein mit ihnen zusammenzukommen; und so erfolgreich stellte er ihre Anmaßungen bloß, daß die Betrüger Wittenberg plötzlich verließen.
Die Schwärmerei war für eine Zeit lang gedämpft, brach aber einige Jahre später mit noch größerer Heftigkeit und schrecklicheren Folgen abermals aus. Luther sagte betreffs der Anführer in dieser Bewegung: „Die Heilige Schrift war für sie nichts als ein toter Buchstabe, und alle schrien: Geist, Geist! Aber wahrlich,, ich gehe nicht mit ihnen, wohin ihr Geist sie führt. Der barmherzige Gott behüte mich ja vor der christlichen Kirche, darin lauter Heilige sind. Ich will da bleiben, wo es Schwache, Niedrige, Kranke gibt, welche ihre Sünden kennen und empfinden, welche unablässig nach Gott seufzen und schreien aus Herzensgrund, um seinen Trost und Beistand zu erlangen.“
Thomas Münzer, der tätigste dieser Schwärmer, war ein Mann von beträchtlicher Fähigkeit, welche ihn, wenn richtig geleitet, in den Stand gesetzt haben würde, Gutes zu tun; er hatte jedoch die ersten Grundsätze wahrer Religion nicht gelernt. Er bildete sich ein, er sei von Gott verordnet, die Welt zu reformieren, wobei er gleich vielen anderen Schwärmern vergaß, daß die Reform bei ihm selbst zu beginnen habe. Er war ehrgeizig, Stellung und Einfluß zu erreichen und nicht willig, irgend jemanden nachzustehen, auch Luther nicht. Er schuldigte die Reformatoren an, sie richteten, da sie sich allein an die Bibel hielten, nur eine andere Art Papsttum auf. Er betrachtete sich selbst als von Gott berufen die wahre Reformation einzuführen. „Wer diesen Geist besitzt,“ sagte er, „hat den wirksamen Glauben, und wenn er auch sein Leben lang nichts von der Heiligen Schrift sähe.“
Die schwärmerischen Lehrer ließen sich von Eindrücken leiten, indem sie jeden Gedanken und jeglichen Antrieb als Stimme Gottes bezeichneten; in Folge dessen begingen sie die größten Übertreibungen. Einige verbrannten sogar ihre Bibeln, wobei sie ausriefen: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ Münzers Lehren richteten sich an das dem Menschen angeborene Verlangen nach dem Wunderbaren, während sie ihren Stolz dadurch befriedigten, daß sie menschliche Ideen und Meinungen in der Tat über Gottes Wort erhoben. Tausende nahmen seine Lehre an. Bald verwarf er alle Ordnung im öffentlichen Gottesdienst und erklärte, daß den Fürsten gehorchen so viel heiße, als zu versuchen, Gott und Belial zu dienen.
Die Gemüter des Volkes, das bereits anfing, das Joch des Papsttums abzuschütteln, wurden auch ungeduldig unter den Einschränkungen der Staatsgewalt. Münzers revolutionäre Lehren, für die er göttliche Eingebung beanspruchte, führte sie dahin, sich von aller Einschränkung loszureißen und ihren Vorurteilen und Leidenschaften Zügel schießen zu lassen. Die schrecklichsten Auftritte der Empörung und des Streites folgten, und die Gefilde Deutschlands wurden mit Blut getränkt.
Der Seelenkampf, welchen Luther so lange zuvor zu Erfurt durchgemacht hatte, stürmte nun mit verdoppelter Wucht auf ihn ein, als er sah, daß die Folgen der Schwärmerei der Reformation zur Last gelegt wurden. Die päpstlichen Fürsten erklärten – und viele standen bereit es zu glauben – daß Luthers Lehre die Ursache der Empörung gewesen sei. Obwohl die Anschuldigung auch der geringsten Grundlage entbehrte, mußte sie doch dem Reformator großen Kummer verursachen. Daß die Sache der Wahrheit auf diese Weise herabgewürdigt werden sollte, indem man sie zu der niedrigsten Schwärmerei gesellte, schien mehr zu sein, als er aufzuhalten vermochte. Auf der anderen Seite haßten die Anführer des Aufstandes Luther, weil er sich nicht nur ihren Lehren widersetzt und ihre Ansprüche auf göttliche Eingebung verleugnet, sondern sie als Empörer gegen die bürgerliche Obrigkeit erklärt hatte. In Wiedervergeltung erklärten sie ihn als gemeinen Betrüger. Er schien sich sowohl die Feinschaft der Fürsten wie die des Volkes zugezogen zu haben.
Die Römlinge frohlockten, indem sie erwarteten, den baldigen Untergang der Reformation zu erblicken. Und sie tadelten Luther sogar für die Irrtümer, die er mit größten Eifer zu verbessern gesucht hatte. Die schwärmerische Partei bewerkstelligte es, durch die Behauptung, sie seien mit großer Ungerechtigkeit behandelt worden, die Zuneigung einer großen Menschenmasse zu gewinnen, und wie das öfters der Fall ist mit denen, welche sich auf die Seite des Unrechts stellen, wurden sie als Märtyrer betrachtet. Gerade diejenigen, welche alle Energie aufwandten, um sich der Reformation zuwidersetzen, wurden auf diese Weise als Opfer der Grausamkeit und Unterdrückung bemitleidet und gepriesen. Dies war das Werk Satans, angeregt von demselben Geist der Empörung, der zuerst im Himmel an den Tag gelegt wurde.
Satan sucht beständig, die Menschen zu hintergehen und verleitet sie, die Sünde Gerechtigkeit, und die Gerechtigkeit Sünde zu nennen. Wie erfolgreich ist sein Werk gewesen! Wie oft werden Tadel und Vorwürfe auf Gottes treue Diener geschleudert, weil sie entschlossen sind, furchtlos für die Verteidigung der Wahrheit aufzutreten! Männer, welche die Werkzeuge Satans sind, werden gepriesen und mit Schmeicheleien überhäuft, ja sogar als Märtyrer angesehen, während diejenigen, welche um ihrer Treue zu Gott willen, geachtet und unterstützt werden sollten, unter Verdacht und Mißtrauen alleine stehen gelassen werden.
Unechte Heiligkeit, gefälschte Heiligung, tun noch immer ihr Werk des Betruges. Unter verschiedenen Formen zeigen sie denselben Geist wie in den Tagen Luthers; sie lenken auch heute noch die Gemüter von der Heiligen Schrift ab und verführen die Menschen dazu, ihren eigenen Gefühlen und Eindrücken zu folgen, eher als dem Gesetz Gottes Gehorsam zu leisten. Dies ist einer der erfolgreichsten Anschläge Satans, um die Unschuld und die Wahrheit mit Vorwürfen zu belasten.
Furchtlos verteidigte Luther das Evangelium vor den Angriffen, welche von allen Seiten kamen. Das Wort Gottes bewies sich als mächtige Waffe in jeglichem Streit. Mit diesem Wort kämpfte er gegen die angemaßte Autorität des Papstes und die rationalistische Philosophie der Gelehrten, während er fest wie ein Fels der Schwärmerei widerstand, welche sich mit der Reformation zu verbinden suchte.
Jedes dieser gegnerischen Elemente setzte in seiner eigenen Weise die Heilige Schrift beiseite und erhob die menschliche Weisheit zur Quelle religiöser Wahrheit und Erkenntnis. Der Rationalismus vergöttert die Vernunft und machte sie zum Richter der Religion. Die römische Kirche, indem sie für ihren allerhöchsten Oberpriester eine in ununterbrochener Linie von den Aposteln abstammende und durch alle Zeiten unveränderliche Inspiration beansprucht, gibt für jede Art von Ausschweifung und Verderbnis reichliche Gelegenheit, sich unter dem Deckmantel geheiligter apostolischer Beauftragung verborgen zu halten. Die von Münzer und seinen Gefährten beanspruchte Eingebung ging aus keiner höheren Quelle als den seltsamen Ideen der Einbildung hervor, und ihr Einfluß wirkte zerstörend auf alle Autorität, menschliche sowohl als göttliche. Wahres Christentum nimmt das Wort Gottes als das große Schatzhaus der inspirierten Wahrheit und den Prüfstein aller Eingebung an.
Nach seiner Rückkehr von der Wartburg vollendete Luther seine Übersetzung des Neuen Testamentes, und bald wurde das Evangelium dem deutschen Volk in seiner eigenen Sprache gegeben. Diese Übersetzung wurde von allen, welche die Wahrheit liebten, mit großer Freude aufgenommen, aber höhnisch von denen, welche menschliche Überlieferungen und Menschengebote vorzogen, verworfen.
Die Priester beunruhigte der Gedanke, daß das gewöhnliche Volk jetzt fähig sein werde, mit ihnen die Lehren des Wortes Gottes zu besprechen, und daß ihre eigene Unwissenheit dadurch bloßgestellt werde. Die Waffen ihrer fleischlichen Vernunft waren machtlos gegen das Schwert des Geistes. Rom bot seinen ganzen Einfluß auf, um die Verbreitung der Heiligen Schrift zu hindern; aber Dekrete, Bannflüche und Folter waren in gleichem Maße wirkungslos. Je mehr es die Bibel verdammte und verbot, desto mehr verlangte das Volk danach, zu erfahren, was sie wirklich lehre. Alle, die lesen konnten, waren begierig, das Wort Gottes für sich selbst zu erforschen. Sie führten es mit sich, sie lasen es und lasen es wiederum und waren nicht befriedigt, bis sie große Teile auswendig gelernt hatten. Als Luther sah, mit welcher Gunst das Neue Testament aufgenommen wurde, machte er sich unverzüglich an die Übersetzung des Alten und veröffentlichte Teile davon so schnell wie sie vollendet wurden.
Luthers Schriften wurden in Stadt und Land gleich willkommen geheißen. „Was Luther und seine Freunde schrieben, wurde von andern verbreitet. Mönche, welche sich von der Ungesetzlichkeit der Klostergelübde überzeugt hatten und nach ihrer langen Untätigkeit ein arbeitsames Leben führen wollten, aber für die Predigt des göttlichen Worts zu geringe Kenntnisse besaßen, durchstreiften die Provinzen, um Luthers Bücher zu verkaufen. Es gab bald sehr viele dieser mutigen Hausierer.“ (Ebd., 9. Buch, 11. Abschn., S. 88)
Mit großer Begierde wurden diese Schriften von Reichen und Armen, Gelehrten und Ungelehrten durchforscht. Abends lasen die Dorfschullehrer sie kleinen um den Herd versammelten Gruppen laut vor. Bei jeder unternommenen Anstrengung wurden einige Seelen von der Wahrheit überzeugt, nahmen das Wort mit Freudigkeit auf und erzählten andern wiederum die frohe Kunde.
Die Worte der Bibel wurden bewahrheitet: „Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreut es und macht klug die Einfältigen.“ (Ps. 119, 130.) Das Erforschen der Heiligen Schrift bewirkte eine mächtige Veränderung in den Gemütern und Herzen des Volkes. Die päpstliche Herrschaft hatte ihren Untertanen ein eisernes Joch auferlegt, welches sie in Unwissenheit und Erniedrigung hielt. Eine abergläubische Wiederholung von Formen hatte man gewissenhaft befolgt; aber bei all diesem hatten Herz und Verstand nur einen geringen Anteil gehabt. Luthers Predigten, welche die deutlichen Wahrheiten des Wortes Gottes hervorhoben, und das Wort selbst, das in die Hände des gewöhnlichen Volkes gelegt, seine schlafenden Kräfte erweckt hatte, reinigten und veredelten nicht nur die geistliche Natur, sondern erteilten dem Verstand neue Kraft und Stärke.
Personen aller Stände konnte man mit der Bibel in der Hand die Lehren der Reformation verteidigen sehen. Die Päpstlichen, welche das Studium der Heiligen Schrift den Priestern und Mönchen überlassen hatten, forderten jetzt diese auf, aufzutreten und die neuen Lehren zu widerlegen. Aber sowohl die Priester als auch die Mönche, welche die Heilige Schrift und die Kraft Gottes nicht kannten, wurden von denen, die sie als ketzerisch und ungelehrt angeklagt hatten, vollkommen geschlagen. „Leider,“ sagt ein katholischer Schriftsteller, hatte Luther den Seinigen eingebildet, man dürfe nur den Aussprüchen der heiligen Bücher Glauben schenken.“ (Ebd., S. 86f.) Ganze Scharen versammelten sich, um zu hören, wie Männer von nur geringer Bildung die Wahrheit verteidigten und sie sogar mit gelehrten und beredten Theologen besprachen. Die schmähliche Unwissenheit der großen Männer wurde offenbar, als man ihren Beweisführungen mit den einfachen Lehren des Wortes entgegentrat. Handwerker und Soldaten, Frauen und selbst Kinder waren mit den Lehren der Bibel besser bekannt als die Priester oder die gelehrten Doktoren.
Als Unterschied zwischen den Jüngern des Evangeliums und den Verteidigern des päpstlichen Aberglaubens gab sich nicht minder in den Reihen der Gelehrten als unter dem gewöhnlichen Volk zu erkennen. „Die alten Stützen der Hierarchie hatten die Kenntnis der Sprachen und das Studium der Wissenschaft vernachlässigt, ihnen trat eine studierende, in der Schrift forschende, mit den Meisterwerken des Altertums sich befreundende Jugend entgegen. Diese aufgeweckten Köpfe und unerschrockenen Männer erwarben sich bald solche Kenntnisse, daß sich lange Zeit keiner mit ihnen messen konnte. … Wo die jungen Verteidiger der Reformation mit den römischen Doktoren zusammentrafen, griffen sie diese mit solcher Leichtigkeit und Zuversicht an, daß die unwissenden Menschen zögerten, verlegen wurden und sich allgemein gerechte Verachtung zuzogen.“ (Ebd., S. 86f.)
Als die römischen Geistlichen sahen, daß ihre Zuhörerschar geringer wurde, riefen sie die Hilfe der Behörden an und versuchten mit allen in ihrer Gewalt stehenden Mitteln, ihre Anhänger zurückzubringen. Aber das Volk hatte in den neuen Lehren das gefunden, was die Bedürfnisse der Seele befriedigte, und wandte sich von jenen ab, die es so lange mit wertlosen Trebern abergläubischer Gebräuche und menschlicher Überlieferungen gespeist hatten.
Als die Verfolgung gegen die Lehrer der Wahrheit entbrannte, beachteten diese die Worte Christi: „Wenn sie euch aber in einer Stadt verfolgen, so flieht in eine andere.“ (Matth. 10, 23.) Das Licht drang überall hin. Die Flüchtigen fanden irgendwo eine gastfreundliche Tür, die sich ihnen auftat, und daselbst einkehrend, predigten sie Christum; sei es in der Kirche oder, wenn ihnen dies Vorrecht versagt wurde, in Privatwohnungen oder unter freiem Himmel. Wo ihnen Gehör geschenkt wurde, da war für sie ein geweihter Tempel. Die Wahrheit, mit Tatkraft und Zuversicht verkündigt, breitete sich mit unwiderstehlicher Macht aus.
Vergebens wurden die kirchlichen und die bürgerlichen Obrigkeiten angerufen, die Ketzerei zu unterdrücken. Umsonst wandten sie Gefängnis, Folter, Feuer und Schwert an. Tausende von Gläubigen besiegelten ihren Glauben mit ihrem Blut, und doch ging das Werk vorwärts. Die Verfolgung diente nur dazu, die Wahrheit auszubreiten, und die auf Satans Antriebe mit ihr verbundene Schwärmerei bewirkte, daß der Unterschied zwischen dem Werke Gottes und dem Werke Satans um so deutlicher hervortrat.


 
KAPITEL 11

DER PROTEST DER FÜRSTEN

Eines der edelsten je für die Reformation geäußerten Zeugnisse ist der von den christlichen Fürsten Deutschlands 1529 auf dem Reichstag zu Speyer erhobene Protest. Der Mut, die Zuversicht und die Entschiedenheit dieser frommen Männer sicherten für die Zukunft Glaubens- und Gewissensfreiheit. Wegen dieses Protestes hießen die Anhänger des evangelischen Glaubens fortan Protestanten; die Grundsätze ihres Protestes „sind der wesentliche Inhalt des Protestantismus.“ (D'Aubigné, 13. Buch, 6. Kap-, S. 59, Stuttgart, 1848).
Ein dunkler und drohender Tag war für die Reformation angebrochen. Der Erlaß von Worms hatte Luther als vogelfrei erklärt und die Verbreitung des evangelischen Glaubens untersagt; doch beließ man es im Reiche bei einer religiösen Duldung. Die göttliche Vorsehung hatte die der Wahrheit feindlichen Mächte im Zaum gehalten. Wohl war Karl V. entschlossen, die Reformation auszurotten; sooft er aber die Hand zum Streiche erhob, zwangen ihn Umstände, wieder davon abzustehen. Mehrmals schien der unmittelbare Untergang aller Gegner Roms unausbleiblich; doch im verhängnisvollen Augenblick erschien das türkische Heer an der Ostgrenze, oder der König von Frankreich, ja gar der Papst selbst, neidisch auf die zunehmende Größe des Kaisers, zogen gegen diesen in den Krieg. Dadurch wurde inmitten der Streitigkeiten der Völker der Reformation die Gelegenheit geboten, sich innerlich zu kräftigen und auch auszubreiten.
Schließlich hatten jedoch die katholischen Fürsten ihre Zwistigkeiten beigelegt, um nun gemeinsame Sache wider die Reformatoren machen zu können. Der Reichstag zu Speyer im Jahre 1526 bewilligte jedem Staat völlige Freiheit in Religionssachen bis auf die Zeit des allgemeinen Reichstags. Doch kaum waren die Gefahren, unter denen diese günstige Lage gesichert wurde, vorüber, so berief der Kaiser 1529 einen weiteren Reichstag nach Speyer, um die Ketzerei zu vernichten. Die Fürsten sollten womöglich durch friedliche Mittel dahin gebracht werden, Stellung wider die Reformation zu nehmen; sollten diese nichts fruchten, so wollte der Kaiser zum Schwert greifen.
Die päpstlich Gesinnten stellten sich in gehobener Stimmung zahlreich zu Speyer ein und legten ihre Feindseligkeit gegen die Reformation und ihre Gönner offen an den Tag. Melanchthon schildert die Lage: „Wir sind ein Fluch und Kehricht aller Welt; aber Christus wird das arme Volk ansehen und retten.“ (Ebd., 5. Kap. S. 51f.) Den evangelischen Fürsten, die dem Reichstag beiwohnten, war es sogar untersagt, das Evangelium auch nur in ihren Wohnungen predigen zu lassen. Aber das Volk von Speyer dürstete nach dem Worte Gottes, und ungeachtet des Verbotes strömten Tausende zu den Gottesdiensten, die noch immer in der Kapelle des Kurfürsten von Sachsen abgehalten wurden.
Dies beschleunigte die Entscheidung. Eine kaiserliche Botschaft zeigte dem Reichstage an, daß, da der Gewissensfreiheit gewährende Beschluß zu großen Unordnungen Anlaß gegeben habe, der Kaiser fordere, ihn für null und nichtig zu erklären. Diese willkürliche Handlung erregte die Entrüstung und Bestürzung der evangelischen Christen. Einer sagte: „Christus ist wieder in den Händen von Kaiphas und Pilatus.“ (Ebd.) Die Römlinge wurden immer heftiger. Ein von blindem Eifer ergriffener Päpstlicher erklärte: „Die Türken sind besser als die Lutheraner; denn die Türken beobachten das Fasten und diese verletzen es. Man darf eher die Schrift als die alten Irrtümer der Kirche verwerfen.“ Melanchthon schrieb über Faber: „Täglich schleuderte er in seinen Predigten einen neuen Pfeil gegen die Evangelischen.“ (Ebd.)
Die religiöse Duldung war gesetzlich eingeführt worden, und die evangelischen Staaten waren entschlossen, sich diesem Eingriff in ihre Rechte zu widersetzen. Luther, der noch immer unter dem durch das Edikt von Worms auferlegten Reichsbann war, durfte in Speyer nicht zugegen sein; aber seine Stelle wurde durch seine Mitarbeiter und die Fürsten, welche Gott erweckt hatte, um seine Sache bei diesem Anlaß zu verteidigen, ausgefüllt. Der edle Friedrich von Sachsen, Luthers früherer Beschützer, war durch den Tod hinweg genommen worden; aber Herzog Johann, sein Bruder, der ihm auf dem Throne folgte, hatte die Reformation freudig willkommen geheißen, und während er ein Freund des Friedens war, legte er in allen Angelegenheiten, die sich auf den Vorteil des Glaubens bezogen, große Tatkraft und Mut an den Tag.
Die Priester verlangten, daß die Staaten, welche die Reformation angenommen hatten, sich der römischen Gerichtsbarkeit bedingungslos unterwerfen sollten. Die Reformatoren auf der anderen Seite machten die Freiheit geltend, die ihnen früher gewährt worden war. Sie konnten nicht einwilligen, daß Rom jene Länder, welche das Wort Gottes mit so großer Freude aufgenommen hatten, unter seine Herrschaft bringe.
Als Vergleich wurde schließlich vorgeschlagen, daß, wo die Reformation noch nicht zur Einrichtung geworden sei, das Edikt von Worms strenge eingeschärft werden solle; „wo man aber davon abgewichen und wo dessen Einführung ohne Volksaufruhr nicht möglich sei, solle man wenigstens nicht weiter reformieren, keine Streitfragen verhandeln, die Messe nicht verbieten, keinen Katholiken zum Luthertum übertreten lassen.“ (Ebd.) Dieser Vertrag wurde zur großen Genugtuung der päpstlichen Priester und Prälaten vom Reichstag genehmigt.
Falls diese Maßregel „Gesetzeskraft erhielt, so konnte sich die Reformation weder weiter ausbreiten,... wo sie noch nicht war, noch wo sie bestand, festen Boden gewinnen.“ (Ebd.) Die Redefreiheit wurde dadurch verboten. Keine Bekehrungen wurden gestattet. Von den Freunden der Reformation wurde verlangt, sich diesen Einschränkungen und Verboten ohne weiteres zu unterwerfen. Die Hoffnung der Welt schien dem Erlöschen nahe. „Die... Wiederherstellung der römischen Hierarchie mußte die alten Mißbräuche hervorrufen,“ und leicht konnte eine Gelegenheit gefunden werden, „das so stark erschütterte Werk vollends zu vernichten,“ und zwar durch Schwärmerei und Zwiespalt. (Ebd.)
Als die evangelische Partei zur Beratung zusammentrat, sah einer auf den andern in völliger Ratlosigkeit. Von einem zum andern ging die Frage: „Was ist zu tun?“ Gewaltige Folgen für die Welt standen auf dem Spiele. „Sollten die Leiter der Reformation nachgeben und das Edikt annehmen? Wie leicht hätten die Reformatoren in diesem entscheidenden Augenblick, der in der Tat ein höchst wichtiger war, sich dazu überreden können, eine verkehrte Richtung zu nehmen! Wie viele glaubhafte Vorwände und annehmbare Gründe für ihre Unterwerfung hätten sich finden lassen! Den lutherisch gesinnten Fürsten war die freie Ausübung ihres Glaubens zugesichert. Dieselbe Begünstigung erstreckte sich auf alle diejenigen ihrer Untertanen, welche, noch ehe die Maßregeln getroffen wurden, die reformierte Lehre angenommen hatten. Sollte sie dies nicht zufriedenstellen? Wie vielen Gefahren würde eine Unterwerfung ausweichen! Doch auf welch unbekannte Wagnisse und Kämpfe würde der Widerstand sie treiben! Wer weiß, welche Gelegenheit die Zukunft bieten mag? Lasset uns den Frieden annehmen; lasset uns den Ölzweig ergreifen, den uns Rom entgegenhält, und die Wunden Deutschlands schließen. Mit derartigen Beweisen hätten die Reformatoren sich in der Verfolgung einer Laufbahn, die unvermeidlich nicht lange nachher den Umsturz ihrer Sache zur Folge gehabt hätte, rechtfertigen können.
„Glücklicherweise erkannten sie den Grundsatz, worauf diese Anordnung beruhte und handelten im Glauben. Was war dieser Grundsatz? - Es war das Recht Roms, das Gewissen zu zwingen und eine freie Untersuchung zu untersagen. Sollten sie selbst aber und ihre protestantischen Untertanen sich nicht der Religionsfreiheit erfreuen? Ja, als eine Gunst, die in der Anordnung besonders vorgesehen war, nicht aber als ein Recht. In allem, was in diesem Abkommen nicht einbegriffen war, sollte der herrschende Grundsatz der Autorität maßgebend sein; das Gewissen wurde nicht in Erwägung gezogen; Rom war der unfehlbare Richter, und ihm muß man gehorchen. Die Annahme der vorgeschlagenen Anordnung wäre ein tatsächliches Zugeständnis gewesen, daß die Religionsfreiheit auf das protestantische Sachsen beschränkt werden müsse; was aber die übrige Christenheit angehe, so seien freie Untersuchung und das Bekenntnis des reformierten Glaubens Verbrechen, die mit Kerker und Scheiterhaufen geahndet werden müssen. Dürften sie der örtlichen Beschränkung der Religionsfreiheit beistimmen, daß man verkündige, die Reformation habe ihren letzten Anhänger gewonnen, ihren letzten Fußbreit erobert? Und sollte dort, wo Rom zu dieser Stunde sein Zepter schwang, seine Herrschaft dauernd errichtet werden? Hätten die Reformatoren sich rein erklären können von dem Blut jener Hunderte und Tausende, die, in Ausführung dieser Anordnung ihr Leben in päpstlichen Ländern aufopfern müßten? Dies hieße, in jener höchst verhängnisvollen Stunde die Sache des Evangeliums und die Freiheit der Christenheit zu verraten.“ (Wylie, Bd. 1, S. 549f., London.) „Lieber wollten sie... alles, selbst ihre Staaten, ihre Kronen, ihr Leben aufopfern.“ (D'Aubigné, Bd. 4, S. 53f., Stuttgart, 1848.)
„Wir verwerfen diesen Beschluß,“ sagten die Fürsten. „In Gewissensangelegenheiten hat die Mehrzahl keine Macht.“ Die Abgesandten erklärten: „Das Dekret von 1526 hat den Frieden im Reiche gestiftet; hebt man es auf, so heißt das, Deutschland in Hader und Zank zu stürzen. Der Reichstag hat keine weitere Befugnis als die Aufrechterhaltung der Glaubensfreiheit bis zu einem Konzil.“ (Ebd.) Die Gewissensfreiheit zu beschützen ist die Pflicht des Staates, und dies ist die Grenze seiner Machtbefugnis in Sachen der Religion. Jede weltliche Regierung, welche versucht, mittels der Staatsgewalt religiöse Gebräuche zu ordnen oder einzuschärfen, opfert gerade den Grundsatz, für welchen die evangelischen Christen in so edler Weise kämpften.
Die Päpstlichen beschlossen, das, was sie „frechen Trotz“ nannten, zu unterdrücken. Sie begannen mit Versuchen, unter den Anhängern der Reformation Spaltungen zu verursachen, und alle, welche sich nicht offen für sie erklärt hatten, einzuschüchtern. Die Vertreter der freien Städte wurden schließlich vor den Reichstag geladen und aufgefordert zu sagen, ob sie auf die Bedingungen des Vorschlages eingehen wollten. Sie baten um Frist, aber umsonst. Als sie auf die Probe gestellt wurden, schloß sich beinahe die Hälfte von ihnen den Reformatoren an. Diejenigen, welche sich auf diese Weise weigerten, die Gewissensfreiheit und das Recht des persönlichen Urteils zu opfern, wußten wohl, daß ihre Stellung sie künftigem Tadel, Verurteilung und Verfolgung aussetzen würde. Einer der Abgeordneten sagte: „Das ist die erste Probe; ... bald kommt die zweite: das Wort Gottes widerrufen oder aber brennen.“ (Ebd., 13. Buch, S. 54.)
König Ferdinand, der Stellvertreter des Kaisers auf dem Reichstage, sah, daß das Dekret ernstliche Spaltungen hervorrufen würde, falls die Fürsten nicht veranlaßt werden könnten, es anzunehmen und zu unterstützen. Er versuchte es deshalb mit der Überredungskunst, wohl wissend, daß die Anwendung von Gewalt solche Männer nur um so entschiedener machen würde. Er „bat die Fürsten um Annahme des Dekrets, für welchen Schritt der Kaiser ihnen großen Dank wissen würde.“ (Ebd.) Aber diese treuen Männer anerkannten eine Autorität über derjenigen irdischer Herrscher, und sie antworteten ruhig: „Wir gehorchen... dem Kaiser in allem, was zur Erhaltung des Friedens und zur Ehre Gottes dienen kann.“ (Ebd.)
In Gegenwart des Reichstages zeigte der König schließlich an, daß die Resolution bald „als kaiserliches Dekret abgefaßt werden“ sollte, und „sie müßten sich der Mehrzahl unterwerfen.“ (s. vorige Anm.) Als er dies gesagt hatte, zog er sich aus der Versammlung zurück und gab so den Protestanten keine Gelegenheit zur Beratung oder zur Antwort. „Sie schickten eine Deputation an den König ab und baten ihn zurückzukommen, umsonst.“ Auf ihre Vorstellungen antwortete er einfach: „Die Artikel sind beschlossen; man muß sich unterwerfen.“ (Ebd.)
Die kaiserliche Partei war überzeugt, daß die christlichen Fürsten der Heiligen Schrift anhangen würden, da sie über menschlichen Lehren und Vorschriften stehe; und sie wußten, daß die Annahme dieses Grundsatzes am Ende das Papsttum stürzen würde. Aber wie Tausende seit ihrer Zeit, indem sie nur „auf das Sichtbare“ schauten, schmeichelten sie sich, daß die Schwäche auf der Seite der Reformation sei, während die Stärke bei dem Kaiser und dem Papst liege. Hätten sich die Reformatoren einzig auf ihre menschliche Macht verlassen, so würden sie so hilflos gewesen sein, wie die Päpstlichen vermuteten. Aber obwohl gering an Zahl und uneins mit Rom, waren sie doch stark. „Vielmehr appellierten sie vom Beschluß des Reichstags an Gottes Wort, von Kaiser Karl an Jesum Christum, den König aller Könige, den Herrn aller Herren.“ (Ebd.)
Da Ferdinand sich geweigert hatte, ihre gewissenhaften Überzeugungen zu berücksichtigen, beschlossen die Fürsten seine Abwesenheit nicht zu beachten, sondern ihren Protest ohne Verzug vor die Nationalversammlung zu bringen. Es wurde deshalb eine feierliche Erklärung entworfen und dem Reichstage unterbreitet: „Wir protestieren durch Gegenwärtiges vor Gott, unserm einigen Schöpfer, Erhalter, Erlöser und Seligmacher, der einst uns richten wird, und erklären vor allen Menschen und Kreaturen, daß wir für uns und die Unsrigen in keiner Weise dem vorgelegten Dekret beipflichten oder beitreten, und allen den Punkten, welche Gott, seinem heiligen Worte, unserem guten Gewissen, unsrer Seligkeit ... zuwiderlaufen. ...
„Wie! Wir sollten das Edikt billigen und dadurch erklären, daß wenn der allmächtige Gott einen Menschen zu seiner Erkenntnis beruft, dieser Mensch nicht die Freiheit hat, diese Erkenntnis anzunehmen!“ „Da nur die Lehre, welche Gottes Wort gemäß ist, gewiß genannt werden kann, da der Herr eine andere zu lehren verbietet, da jeder Text der Heiligen Schrift durch deutlichere Stellen derselben ausgelegt werden soll, da dieses heilige Buch in allem, was dem Christen not tut, leicht verständlich ist und das Dunkel zu zerstreuen vermag: so sind wir mit Gottes Gnade entschlossen, allein die Predigt des göttlichen Worts, wie es in den biblischen Büchern des Alten und Neuen Testaments enthalten ist, lauter und rein, und nichts, was dawider ist, aufrecht zuhalten. Dieses Wort ist die einige Wahrheit, die alleinige Richtschnur aller Lehre und alles Lebens und kann nicht fehlen noch trügen. Wer auf diesen Grund baut, besteht gegen alle Mächte der Hölle; alle Menschentorheit, die sich dawider legt, verfällt vor Gottes Angesichts'“
„ Deshalb verwerfen wir das Joch, das man uns auflegt.“ „Wir hoffen, Ihre Kaiserliche Majestät werde als ein christlicher Fürst, der Gott vor allen Dingen liebt, in unserer Sache verfahren, und erklären uns bereit, ihm, wie euch, gnädige Herren, alle Liebe und allen Gehorsam zu erzeigen, welches unsere gerechte und gesetzliche Pflicht ist.“ (Ebd.)
Ein tiefer Eindruck wurde auf den Reichstag gemacht. Die Mehrzahl wurde ob der Kühnheit der Protestierenden mit Erstaunen und Bestürzung erfüllt. Die Zukunft erschien ihnen stürmisch und ungewiß. Uneinigkeit, Streit und Blutvergießen schienen unvermeidlich. Die Protestanten aber, von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt und sich auf den Arm des Allmächtigen verlassend, „blieben fest und mutig.“ (Ebd.)
„Die in dieser berühmten Protestation ... ausgesprochenen Grundsätze sind der wesentliche Inhalt des Protestantismus. Die Protestation tritt gegen zwei menschliche Mißbräuche in Glaubenssachen auf: gegen die Einmischung der weltlichen Macht und gegen die Willkür des Klerus. Sie setzt an die Stelle der weltlichen Behörde die Macht des Gewissens, und an die Stelle des Klerus die Autorität des Wortes Gottes. Der Protestantismus erkennt die weltliche Gewalt in göttlichen Dingen nicht an und sagt wie die Apostel und Propheten: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. Ohne Karls V. Krone anzutasten, hält er die Krone Jesu Christi aufrecht, und noch weitergehend stellt er den Satz auf, daß alle Menschenlehre den Aussprüchen Gottes untergeordnet sein soll.“ (Ebd.) Die Protestierenden hatten ferner ihr Recht geltend gemacht, ihre religiösen Überzeugungen von Wahrheit frei auszusprechen. Sie wollten das, was das Wort Gottes lehrt, nicht nur glauben und befolgen, sondern auch lehren, und sie stellten das Recht der Priester oder Behörden, sich einzumischen, in Abrede. Der Protest zu Speier war ein feierliches Zeugnis gegen religiöse Unduldsamkeit und eine Behauptung des Rechtes aller Menschen, Gott nach der Vorschrift ihres eigenen Gewissens zu verehren.
Die Erklärung war gemacht worden. Sie war in das Gedächtnis von Tausenden geschrieben und in die Bücher des Himmels eingetragen worden, woselbst keine menschliche Anstrengung sie auslöschen konnte. Das ganze evangelische Deutschland nahm den Protest als den Ausdruck seines Glaubens an. Überall erblickten die Menschen in dieser Erklärung den Anfang einer neuen und besseren Zeit. Einer der Fürsten sagte den Protestanten zu Speyer: „Der allmächtige Gott, der euch die Gnade verliehen, ihn kräftig, frei und furchtlos zu bekennen, bewahre euch in dieser christlichen Standhaftigkeit bis zum Tage des Gerichts!“ (Ebd.)
Hätte die Reformation nach einem erfolgreichen Anfang eingewilligt, sich nach den Umständen zu richten, um sich die Gunst der Welt zu erwerben, so wäre sie Gott und sich selbst untreu gewesen und würde auf diese Weise ihren eigenen Untergang bewirkt haben. Die Erfahrung jener edlen Reformatoren enthält eine Lehre für alle nachfolgenden Zeiten. Satans Art und Weise, gegen Gott und sein Wort zu wirken, hat sich nicht verändert; er ist noch immer ebensosehr dagegen, daß die Heilige Schrift zum Führer des Lebens gemacht werde, wie er es im 16. Jahrhundert war. Heutzutage schweift man weit von ihren Lehren und Vorschriften ab, und eine Rückkehr zum protestantischen Grundsatz - die Bibel und nur die Bibel als Regel des Glaubens und der Pflicht - ist notwendig. Satan wirkt noch immer mit allen Mitteln, über die er verfügt, um die Religionsfreiheit zu vernichten. Die Macht, welche die Protestierenden zu Speier verwarfen, suchte nun mit erneuerter Kraft die verlorene Oberherrschaft wiederherzustellen. Dieselbe unwandelbare Ergebenheit an das Wort Gottes, welche bei jener Entscheidung für die Reformation an den Tag gelegt wurde, ist die einzige Hoffnung der Reform der Gegenwart.
Es erschienen den Protestanten Anzeichen der Gefahr. Es waren aber auch Zeichen, daß die göttliche Hand ausgestreckt war, um die Getreuen zu beschützen. „Kurz vorher hatte Melanchthon seinen Freund Simon Grynäus rasch durch die Stadt an den Rhein geführt mit der Bitte, sich übersetzen zu lassen. Als dieser über das hastige Drängen erstaunt war, erzählte ihm Melanchthon, eine ernste, würdige Greisengestalt, die er nicht gekannt, sei ihm entgegengetreten mit der Nachricht, Ferdinand habe Häscher abgeschickt, um den Grynäus zu verhaften.“ (Ebd.)
Während des Tages war Grynäus durch eine Predigt des Faber, eines leitenden katholischen Gelehrten, entrüstet worden, und am Schlusse machte er ihm Vorstellungen darüber und bat ihn, „die Wahrheit nicht länger zu bekämpfen. Faber hatte seinen Zorn nicht merken lassen, aber sich gleich zum Könige begeben und von diesem einen Haftbefehl gegen den unbequemen Heidelberger Professor ausgewirkt. Melanchthon glaubte fest, Gott habe einen Engel vom Himmel gesandt, um seinen Freund zu retten; er blieb am Rhein stehen, bis der Fluß zwischen ihm und seinen Verfolgern war, und als er ihn am entgegengesetzten Ufer angekommen sah, rief er: 'Endlich ist er denen entrissen, welche nach dem Blute der Unschuldigen dürsten!' Nach Haus zurückgekehrt erfuhr Melanchthon, daß man unterdessen nach Grynäus in seiner Wohnung gesucht hatte.“ (Ebd.)
Die Reformation sollte vor den Gewaltigen dieser Erde zu noch größerer Bedeutung gelangen. Den evangelischen Fürsten war von König Ferdinand Gehör versagt worden; es sollte ihnen aber eine Gelegenheit geboten werden, ihre Sache in Gegenwart des Kaisers und der gesamten Würdenträger des Staates und der Kirche vorzulegen. Um den Zwiespalt, der das Reich beunruhigte, beizulegen, rief Karl V. im folgenden Jahre nach dem Protest von Speier zu Augsburg einen Reichstag zusammen und gab kund, daß er die Absicht habe, persönlich den Vorsitz zu führen. Dorthin wurden die Leiter der Protestanten vorgeladen.
Angesichts der drohenden Gefahren stellten die Gönner der Reformation ihre Sache Gott anheim und gelobten, am Evangelium festzuhalten. Der Kurfürst von Sachsen wurde von seinen Räten gedrängt, nicht auf dem Reichstag zu erscheinen; denn der Kaiser verlange nur die Anwesenheit der Fürsten, um sie in eine Falle zu locken. Es sei „ein Wagnis, sich mit einem so mächtigen Feinde in dieselben Mauern einzuschließen.“ (Ebd., 14. Buch, 2. Kap., S. 110.)
Doch andere erklärten hochherzig, „die Fürsten sollen Mut haben, und Gottes Sache werde gerettet.“ (Ebd.) Luther sagte: „Gott ist treu - und wird uns nicht lassen.“ (Ebd.) Der Kurfürst und sein Gefolge begaben sich auf den Weg nach Augsburg. Alle kannten die Gefahren, die ihm drohten, und viele gingen mit düsteren Blicken und bewegten Herzens einher. Doch Luther, der sie bis Koburg begleitete, belebte ihren sinkenden Glauben aufs neue, indem er ihnen das auf jener Reise geschriebene Lied: „Ein’ feste Burg ist unser Gott' vorsang. Manche bange Ahnung wurde verscheucht, manches schwere Herz beim Schall des begeisternden Liedes leichter.
Die reformierten Fürsten hatten beschlossen, eine Darlegung ihrer Ansichten in systematischer Zusammenstellung mit Beweisstellen aus der Heiligen Schrift auszuarbeiten, um sie dem Reichstag vorzulegen; und die Aufgabe dieser Bearbeitung wurde Luther, Melanchthon und ihren Gefährten übertragen. Das auf diese Weise hergestellte Glaubensbekenntnis wurde von den Protestanten als eine Darstellung ihres Glaubens angenommen, und sie versammelten sich, um dem wichtigen Schriftstück ihre Namen beizufügen. Es war eine feierliche und prüfende Zeit. Die Reformatoren waren ängstlich bedacht, daß ihre Sache nicht mit politischen Fragen verwechselt werde; sie fühlten, daß die Reformation keinen anderen Einfluß ausüben sollte als den, der vom Worte Gottes ausgeht. Als die christlichen Fürsten vortraten, um die Konfession zu unterzeichnen, trat Melanchthon dazwischen, indem er sagte: „Die Theologen, die Diener Gottes müssen das vorlegen, und das Gewicht der Großen der Erde muß man für andere Dinge aufsparen.“ „Gott gebe,“ antwortete Johann von Sachsen, „daß a ihr mich nicht ausschließt, ich will tun, was recht ist, unbekümmert um meine Krone; ich will den Herrn bekennen. Das Kreuz Jesu Christi ist mehr wert als mein Kurhut und mein Hermelin.“ (Ebd., 6. Kap., S. 147f.) Als er dies gesagt, schrieb er seinen Namen nieder. Ein anderer Fürst sprach, als er die Feder ergriff: „Wo es die Ehre meines Herrn Jesu Christi gilt, bin ich bereit, Gut und Leben aufzugeben.“ „Ehe ich eine andere Lehre als die, welche in der Konfession enthalten ist, annehme, will ich lieber Land und Leute aufgeben, und mit dem Stabe in der Hand aus meiner Väter Heimat auswandern.“ (Ebd.) Derart war der Glaube und die Unerschrockenheit dieser Gottesmänner.
Die festgesetzte Zeit, vor dem Kaiser zu erscheinen, kam. Karl V., auf seinem Thron sitzend, umgeben von den Kurfürsten und Fürsten, gab den protestantischen Reformatoren Gehör. Das Bekenntnis ihres Glaubens wurde verlesen. In jener erhabenen Versammlung wurden die Wahrheiten des Evangeliums klar dargetan und die Irrtümer der päpstlichen Kirche bloßgestellt. Mit Recht ist jener Tag als der „größte der Reformation, einer der schönsten in der Geschichte des Christentums und der Menschheit“ (Ebd., 7. Kap. S. 156f.) bezeichnet worden.
Nur wenige Jahre waren vergangen, seit der Mönch von Wittenberg zu Worms allein vor der Nationalversammlung gestanden hatte. Nun standen an seiner Stelle die edelsten und mächtigsten Fürsten des Kaiserreiches. Es war Luther untersagt worden, zu Augsburg zu erscheinen; aber er war mit seinen Worten und Gebeten zugegen gewesen. „Ich bin über alle Maßen froh,“ schrieb er, „daß ich bis zu der Stunde gelebt habe, in welcher Christus durch solche Bekenner vor solcher Versammlung in einem herrlichen Bekenntnisse verkündigt worden ist.“ (Ebd.) Hierin ist erfüllt was die Schrift sagt: „Ich rede von deinen Zeugnissen vor Königen!“ (Ps. 119,46.)
In den Tagen Pauli war das Evangelium, für welches er in Gefangenschaft war, auf diese Weise vor die Fürsten und Edlen der kaiserlichen Stadt gebracht worden. So wurde bei diesem Anlaß das, was der Kaiser auf der Kanzel zu predigen untersagt hatte, im Palast verkündigt; was von vielen angesehen worden war, als sei es sogar für die Dienerschaft unpassend anzuhören, wurde nun von den Herrschern und Herren des Reiches mit Verwunderung vernommen. Könige und große Männer waren die Zuhörer, gekrönte Fürsten die Prediger, und die Predigt war die königliche Wahrheit Gottes. „Ein Zeitgenosse, Mathesius, sagt, seit den Aposteln habe es kein größer und höher Werk gegeben.“ (Ebd., 7. Kap. S. 156f .)
„Was die Lutheraner vorgelesen haben, ist wahr, es ist die reine Wahrheit, wir können es nicht leugnen,“ erklärte ein päpstlicher Bischof. „Könnet ihr das vom Kurfürsten abgefaßte Bekenntnis mit guten Gründen widerlegen?“ fragte ein anderer den Dr. Eck. „Nicht mit den Schriften der Apostel und Propheten,“ antwortete Dr. Eck, „aber wohl mit denen der Väter und Konzilien.“ -„Also sind die Lutheraner,“ entgegnete der Fragende, „in der Schrift, und wir daneben.“ (D'Aubigné, 8. Kap. S. 167.) Einige der Fürsten Deutschlands waren für den reformierten Glauben gewonnen worden. Der Kaiser selbst erklärte, daß die protestantischen Artikel nur die Wahrheit seien. Die Konfession wurde in viele Sprachen übersetzt und in ganz Europa verbreitet, und sie ist in den nachfolgenden Geschlechtern von Millionen als Ausdruck ihres Glaubens angenommen worden.
Gottes treue Bauleute arbeiteten nicht allein. Während sie es „mit Fürsten und Gewaltigen, nämlich mit den Herren der Welt, die in der Finsternis dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel,“ (Eph. 6, 12.) die sich gegen sie verbanden, zu tun hatten, verließ der Herr sein Volk nicht. Wären ihre Augen geöffnet gewesen, so würden sie ebenso deutliche Beweise der Gegenwart und Hilfe Gottes gesehen haben, wie sie den Propheten vor alters gewährt wurde. Als Elisas Knecht seinen Meister auf das sie umgebende feindliche Heer aufmerksam machte, das jede Gelegenheit zum Entrinnen abschnitt, betete der Prophet: „Herr, öffne ihm die Augen, daß er sehe.“ (2. Kön. 6,17.) Und siehe, der Berg war voll Kriegswagen und feuriger Rosse; das Heer des Himmels stand da, um den Mann Gottes zu beschützen. So bewachten auch Engel die Arbeiter in der Sache der Reformation.
Einer der von Luther am entschlossensten behaupteten Grundsätze war, daß in Unterstützung der Reformation keine Zuflucht zur weltlichen Macht genommen werden solle, und daß keine Forderung an ihre Waffen gestellt werde, um sie zu verteidigen. Er freute sich, daß das Evangelium von Fürsten des Reiches bekannt worden war; doch als sie vorschlugen, sich in einen Verteidigungsbund zu vereinen, „wollte Luther die evangelische Lehre nur von Gott allein verteidigt wissen, je weniger die Menschen sich darein mischen, desto herrlicher werde Gottes Dazwischenkunft sich offenbaren. Alle Umtriebe, wie die beabsichtigten, deuteten ihm auf feige Ängstlichkeit und strafbares Mißtrauen.“ (D'Aubigné, 10. Buch, 14. Kap. S. 187f., Stuttgart.)
Als mächtige Feinde sich vereinten, um den reformierten Glauben zu Fall zu bringen und Tausende von Schwertern dagegen gezogen zu werden schienen, schrieb Luther: „Satan läßt seine Wut aus, gottlose Pfaffen verschwören sich, man bedroht uns mit Krieg. Ermahne das Volk weiter zu kämpfen vor Gottes Throne mit Glauben und Gebet, so daß unsere Feinde vom Geiste Gottes besiegt, zum Frieden gezwungen werden. Das erste, was not tut, die erste Arbeit, ist das Gebet: angesichts der Schwerter und der Wut Satans hat das Volk nur eins zu tun: es muß beten.“ (Ebd.)
Wiederum, bei einem späteren Anlaß, auf den von den protestantischen Fürsten beabsichtigten Bund bezugnehmend, erklärte Luther, daß die einzige, in diesem Streite anzuwendende Waffe „das Schwert des Geistes“ sei. Er schrieb an den Kurfürst von Sachsen: „Wir mögen in unserem Gewissen solch Verbündnis nicht billigen. Wir möchten lieber zehnmal tot sein denn solche Genossen haben, daß unser Evangelium sollte Ursach gewesen sein einiges Bluts. Wir sollen wie die Schlachtschafe gerechnet sein. Es muß ja Christi Kreuz getragen sein. Euer Kurfürstliche Gnaden seien getrost und unerschrocken, wir wollen mit Beten mehr ausrichten, denn sie mit all ihrem Trotzen. Allein daß wir unsere Hände rein von Blut behalten, und wo der Kaiser mich und die anderen forderte, so wollen wir erscheinen. Euer Kurfürstliche Gnaden soll weder meinen noch eines anderen Glauben verteidigen, sondern ein jeder soll auf sein eigen Fahr glauben.“ (Ebd., 14. Buch, 1. Kap. S. 104.)
Aus dem Gebetskämmerlein kam die Macht, welche in der großen Reformation die Welt erschütterte. Dort setzten die Knechte Gottes mit heiliger Ruhe ihre Füße auf den Felsen seiner Verheißungen. Während des Kampfes zu Augsburg verfehlte Luther nicht, täglich „drei Stunden dem Gebete zu widmen; und zwar zu einer Zeit, die dem Studium am günstigsten gewesen wäre.“ (Ebd., 6. Kap. S. 152f.) In der Zurückgezogenheit seiner Kammer konnte man ihn seine Seele in Worten vor Gott ausgießen hören „mit solchem Glauben und Vertrauen,... als ob er mit seinem Freund und Vater rede. 'Ich weiß,' sagte der Reformator, 'daß du unser Vater und unser Gott bist, daß du die Verfolger deiner Kinder zerstreuen wirst, denn du selbst bist mit uns in der Gefahr. Diese ganze Sache ist dein, nur weil du sie gewollt hast, haben wir sie unternommen. Schütze du uns, o Herr!` (Ebd.) An Melanchthon, der unter der Last der Sorge und Furcht erdrückt war, schrieb er: „Gnade und Friede in Christo! In Christo, sage ich, nicht in der Welt. Amen. Ich hasse deine Besorgnisse, die dich, wie du schreibst, verzehren, gewaltig. Wenn die Sache falsch ist, so wollen wir widerrufen; wenn sie gerecht ist, weshalb machen wir den, welcher uns ruhig schlafen heißt, bei so vielen Verheißungen zum Lügner? ... Christus entzieht sich nicht der Sache der Gerechtigkeit und Wahrheit; er lebt und regiert, und welche Angst können wir noch haben?„ (Ebd.)
Gott hörte das Schreien seiner Diener. Er gab den Fürsten und Predigern Gnade und Mut, die Wahrheit den Herrschern der Finsternis dieser Welt gegenüber zu behaupten. Es sagt der Herr: „Siehe da, ich lege einen auserwählten, köstlichen Eckstein in Zion; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zu Schanden werden.“ (l. Petr. 2, 6.) Die protestantischen Reformatoren hatten auf Christum gebaut, und die Pforten der Hölle konnten sie nicht überwältigen.


 
KAPITEL 12

DIE REFORMATION IN FRANKREICH

Dem Protest zu Speier und der Konfession zu Augsburg, welche den Sieg der Reformation in Deutschland bezeichneten, folgten Jahre des Kampfes und der Finsternis. Geschwächt durch Uneinigkeiten unter ihren Verteidigern und von gewaltigen Feinden bestürmt, schien der Protestantismus bestimmt zu sein, vollständig vernichtet zu werden. Tausende besiegelten ihr Zeugnis mit ihrem Blut. Bürgerkriege brachen aus, und die protestantische Sache wurde von einem ihrer vornehmsten Anhänger verraten, die edelsten der reformierten Fürsten fielen in die Hände des Kaisers und wurden als Gefangene von Stadt zu Stadt geschleppt. Aber im Augenblick seines scheinbaren Sieges wurde der Kaiser von einer Niederlage betroffen. Er sah den Raub seinen Händen entrissen und war schließlich genötigt, den Lehren, deren Vernichtung er sich zur Lebensaufgabe gestellt hatte, Duldung zu gewähren. Er hatte sein Reich, seine Schätze und selbst das Leben aufs Spiel gesetzt, um die Ketzerei zu vertilgen. Jetzt sah er seine Heere durch Schlachten aufgerieben, seine Schätze erschöpft, die vielen Teile seines Reiches von Empörung bedroht, während sich der Glaube, den er vergebens zu unterdrücken versucht hatte, überall ausbreitete. Karl V. hatte gegen die Macht des Allmächtigen gekämpft. Gott hatte gesagt: Es werde Licht; aber der Kaiser hatte danach getrachtet, die Finsternis unerhellt zu erhalten. Seine Absichten waren fehlgeschlagen, und in einem vorzeitigen Alter, erschöpft von dem langen Kampf, entsagte er dem Thron und zog sich in ein Kloster zurück.
Es kamen in der Schweiz und auch in Deutschland dunkle Tage für die Reformation. Während viele Kantone den reformierten Glauben annahmen, hingen andere mit blinder Beharrlichkeit an dem Glaubensbekenntnis Roms und verfolgten die, welche die Wahrheit anzunehmen wünschten, wodurch schließlich ein Bürgerkrieg entstand. Zwingli und viele, die sich mit ihm in der Reformation verbunden hatten, fielen auf dem blutigen Schlachtfeld von Kappel. Ökolampad, von diesem furchtbaren Mißgeschick überwältigt, starb bald darauf. Rom jubelte und schien an vielen Orten alles, was es verloren hatte, wiederzugewinnen. Er aber, dessen Ratschlüsse von Ewigkeit her sind, hatte weder seine Sache noch sein Volk verlassen. Seine Hand brachte ihnen Befreiung. Er hatte schon in anderen Ländern Arbeiter erweckt, um die Reformation fortzuführen.
In Frankreich hatte der Tag bereits zu dämmern angefangen, ehe man von dem Namen Luthers als eines Reformators etwas vernommen hatte. Einer der ersten, der das Licht erfaßte, war der bejahrte Lefevre, ein Mann von umfassender Gelehrsamkeit, ein Professor an der Universität von Paris, ein aufrichtiger und eifriger Anhänger des Papsttums. Bei seinen Forschungen in der alten Literatur wurde er auf die Bibel aufmerksam gemacht, und er führte ihr Studium bei seinen Schülern ein.
Lefevre war ein eifriger Verehrer der Heiligen und hatte es unternommen, eine Geschichte der Heiligen und Märtyrer nach den Legenden der Kirche zu verfassen. Dies war eine mühsame Arbeit, und er hatte bereits darin bedeutende Fortschritte gemacht, als er mit dem Gedanken, daß die Bibel ihm gute Dienste leisten könne, sie in dieser Absicht zu erforschen begann. Hier fand er in der Tat Heilige beschrieben, aber nicht solche, wie der römische Kalender sie angab. Eine Flut göttlichen Lichtes erleuchtete seinen Verstand. Mit Erstaunen und Widerwillen wandte er sich von seiner geplanten Aufgabe ab und widmete sich dem Worte Gottes. Bald fing er an, die köstlichen daselbst entdeckten Wahrheiten zu lehren.
Im Jahre 1512, ehe weder Luther noch Zwingli das Werk der Reformation angefangen hatten, schrieb Lefevre: „Gott allein gibt uns die Gerechtigkeit durch den Glauben, rechtfertigt uns allein durch seine Gnade zum ewigen Leben.“ (D’Aubigné, 12. Buch, 2. Kap., S. 290f., Stuttgart.) Sich in die Geheimnisse der Erlösung vertiefend, rief er aus: „O wunderbarer Austausch: die Unschuld wird verurteilt, der Schuldige freigesprochen; der Gesegnete verflucht, der Verfluchte gesegnet, das Leben stirbt, der Tote erhält das Leben; die Ehre ist mit Schmach bedeckt, der Geschmähte wird geehrt.“ (Ebd.)
Und während er lehrte, daß die Ehre der Erlösung nur Gott zukomme, erklärte er auch, daß die Pflicht des Gehorsams dem Menschen obliege. „Bist du der Kirche Christi angehörig,“ sagte er, „so bist du ein Glied am Leibe Christi und als solches mit Göttlichkeit erfüllt. ... Wenn die Menschen dieses Vorrecht begriffen, so würden sie sich rein, keusch und heilig halten, alle Ehre dieser Welt für eine Schmach achten, im Vergleich zu der inneren Herrlichkeit, welche den fleischlichen Augen verborgen ist.“ (Ebd.)
Unter Lefevres Schülern befanden sich etliche, welche eifrig seinen Worten zuhörten, und die lange, nachdem die Stimme des Lehrers zum Schweigen gebracht worden war, fortfahren sollten, die Wahrheit zu verkündigen. Zu diesen gehörte Wilhelm Farel. Der Sohn frommer Eltern und erzogen, die Lehren der Kirche mit unbedingtem Glauben anzunehmen, hätte er mit dem Apostel Paulus von sich selbst erklären können: „Ich bin ein Pharisäer gewesen, welches ist die strengste Sekte unseres Gottesdienstes.“ (Apg. 26, 5.) Als ergebener Anhänger Roms brannte er vor Eifer, alle, die es wagten, sich der Kirche zu widersetzen, zu vernichten. „Ich knirschte mit den Zähnen wie ein wütender Wolf, wenn sich irgendeiner gegen den Papst äußerte“ (Wylie, 2. Bd., 2. Kap., S. 129, London) sagte er später über diesen Abschnitt seines Lebens. Er war unermüdlich gewesen in seiner Verehrung der Heiligen und hatte gemeinschaftlich mit Lefevre die Runde in den Kirchen gemacht, wo er an den Altären anbetete und die Heiligenschreine mit Gaben schmückte. Aber diese äußerliche Frömmigkeit konnte ihm keinen Seelenfrieden verschaffen. Ein Bewußtsein der Sünde, welches alle Bußübungen, die er sich auflegte, nicht verbannen konnten, bemächtigte sich seiner. Wie auf eine Stimme vom Himmel lauschte er auf die Worte des Reformators: „Das Heil ist aus Gnaden; der Unschuldige wird verurteilt, der Schuldige freigesprochen.“ „Das Kreuz Christi allein öffnet den Himmel, schließt allein das Tor der Hölle.“ (Ebd. Siehe auch (D’Aubigné, 12. Buch, 3. Kap. S. 294.)
Freudig nahm Farel die Wahrheit an. Durch eine Bekehrung, die derjenigen Pauli ähnlich war, wandte er sich von der Knechtschaft menschlicher Satzungen zu der Freiheit der Kinder Gottes und „war so umgewandelt, daß er nicht mehr die Mordlust eines wilden Wolfes hatte, sondern einem sanften Lamme glich, nachdem er sich vom Papst entfernt und ganz Christo hingegeben hatte.“ (Ebd., S. 295.)
Während Lefevre fortfuhr, das Licht unter seinen Schülern auszubreiten, trat Farel, der in dem Werk Christi ebenso eifrig war wie ehedem in jenem des Papstes, öffentlich auf, um die Wahrheit zu verkündigen. Ein Würdenträger der Kirche, der Bischof von Meaux, schloß sich bald darauf ihnen an; andere Lehrer, die wegen ihrer Fähigkeiten und ihrer Gelehrsamkeit hohes Ansehen genossen, vereinten sich mit ihnen in der Verkündigung des Evangeliums, und es gewann Anhänger unter allen Ständen, von der Wohnung des Handwerkers und des Bauern an bis zum Palast des Königs. Die Schwester Franz 1., der damals auf dem Thron saß, nahm den reformierten Glauben an. Der König und die Königin-Mutter schienen ihn eine Zeitlang günstig anzusehen, und mit großen Hoffnungen sahen die Reformatoren der Zeit entgegen, da Frankreich für das Evangelium gewonnen sein würde.
Aber ihre Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Prüfungen und Verfolgungen standen den Jüngern Christi bevor, obgleich sie vor ihren Augen gnädig verhüllt waren. Eine Zeit des Friedens trat ein, auf daß sie Kraft gewönnen, dem Sturm zu begegnen, und die Reformation machte rasche Fortschritte. Der Bischof von Meaux bemühte sich eifrig in seinem Kirchsprengel, sowohl die Geistlichen als auch das Volk zu unterweisen. Unwissende oder unsittliche Priester wurden entlassen, und soweit wie möglich durch Männer von Bildung und Frömmigkeit ersetzt. Der Bischof wünschte sehr, daß seine Leute selbst Zugang zum Worte Gottes haben möchten, und dies wurde bald erreicht. Lefevre unternahm die Übersetzung des Neuen Testaments, und gerade zu derselben Zeit, als Luthers deutsche Bibel in Wittenberg die Presse verließ, wurde zu Meaux das französische Neue Testament veröffentlicht. Der Bischof sparte weder Mühe noch Ausgaben, um es in seinen Pfarreien zu verbreiten, und bald waren die Bauern von Meaux im Besitz der Heiligen Schrift.
Wie der vor Durst verschmachtende Reisende mit Freuden eine sprudelnde Wasserquelle begrüßt, so nahmen diese Seelen die Botschaft des Himmels auf. Die Arbeiter auf dem Felde und die Handwerker in ihren Werkstätten erleichterten sich die tägliche Arbeit, indem sie von den köstlichen Wahrheiten der Bibel redeten. Statt am Abend ins Wirtshaus zu gehen, versammelten sie sich in ihren Wohnungen, um das Wort Gottes zu lesen und sich zu Gebet und Lobpreisungen zu vereinen. Bald machte sich in diesen Gemeinden eine große Veränderung bemerkbar. Obwohl sie der bescheidensten Klasse angehörten, ungeschult waren und schwere Landarbeit verrichteten, wurde doch die umgestaltende, erhebende Kraft der göttlichen Gnade in ihrem Leben sichtbar. Demütig, liebend und heilig standen sie als Zeugen da von dem, was das Evangelium für alle vollbringt, die es aufrichtig annehmen.
Das zu Meaux angezündete Licht ließ seine Strahlen weit hinaus leuchten. Täglich nahm die Zahl der Neubekehrten zu. Die Wut der Priesterherrschaft wurde von dem König, der den engherzigen, blinden Eifer der Mönche verachtete, eine Zeitlang im Zaum gehalten; aber schließlich gewannen die päpstlichen Führer die Oberhand. Nun wurde der Scheiterhaufen aufgerichtet. Der Bischof von Meaux, der gezwungen wurde, zwischen dem Feuer und der Widerrufung zu wählen, schlug den leichteren Weg ein. Aber trotzdem der Anführer fiel, blieb die Herde doch standhaft. Viele legten inmitten der Flammen Zeugnis für die Wahrheit ab. Durch ihren Mut und ihre Treue auf dem Scheiterhaufen sprachen diese demütigen Christen zu Tausenden, die in den Tagen des Friedens ihr Zeugnis nie vernommen hätten.
Nicht nur die Niedrigen und die Armen wagten es, inmitten von Spott und Leiden Zeugnis für Christum abzulegen. In den fürstlichen Sälen der Schlösser und Paläste gab es edle Seelen, denen die Wahrheit mehr wert war als Reichtum und Rang, ja sogar als das Leben. Die ritterliche Rüstung barg einen erhabeneren und standhafteren Geist als der Bischofsmantel und die Bischofsmütze. Ludwig von Berquin war von adliger Abkunft, ein tapferer und galanter Ritter, dem Studium zugetan, von feiner Lebensart und tadellosen Sitten. „Er war,“ sagt ein Schriftsteller, „ein höchst eifriger Beobachter aller päpstlichen Einrichtungen, wohnte aufs genauste allen Messen und Predigten bei... und setzte allen seinen übrigen Tugenden dadurch die Krone auf, daß er das Luthertum ganz besonders verabscheute.“ Doch gleich vielen anderen, die von der göttlichen Vorsehung zum Studium der Bibel geführt wurden, war er erstaunt, hier nicht etwa „die Satzungen Roms, sondern die Lehren Luthers“ (Wylie, 13. Buch, 9. Kap., S. 159.) zu finden und widmete sich von nun an ganz der Sache des Evangeliums.
Als den gelehrtesten Edelmann Frankreichs hielten viele Berquin infolge seiner Gaben und seiner Beredsamkeit, seines unbezwingbaren Mutes und seines Heldeneifers, seines Einflusses bei Hofe - denn er war ein Günstling des Königs - zum Reformator seines Vaterlandes bestimmt. Beza sagte, daß Berquin ein zweiter Luther gewesen wäre, wenn er in Franz I. einen zweiten Kurfürsten gefunden hätte. „Er ist schlimmer als Luther,“ (Ebd .), schrien die päpstlichen Anhänger. Sicherlich fürchteten die Römlinge Frankreichs ihn mehr. Sie warfen ihn als einen Ketzer ins Gefängnis, aber er wurde vom König wieder freigelassen. Jahrelang zog sich der Kampf hin. Franz, zwischen Rom und der Reformation schwankend, duldete und zügelte abwechselnd den grimmigen Eifer der Mönche. Dreimal wurde Berquin von den päpstlichen Behörden eingekerkert, jedoch von dem Monarchen, der in Bewunderung seiner Geistesgaben und seines edlen Charakters sich weigerte, ihn der Bosheit der Priesterherrschaft preiszugeben, wieder in Freiheit gesetzt.
Berquin wurde wiederholt vor der ihm in Frankreich drohenden Gefahr gewarnt, und man drang auf ihn ein, den Schritten derer zu folgen, die in einer freiwilligen Verbannung Sicherheit gefunden hatten. Der furchtsame, unbeständige Erasmus, der trotz aller seiner glänzenden Gelehrsamkeit jener moralischen Größe ermangelte, welche das Leben und die Ehre der Wahrheit unterordnet, schrieb an Berquin: „Halte darum an, als Gesandter ins Ausland geschickt zu werden. Bereise Deutschland. Du kennst Beda und seinesgleichen - er ist ein tausendköpfiges Ungeheuer, welches Gift nach allen Seiten ausspeit. Deine Feinde heißen Legion. Selbst wenn deine Sache besser wäre als Jesu Christi, so würden sie dich nicht gehen lassen, bis sie dich elendiglich umgebracht haben. Verlasse dich nicht allzusehr auf den Schutz des Königs. Auf jeden Fall bringe mich nicht in Ungelegenheiten bei der theologischen Fakultät.“ (Ebd.)
Doch als die Gefahren sich häuften, wurde Berquins Eifer um so größer. Weit davon entfernt, auf die weltklugen und eigennützigen Pläne des Erasmus einzugehen, entschloß er sich zu noch kühneren Maßregeln. Er wollte nicht nur zur Verteidigung der Wahrheit auftreten, sondern auch den Irrtum angreifen. Die Anschuldigung der Ketzerei, welche die Katholiken gegen ihn geltend zu machen suchten, wandte er gegen sie. Die tätigsten und erbittertsten seiner Gegner waren die gelehrten Doktoren und Mönche der theologischen Abteilung der großen Universität Paris, eine der höchsten kirchlichen Autoritäten sowohl in der Stadt als auch in der Nation. Den Schriften dieser Doktoren entnahm Berquin zwölf Sätze, die er öffentlich als der Heiligen Schrift zuwiderlaufend und ketzerisch erklärte; und er wandte sich an den König mit der Bitte, in der Sache zu entscheiden.
Der Monarch, der nicht abgeneigt war Scharfsinn der sich bekämpfenden Führer zu messen, freute sich, eine Gelegenheit zu haben, den Hochmut dieser stolzen Mönche zu demütigen, und gebot ihnen, ihre Sache mit der Bibel zu verteidigen. Diese Waffe, wie sie wohl wußten, konnte ihnen wenig helfen; Einkerkerung, Marterqualen und der Scheiterhaufen waren Waffen, welche sie besser zu gebrauchen verstanden. Jetzt hatte sich die Lage gewendet, und sie waren nahe daran, in die Grube zu fallen, in welche sie Berquin zu stürzen gehofft hatten. Ratlos sahen sie sich nach einem Ausweg um, auf dem sie entkommen könnten.
„Um diese Zeit war ein an einer Straßenecke angebrachtes Standbild der Jungfrau [Maria] verstümmelt worden.“ In der Stadt herrschte große Aufregung. Scharenweise strömte das Volk zu der Stätte und gab seinem Bedauern und seiner Entrüstung Ausdruck. Auch der König war tief gerührt. Hier bot sich eine Gelegenheit, aus welcher die Mönche einen großen Vorteil ziehen konnten, und sie ließen es nicht lange anstehen. „Alles geht seinem Umsturz entgegen - die Religion, die Gesetze, ja selbst der Thron - infolge dieser lutherischen Verschwörung.“ (Ebd.)
Wiederum wurde Berquin gefangengesetzt. Der König verließ Paris, und so hatten die Mönche Freiheit, nach eigenem Willen zu handeln. Der Reformator wurde verhört und zum Tode verurteilt, und damit Franz zuletzt nicht noch einschreite, ihn zu retten, wurde das Urteil am nämlichen Tage, da es ausgesprochen wurde, vollzogen. Um die Mittagsstunde führte man Berquin zum Richtplatz. Eine ungeheure Menschenmenge hatte sich versammelt, um die Hinrichtung zu sehen, und viele erkannten mit Staunen und Befürchtung, daß das Opfer aus den besten und tapfersten Adelsfamilien Frankreichs ausgewählt worden war. Bestürzung, Entrüstung, Verachtung und bitterer Haß verfinsterten die Angesichter jener wogenden Menge; aber auf einem Antlitz ruhte kein Schatten. Die Gedanken des Märtyrers weilten weit ab von jenem Schauplatz der Aufregung; er war sich nur der Gegenwart seines Herrn bewußt.
Der elende Sturzkarren, auf dem er saß, die düsteren Gesichtszüge seiner Verfolger, der schreckliche Tod, dem er entgegenging all dies beachtete er nicht. Er, der da lebt und war tot und ist lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit, und der die Schlüssel der Hölle und des Todes hat, war ihm zur Seite. Berquins Antlitz erstrahlte von himmlischem Frieden und Licht. „Er war mit einem Samtrock sowie mit Gewändern von Atlas und Damast angetan und trug goldgestickte Beinkleider.“ (D’Aubigné, Gesch. der Reform. zu den Zeiten Kalvins, 2. Buch, 16. Kap.) Er stand im Begriff, seinen Glauben in Gegenwart des Königs aller Könige und vor dem ganzen Weltall zu bekennen, und kein Anzeichen der Trauer sollte seine Freude Lügen strafen.
Als der Zug sich langsam durch die gedrängten Straßen bewegte, nahm das Volk mit Bewunderung den unumwölkten Frieden, die freudige Siegesgewißheit seiner Bücke und seiner Haltung wahr. „Er ist,“ sagten einige, „wie einer der in einem Tempel sitzt und über heilige Dinge nachdenkt.“ (Wylie, 13. Buch, 9. Kap.)
Auf dem Scheiterhaufen versuchte Berquin einige Worte an die Menge zu richten, aber die Mönche, die Folgen befürchtend, hoben an zu schreien, und die Soldaten klirrten mit ihren Waffen, so daß der Lärm die Stimme des Märtyrers übertönte. Auf diese Weise setzte im Jahre 1529 die höchste literarische und kirchliche Autorität in dem gebildeten Paris „der Bevölkerung von 1793 das gemeine Beispiel, auf dem Schafott die ehrwürdigen Worte eines Sterbenden zu ersticken.“ (Wylie, 13. Buch, 9. Kap.)
Berquin wurde erdrosselt und sein Leichnam den Flammen übergeben. Die Kunde von seinem Tode verursachte über ganz Frankreich unter den Freunden der Reformation Betrübnis; aber sein Beispiel war nicht vergebens. „Wir wollen,“ sagten die Wahrheitszeugen, „mit gutem Mut dem Tod entgegengehen, indem wir unsern Blick nach dem jenseitigen Leben richten.“ (D’Aubigné, ebd., 2. Buch, 16. Kap.)
Während der Verfolgung in Meaux wurde den Lehrern des reformierten Glaubens das Recht zu predigen entzogen, und sie begaben sich in andere Felder. Lefevre machte sich bald auf den Weg nach Deutschland. Farel kehrte in seine Geburtsstadt im östlichen Frankreich zurück, um das Licht in der Heimat seiner Kindheit zu verbreiten. Bereits waren von dem, was sich in Meaux zutrug, Nachrichten eingelaufen, und es fanden sich Zuhörer, als er die Wahrheit mit unerschrockenem Eifer lehrte. Die Behörden jedoch fühlten sich veranlaßt, ihn zum Schweigen zu bringen, und er wurde aus der Stadt vertrieben. Wenn er nun auch nicht länger öffentlich arbeiten konnte, durchzog er doch die Ebenen und Dörfer, lehrte in Privatwohnungen und auf einsamen Matten und fand Schutz in den Wäldern und felsigen Höhlen, die in seiner Jugend seine Schlupfwinkel gewesen waren. Gott bereitete ihn für größere Prüfungen vor. „Kreuz und Verfolgung und die Umtriebe Satans,“ sagte er, „haben mir nicht gefehlt; sie sind stärker gewesen, als daß ich aus eigener Kraft sie hätte aushalten können; aber Gott ist mein Vater, er hat mir alle nötige Kraft verliehen und wird es ferner tun. (D’Aubigné, 12. Buch, 9. Abschn., S. 344.)
Wie in den apostolischen Tagen war die Verfolgung „nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten.“ (Phil. 1, 12.) Von Paris und Meaux waren sie vertrieben, und „die nun zerstreut waren, gingen um und predigten das Wort. „ (vgl. Apg. 8, 4.) Auf diese Weise fand das Licht seinen Weg in viele der entlegensten Provinzen Frankreichs.
Gott bereitete noch immer Arbeiter vor, seine Sache auszudehnen. In einer Schule zu Paris war ein gedankenvoller, ruhiger Jüngling, der bereits Beweise eines gewaltigen, durchdringenden Verstandes gab und sich nicht weniger durch die Reinheit seines Lebens als durch vernünftigen Eifer und religiöse Hingabe auszeichnete. Seine Talente und sein Fleiß machten ihn bald zum Stolz der Schule, und man sagte sich zuversichtlich, daß Johannes Kalvin einer der tüchtigsten und geehrtesten Verteidiger der Kirche werden würde. Aber ein Strahl göttlichen Lichtes drang sogar hinter die Mauern der Schulweisheit und des Aberglaubens, von welchem Kalvin umgeben war. Mit Schaudern hörte er von den neuen Lehren, ohne den geringsten Zweifel zu hegen, daß die Ketzer das Feuer, dem sie übergeben wurden, vollständig verdienten. Ganz unwissentlich jedoch wurde er der Ketzerei von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt und gezwungen, die Macht der päpstlichen Theologie zu prüfen, um die protestantischen Lehren zu bekämpfen.
Ein Vetter Kalvins, der sich den Reformatoren angeschlossen hatte, befand sich in Paris. Die beiden Verwandten trafen sich oft und besprachen gemeinschaftlich die Angelegenheiten, welche die Christenheit beunruhigten.“Es gibt nur zwei Religionen in der Welt,„ sagte Olivetan, der Protestant,“die eine ist die, welche die Menschen erfunden haben und nach welcher die Menschen sich durch die Zeremonien und gute Werke retten; die andere ist die eine Religion, die in der Bibel offenbart wird und lehrt, daß die Menschen nur selig werden können durch die freie Gnade Gottes.„
„ Weg mit euren neuen Lehren!“ rief Kalvin aus; „Bildet ihr euch ein, daß ich mein ganzes Leben lang im Irrtum gewesen bin?“ (Wylie, 13. Buch, 7. Kap.)
Aber in seinem Geist waren Gedanken erweckt worden, die er nicht willkürlich verbannen konnte. In der Einsamkeit seiner Kammer dachte er über die Worte seines Vetters nach. Ein Bewußtsein der Sünde bemächtigte sich seiner; er sah sich ohne Mittler in der Gegenwart eines heiligen und gerechten Richters. Die Vermittlung der Heiligen, gute Werke, die Zeremonien der Kirche waren alle machtlos, Genugtuung für die Sünde zu leisten. Er konnte nichts vor sich sehen als das Dunkel ewiger Verzweiflung. Vergebens bemühten sich die Gelehrten der Kirche, seiner Angst abzuhelfen. Umsonst nahm er seine Zuflucht zu Beichte und Bußübungen, aber sie konnten seine Seele nicht mit Gott versöhnen.
Während Kalvin diese vergeblichen Kämpfe durchmachte, kam er eines Tages wie von ungefähr an einen der öffentlichen Plätze und war dort Augenzeuge der Verbrennung eines Ketzers. Er wurde betroffen über den Ausdruck des Friedens, der auf dem Angesichte des Märtyrers ruhte. Inmitten der Qualen jenes furchtbaren Todes und unter der noch schrecklicheren Verdammung der Kirche bekundete er einen Glauben und Mut, welche der junge Student schmerzlich mit seiner eigenen Verzweiflung und Finsternis verglich, während er doch im strengsten Gehorsam gegen die Kirche lebte. Er wußte, daß die Ketzer ihren Glauben auf die Bibel stützen, und entschloß sich, sie zu studieren, um womöglich das Geheimnis ihrer Freude zu entdecken.
In der Bibel fand er Christum. „O Vater!“ rief er aus, „sein Opfer hat deinen Zorn besänftigt, sein Blut hat meine Flecken gereinigt, sein Kreuz hat meinen Fluch getragen, sein Tod hat für mich Genugtuung geleistet. Wir hatten viele unnütze Torheiten geschmiedet; aber du hast mir dein Wort gleich einer Fackel gegeben, und du hast mein Herz gerührt, damit ich jedes andere Verdienst, ausgenommen das des Erlösers, verabscheue.“ (Kalvin, Opusc., lat., S. 123.)
Kalvin war für das Priestertum erzogen worden. Schon im Alter von zwölf Jahren wurde er zum Kaplan einer kleinen Gemeinde ernannt, und sein Haupt war nach den Verordnungen der Kirche vom Bischof geschoren worden. Er erhielt keine Weihe, noch erfüllte er die Pflichten eines Priesters, aber er wurde Mitglied der Geistlichkeit, trug den Titel seines Amtes und erhielt in Anbetracht dessen ein Gehalt.
Als er nun fühlte, daß er nie ein Priester werden könne, widmete er sich eine Zeitlang dem Studium der Rechte, gab aber schließlich seinen Vorsatz auf und entschloß sich, sein Leben dem Evangelium zu weihen. Aber er zögerte, ein öffentlicher Lehrer zu werden. Er war von Natur schüchtern. Das Bewußtsein der großen Verantwortlichkeit einer solchen Stellung lastete schwer auf ihm und er wünschte, sich noch weiter dem Studium hinzugeben. Jedoch willigte er schließlich auf die ernsten Bitten seiner Freunde ein. „Wunderbar,“ sagte er, „ist es, daß einer von so niedriger Herkunft zu so hoher Würde erhoben werden sollte.“ (Wylie, 13. Buch, 9. Kap.)
Ruhig trat Kalvin sein Werk an, und seine Worte waren wie der Tau, der niederfällt, die Erde zu erquicken. Er hatte Paris verlassen und war nun in einer Provinzialstadt, unter dem Schutz der Prinzessin Margarete, welche, da sie das Evangelium liebte, ihren Schutz seinen Jüngern zuteil werden ließ. Kalvin war noch immer ein Jüngling, sein Wesen freundlich und anspruchslos. Er begann sein Werk mit den Leuten in ihren Wohnungen. Umgeben von den Gliedern des Haushaltes las er die Bibel und erklärte die Heilswahrheiten. Die Zuhörer brachten anderen die frohe Kunde, und bald ging Kalvin von der großen Stadt in die umliegenden kleineren Städte und Dörfer. Im Schloß und in der Hütte fand er Eingang; er ging vorwärts und legte den Grund zu Gemeinden, welche unerschrockene Zeugen für die Wahrheit liefern sollten.
Einige Monate später war er wiederum in Paris. Im Kreise der Gebildeten und Gelehrten herrschte daselbst eine ungewohnte Aufregung. Das Studium der alten Sprachen hatte die Menschen zu der Bibel geführt, und viele, deren Herzen von ihren Wahrheiten unberührt waren, besprachen sie eifrig und kämpften sogar mit den Verteidigern des Romanismus. Kalvin, ein tüchtiger Kämpfer auf dem Gebiete theologischer Streitigkeiten, hatte einen höheren Auftrag zu erfüllen als diese lärmenden Schulgelehrten. Die Gemüter der Menschen waren erweckt, und jetzt war die Zeit gekommen, ihnen die Wahrheit zu eröffnen. Während die Hörsäle der Universitäten mit dem Geschrei theologischer Streitfragen erfüllt waren, ging Kalvin von Haus zu Haus, eröffnete den Leuten die Bibel und sprach zu ihnen von Christo, dem Gekreuzigten.
Durch Gottes gnädige Vorsehung sollte Paris wiederum eine Einladung erhalten, das Evangelium anzunehmen. Es hatte den Ruf Lefevres und Farels verworfen; aber wiederum sollte von allen Ständen in jener großen Hauptstadt die Botschaft gehört werden. Der König hatte sich, von politischen Rücksichten beeinflußt, noch nicht völlig zu Rom geschlagen, um gegen die Reformation vorzugehen. Margarete hegte noch immer die Hoffnung, daß der Protestantismus in Frankreich siegen werde. Sie beschloß, daß der reformierte Glaube in Paris gepredigt werden sollte. Während der Abwesenheit des Königs ließ sie einen protestantischen Prediger in den Kirchen der Stadt predigen. Als dies von den päpstlichen Würdenträgern verboten wurde, öffnete die Fürstin den Palast. Ein Gemach wurde als Kapelle hergerichtet, und es wurde bekanntgegeben, daß jeden Tag zu einer bestimmten Stunde eine Predigt gehalten werde und das Volk aller Stände dazu eingeladen sei. Große Scharen strömten zum Gottesdienst. Nicht nur die Kapelle, sondern auch die Vorzimmer und Hallen waren gedrängt voll. Tausende kamen jeden Tag zusammen: Adlige, Staatsmänner, Rechtsgelehrte, Kaufleute und Handwerker. Anstatt die Versammlungen zu untersagen, befahl der König, daß zwei Kirchen von Paris geöffnet werden sollten. Nie zuvor war die Stadt so vom Worte Gottes bewegt worden. Es schien, als ob der Geist des Lebens vom Himmel auf das Volk gekommen sei. Mäßigkeit, Reinheit, Ordnung und Fleiß traten an die Stelle von Trunkenheit, Ausschweifung, Zwietracht und Müßiggang.
Die Priesterherrschaft war jedoch nicht müßig. Da der König sich weigerte, einzuschreiten und die Predigt zu verbieten, so wandte sie sich an die Bevölkerung. Kein Mittel wurde gespart, um die Furcht, die Vorurteile und den Fanatismus der unwissenden und abergläubischen Menge zu erregen. Und Paris, das sich seinen falschen Lehren blindlings hingab, erkannte wie Jerusalem vor alters nicht die Zeit seiner Heimsuchung noch was zu seinem Frieden diente. Zwei Jahre lang wurde das Wort Gottes in der Hauptstadt verkündigt; doch während viele das Evangelium annahmen, wurde es immerhin von der Mehrheit des Volkes verworfen. Franz hatte, um seinem eigenen Zweck zu dienen, eine gewisse religiöse Duldung an den Tag gelegt, und es gelang den päpstlichen Anhängern, wieder die Oberhand zu gewinnen. Abermals wurden die Kirchen geschlossen und die Scheiterhaufen aufgerichtet.
Kalvin war noch in Paris, bereitete sich durch Studium, Nachdenken und Gebet auf seine künftige Arbeit vor und fuhr fort, das Licht auszubreiten. Schließlich jedoch kam er in Verdacht. Die Behörden beschlossen, ihn den Flammen zu übergeben. Da er sich in seiner Abgeschiedenheit für sicher hielt, hatte er keinen Gedanken an Gefahr, als plötzlich Freunde auf sein Zimmer eilten mit der Nachricht, daß Beamte auf dem Wege seien, ihn zu verhaften. Im selben Augenblick vernahm man ein lautes Klopfen an dem äußeren Eingang. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Einige Freunde hielten die Beamten an der Tür auf, während andere dem Reformator beistanden, sich durchs Fenster hinunterzulassen und schnell aus der Stadt zu entkommen. Er fand Unterkunft in der Hütte eines Arbeiters, der ein Freund der Reformation war; er verkleidete sich, indem er einen Anzug seines Gastgebers anzog und setzte mit einer Hacke auf seiner Schulter die Reise fort. Seine Schritte nach Süden lenkend, fand er wiederum Zuflucht auf den Besitzungen Margaretes. (D’Aubigné, „Gesch. der Reform. zu den Zeiten Kalvins,“ 2. Buch, 30. Kap.)
Hier blieb er einige Monate, sicher unter dem Schutz mächtiger Freunde und befaßte sich wie zuvor mit seinen Studien. Aber sein Herz war auf die Verbreitung des Evangeliums in Frankreich bedacht, und er konnte nicht lange untätig bleiben. Sobald der Sturm sich etwas gelegt hatte, suchte er ein neues Arbeitsfeld in Poitiers, wo eine Universität war, und wo die neuen Ansichten bereits günstige Aufnahme gefunden hatten. Leute aller Stände lauschten fröhlich auf das Evangelium. Es wurde nicht öffentlich gepredigt, sondern in dem Hause des Oberbürgermeisters, in seiner eigenen Wohnung und zuweilen in öffentlichen Anlagen eröffnete Kalvin die Worte des Lebens denen, welche sie hören wollten. Als bald die Zahl seiner Zuhörer wuchs, hielt man es für sicherer, sich außerhalb der Stadt zu versammeln. Eine Höhle an der Seite einer tiefen, engen Bergschlucht, wo Bäume und überhängende Felsen die Abgeschiedenheit noch größer machten, wurde als Versammlungsort gewählt. Kleine Häuflein, welche die Stadt auf verschiedenen Wegen verließen, fanden ihren Weg unbeobachtet dorthin. An diesem abgelegenen Ort wurde die Bibel gelesen und ausgelegt. Hier wurde zum ersten Mal von den Protestanten Frankreichs das heilige Abendmahl gefeiert. Von dieser kleinen Gemeinde wurden mehrere treue Evangelisten ausgesandt.
Noch einmal kehrte Kalvin nach Paris zurück. Auch jetzt noch konnte er die Hoffnung nicht aufgeben, daß Frankreich als Ganzes die Reformation annehmen werde. Aber er fand verschlossene Türen. Das Evangelium lehren, hieß den geraden Weg nach dem Scheiterhaufen einschlagen, und er entschloß sich zuletzt, nach Deutschland zu gehen. Kaum hatte er Frankreich verlassen, als ein Sturm über die Protestanten hereinbrach, der, falls Kalvin sich dort länger aufgehalten, ihn sicherlich mit in das allgemeine Verderben gerissen hätte.
Die französischen Reformatoren, die ernstlich wünschten, daß ihr Land mit Deutschland und der Schweiz Schritt halte, beschlossen, gegen die abergläubischen Gebräuche Roms einen kühnen Streich zu führen, der die ganze Nation aufwecken sollte. Demgemäß wurden in einer Nacht über ganz Frankreich Plakate angeschlagen. Statt jedoch die Reformation zu fördern, brachte dieser eifrige aber schlecht berechnete Schritt nicht nur seinen Urhebern, sondern auch den Freunden des reformierten Glaubens in ganz Frankreich Verderben. Er lieferte den Katholiken, was sie sich lange gewünscht hatten, nämlich einen Vorwand, um die gänzliche Ausrottung der Ketzer als Aufrührer, die der Sicherheit des Thrones und dem Frieden der Nation gefährlich waren, zu verlangen.
Von unbekannter Hand - ob der eines unbesonnenen Freundes oder eines verschlagenen Feindes, stellte sich nie heraus - wurde eines der Plakate an die Tür des königlichen Privatgemachs befestigt. Der Monarch war entsetzt. In dieser Schrift wurden abergläubische Gebräuche, die jahrhundertelang bestanden hatten, schonungslos angegriffen. Die beispiellose Verwegenheit, diese ungeschminkten und erschreckenden Aussprüche vor den König zu bringen, erregte seinen Zorn. Vor Entsetzen stand er eine kurze Zeit bebend und sprachlos da. Dann brach seine Wut in den schrecklichen Worten aus: „Man ergreife ohne Unterschied alle, die des Luthertums verdächtig sind... Ich will alle ausrotten.“ (Ebd., 4. Buch, 10. Kap.) Der Würfel war gefallen. Der König war nun entschlossen, sich ganz auf die Seite Roms zu stellen.
Sofort wurden Maßregeln ergriffen, einen jeglichen Lutheraner in Paris zu verhaften. Ein armer Handwerker, Anhänger des reformierten Glaubens, der gewohnt war, die Gläubigen zu ihren geheimen Versammlungen zu rufen, wurde festgenommen, und man gebot ihm unter Androhung des sofortigen Todes auf dem Scheiterhaufen, den päpstlichen Boten in die Wohnung eines jeden Protestanten in der Stadt zu führen. Er schreckte mit Entsetzen vor dem gemeinen Vorschlag zurück; schließlich jedoch siegte die Furcht vor den Flammen, und er willigte ein, der Verräter seiner Brüder zu werden. Mit der vor ihm hergetragenen Hostie und von einem Gefolge von Priestern, Weihrauchträgern, Mönchen und Soldaten umgeben, zog Morin, der königliche Kriminalrichter, mit dem Verräter langsam und schweigend durch die Straßen der Stadt. Der Zug sollte scheinbar zu Ehren „des heiligen Sakramentes“ sein, eine versöhnende Handlung für die Beleidigungen, welche die Protestierenden der Messe zugefügt hatte. Doch lag unter diesem Gepränge eine tödliche Absicht verborgen. Beim Hause eines Lutheraners angelangt, gab der Verräter ein Zeichen; doch kein Wort wurde gesprochen. Der Zug machte halt, das Haus wurde betreten, die Familie heraus geschleppt und in Ketten gelegt, und die fürchterliche Schar ging weiter, um neue Opfer aufzusuchen. „Er schonte weder große noch kleine Häuser noch die Gebäude der Universität. ... Vor Morin zitterte die ganze Stadt. ... Es war eine Zeit der Schreckensherrschaft.“ (Ebd.)
Die Opfer wurden unter grausamen Schmerzen getötet, denn ein besonderer Befehl war ergangen, das Feuer zu schwächen, um ihre Qualen zu verlängern. Sie starben jedoch als Sieger. Ihre Standhaftigkeit blieb unerschüttert, ihr Friede ungetrübt. Ihre Verfolger, die ihrer unbeugsamen Festigkeit gegenüber machtlos waren, fühlten sich geschlagen. „Scheiterhaufen wurden in allen Vierteln von Paris aufgerichtet, und das Verbrennen erfolgte an verschiedenen aufeinanderfolgenden Tagen in der Absicht, die Furcht vor der Ketzerei durch Ausdehnung der Hinrichtungen zu verbreiten. Der Vorteil blieb jedoch schließlich auf der Seite des Evangeliums. Ganz Paris konnte sehen, was für Männer die neuen Lehren zu erzeugen vermochten. Keine Kanzel konnte so beredt sein wie des Märtyrers Scheiterhaufen. Die stille Freude, welche auf den Angesichtern jener Männer ruhte, wenn sie dem Richtplatz zuschritten, ihr Heldenmut inmitten der peinigenden Flammen, ihr sanftmütiges Vergeben der Beleidigungen verwandelten nicht selten den Zorn in Mitleid und den Haß in Liebe und zeugten mit unwiderstehlicher Beredsamkeit zugunsten des Evangeliums.“ (Wylie, 13. Buch, 20. Kap.)
Die Priester, welche es darauf abgesehen hatten, die Wut des Volkes auf der Höhe zu erhalten, verbreiteten die schrecklichsten Anschuldigungen gegen die Protestanten. Man beschuldigte sie, sich verbunden zu haben, den König zu ermorden, die Katholiken hinzuschlachten und die Regierung zu stürzen. Aber nicht der geringste Beweis einer solchen Vereinigung konnte zur Unterstützung vorgebracht werden. Doch sollten diese Vorhersagungen kommenden Unheils erfüllt werden, wenn auch unter ganz verschiedenen Umständen und aus entgegengesetzten Ursachen. Die von den Katholiken an den unschuldigen Protestanten verübten Grausamkeiten häuften sich zu einer Last der Wiedervergeltung auf und verursachten in späteren Jahrhunderten gerade das Schicksal, das nach ihrer Weissagung dem König, seiner Regierung und seinen Untertanen drohte; aber es wurde durch Ungläubige und päpstliche Anhänger selbst herbeigeführt. Es war nicht die Einführung, sondern die Unterdrückung des Protestantismus, welche 300 Jahre später diese schrecklichen Heimsuchungen über Frankreich bringen sollte.
Argwohn, Mißtrauen und Entsetzen durchsäuerten nun alle Klassen der Gesellschaft. Inmitten der allgemeinen Aufregung zeigte es sich, wie tief die lutherische Lehre in den Herzen von Männern Wurzel gefaßt hatte, welche sich durch ihre Bildung, ihren Einfluß und ihren vorzüglichen Charakter auszeichneten. Vertrauensposten und Ehrenstellen fand man plötzlich unbesetzt. Handwerker, Drucker, Gelehrte, Professoren der Universitäten, Schriftsteller, ja sogar Höflinge verschwanden. Hunderte flohen aus Paris und verließen freiwillig das Land ihrer Geburt, wodurch sie in vielen Fällen die Andeutung gaben, daß sie dem reformierten Glauben geneigt waren. Die Katholiken blickten erstaunt um sich bei dem Gedanken an die Ketzer, die sie ahnungslos in ihrer Mitte geduldet hatten. Ihre Wut ließen sie an der Menge niedrigerer Opfer aus, die in ihrer Gewalt waren. Die Gefängnisse waren gedrängt voll, und die Luft schien verdunkelt durch den Rauch der brennenden Scheiterhaufen, die für die Bekenner des Evangeliums angezündet waren.
Franz 1. hatte sich gerühmt, ein Anführer zugunsten der Wiederbelebung der Gelehrsamkeit zu sein, welche den Anfang des 16. Jahrhunderts kennzeichnete. Es hatte ihm Freude gemacht, gelehrte Männer aus allen Ländern an seinen Hof zu versammeln. Seiner Liebe zur Gelehrsamkeit und seiner Verachtung der Unwissenheit und des Aberglaubens der Mönche verdankte man wenigstens zum Teil den Grad religiöser Duldung, welche der Reformation gewährt worden war. Aber von großem Eifer, die Ketzerei auszurotten, begeistert, erließ dieser Beschützer der Wissenschaft ein Edikt, welches das Drucken in ganz Frankreich verbot. Franz I. liefert, eins der vielen Beispiele in der Geschichte, welche beweisen, daß geistige Bildung nicht vor religiöser Unduldsamkeit und Verfolgung schützt.
Durch eine feierliche und öffentliche Handlung sollte Frankreich sich völlig zur Vernichtung des Protestantismus hergeben. Die Priester verlangten, daß die dem Himmel durch Verdammung der Messe widerfahrene Beleidigung durch Blut gesühnt werden müsse, und daß der König um seines Volkes willen dieses schreckliche Werk öffentlich genehmige.
Der 21. Januar 1535 wurde für die fürchterliche Handlung gewählt. Die abergläubischen Befürchtungen und der blinde Haß des gesamten Volkes waren erweckt worden. Die Straßen von Paris waren mit Menschenmengen angefüllt, die sich aus der ganzen umliegenden Gegend eingestellt hatten. Der Tag sollte durch einen großartigen und prunkvollen Festzug eingeleitet werden. Die Häuser, wo der Zug vorbeigehen sollte, waren mit Trauerflor behangen, und Altäre erhoben sich hier und da. Vor jeder Tür befand sich zu Ehren des „heiligen Sakramentes“ eine brennende Fackel. Vor Tagesanbruch bildete sich der Festzug im königlichen Palast. „Zuerst kamen die Banner und Kreuze der verschiedenen Kirchspiele, dann erschienen paarweise die Bürger mit Fackeln in den Händen.“ Ihnen folgten die vier Mönchsorden, jeder in seiner ihm eigenen Tracht. Dann kam eine große Sammlung von berühmten Reliquien. Nach diesen ritten Kirchenfürsten in ihren Purpur- und Scharlachgewändern und ihrem Juwelenschmuck - eine prunkende, glänzende Ausrüstung.
„Die Hostie wurde von dem Bischof von Paris unter einem kostbaren Traghimmel,... der von vier Prinzen von Geblüt gehalten wurde, einher getragen. ... Hinter der Hostie ging der König. ... Franz 1. trug weder Krone noch königliche Gewänder; mit entblößtem Haupt und gesenktem Blick, in der Hand eine brennende Kerze haltend,“ erschien der König von Frankreich „als ein Büßender.“ (Wylie, 13. Buch, 21. Kap.) Vor jedem Altar beugte er sich in Demütigung, nicht wegen der Laster, welche seine Seele verunreinigten, oder um des unschuldigen Blutes willen, das seine Hände befleckte, sondern um der Todsünde seiner Untertanen willen, die es gewagt hatten, die Messe zu verdammen. Ihm folgten die Königin und die Würdenträger des Staates, ebenfalls paarweise, jeder mit einer brennenden Kerze.
Als ein Teil des Dienstes jenes Tages hielt der Monarch selbst im großen Saal des bischöflichen Palastes eine Ansprache an die hohen Beamten des Reiches. Mit sorgenvollem Angesicht erschien er vor ihnen und beklagte in Worten voll ergreifender Beredsamkeit „den Frevel, die Gotteslästerung, den Tag des Schmerzes und der Schande,“ der über das Volk hereingebrochen sei. Dann forderte er jeden treuen Untertan auf, an der Ausrottung der verderblichen Ketzerei mitzuhelfen, welche Frankreich mit dem Untergang drohte. „So wahr ich Euer König bin, Ihr Herren, wüßte ich eines meiner eigenen Glieder von dieser abscheulichen Fäulnis befleckt und angesteckt, ich ließe es mir von Euch abhauen. ... Noch mehr: Sähe ich eines meiner Kinder damit behaftet, ich würde sein nicht schonen. ... Ich würde es selbst ausliefern und Gott zum. Opfer bringen!“ Tränen erstickten seine Rede, und die ganze Versammlung weinte und rief einstimmig: „Wir wollen leben und sterben für den katholischen Glauben!“ (D’Aubigné, „Gesch. der Reform. zu den Zeiten Kalvins“, 4. Buch, 12. Kap.)
Schrecklich war die Finsternis des Volkes geworden, welches das Licht der Wahrheit verworfen hatte. „Die heilsame Gnade“ war erschienen; doch Frankreich hatte sich, nachdem es ihre Macht und Heiligkeit geschaut, nachdem Tausende von ihrem göttlichen Reiz gefesselt, Städte und Weiler von ihrem Glanz erleuchtet worden waren, abgewandt und die Finsternis dem Lichte vorgezogen, Es hatte die himmlische Gabe von sich gewiesen, als sie ihm angeboten wurde. Es hatte Böses gut und Gutes böse geheißen, bis es auch ein Opfer seiner eigenen störrischen Selbsttäuschung geworden war. Und wenn es auch wirklich jetzt glauben mochte, Gott einen Dienst zu erweisen, indem es sein Volk verfolgte, so konnte seine Aufrichtigkeit es doch nicht von Schuld freisprechen. Es hatte das Licht, das es vor Täuschung und vor Befleckung der Seele mit Blutschuld hätte bewahren können, eigenwillig verworfen.
In der großen Kathedrale, wo beinahe drei Jahrhunderte später die „Göttin der Vernunft“ auf den Thron gehoben wurde von einem Volk, weiches den lebendigen Gott vergessen hatte, legte man einen feierlichen Eid ab, die Ketzerei auszurotten. Von neuem bildete sich der Festzug, und die Vertreter Frankreichs machten sich auf den Weg, das Werk anzufangen, das sie geschworen hatten, auszuführen. „In geringen Zwischenräumen waren Gerüste errichtet worden, auf welchen gewisse Protestanten lebendig verbrannt werden sollten, und es war bestimmt worden, die Holzscheite beim Herannahen des Königs anzuzünden, damit der Festzug anhalten und Augenzeuge der Hinrichtung sein möchte.“ (Wylie, 13. Buch, 21. Kap.) Die Einzelheiten der von diesen Zeugen für Christum ausgestandenen Qualen sind zu schauerlich, um angeführt zu werden; aber die Opfer zeigten keine Unentschlossenheit. Als man auf sie eindrang, zu widerrufen, gab einer der Märtyrer zur Antwort: „Ich glaube nur, was die Propheten und Apostel ehemals gepredigt und was die ganze Gemeinschaft der Heiligen geglaubt hat. Mein Glaube setzt seine Zuversicht auf Gott und wird aller Gewalt der Hölle widerstehen.“ (D’Aubigné, „Gesch. der Reform. zu den Zeiten Kalvins“, 4. Buch, 12. Kap.)
Immer wieder aufs neue hielt der Festzug an den Marterstätten an. Nachdem er zu ihrem Ausgangspunkt am königlichen Palast zurückgekehrt war, verlief sich die Menge, und der König und die Prälaten zogen sich zurück, wohl zufrieden mit den Vorgängen des Tages und wünschten sich Glück, daß das eben begonnene Werk bis zur gänzlichen Ausrottung der Ketzerei fortgesetzt werden würde.
Das Evangelium des Friedens, welches Frankreich verworfen hatte, sollte nur zu sicher ausgewurzelt werden, und schrecklich würden die Folgen sein. Am 21. Januar 1793, 258 Jahre später, von dem nämlichen Tage an gerechnet, an welchem Frankreich sich völlig der Verfolgung der Reformation hingab, zog ein anderer Zug zu einem ganz anderen Zweck durch die Straßen von Paris. „Abermals war der König die Hauptperson, abermals erhob sich Tumult und Lärm; wiederum wurde der Ruf nach mehr Opfern laut; aufs neue gab es schwarze Schafotte, und nochmals wurden die Auftritte des Tages mit schrecklichen Hinrichtungen beschlossen. Ludwig XVI. der sich den Händen seiner Kerkermeister und Henker zu entwinden strebte, wurde auf den Henkerblock geschleppt und hier mit Gewalt gehalten, bis das Beil gefallen war und sein abgeschlagenes Haupt auf das Schafott rollte.“ (Wylie, 13. Buch, 21. Kap.) Auch war der König nicht das alleinige Opfer; nahe bei der nämlichen Stätte kamen während der blutigen Tage der Schreckensherrschaft 2800 Menschen durch die Guillotine ums Leben.
Die Reformation hatte der Welt eine offene Bibel angeboten, indem sie die Vorschriften des Gesetzes Gottes aufschloß und seine Ansprüche auf das Gewissen des Volkes geltend machte. Die unendliche Liebe hatte den Menschen die Grundsätze und Vorschriften des Himmels entfaltet. Gott hatte gesagt: „So behaltet’s nun und tut es. Denn das wird eure Weisheit und Verstand sein bei allen Völkern, wenn sie hören werden alle diese Gebote, daß sie müssen sagen: Ei, welch weise und verständige Leute sind das und ein herrliches Volk!“ (5. Mose 4, 6.) Als Frankreich die Gabe des Himmels verwarf, säte es den Samen des Umsturzes und des Verderbens; und die unausbleibliche Entwicklung von Ursache und Wirkung gipfelte in der Revolution und der Schreckensherrschaft.
Schon lange vor der durch die Plakate angeregte Verfolgung hatte sich der kühne und eifrige Farel gezwungen gesehen, aus seinem Vaterland zu fliehen. Er begab sich in die Schweiz, und durch sein Wirken, wodurch Zwinglis Werk unterstützt wurde, trug er dazu bei, den Ausschlag zugunsten der Reformation zu geben. Seine späteren Jahre sollten hier verbracht werden, jedoch fuhr er fort, einen entschiedenen Einfluß auf die Reformation in Frankreich auszuüben. Während der ersten Jahre seiner Verbannung waren seine Bemühungen ganz besonders auf die Ausbreitung der Reformation in seinem Geburtsland gerichtet. Er verwandte viel Zeit auf die Predigt des Evangeliums unter seinen Landsleuten nahe der Grenze, wo er mit unermüdlicher Wachsamkeit den Kampf verfolgte und mit seinen Worten der Ermutigung und des Rates diente. Mit der Hilfe anderer Verbannten wurden die Schriften der deutschen Reformatoren in die französische Sprache übersetzt und zusammen mit der französischen Bibel in großer Menge gedruckt. Kolporteure verkauften diese Werke weit umher in Frankreich, und da sie ihnen zu niedrigen Preisen geliefert wurden, ermöglichte es ihnen der Gewinn, mit der Arbeit fortzufahren.
Farel trat sein Werk in der Schweiz unter dem bescheidenen Gewande eines Schullehrers an. In einem abgelegenen Kirchspiel widmete er sich der Erziehung der Kinder. Außer den gewöhnlichen Lehrfächern führte er vorsichtig die Wahrheiten der Bibel ein, indem er durch die der die Eltern zu erreichen hoffte. Etliche glaubten; aber die Priester traten dazwischen, um dem Werke Christi Einhalt zu tun, und die abergläubischen Landleute wurden aufgehetzt, sich ihm zu widersetzen. Das könne nicht das Evangelium Christi sein, betonten die Priester, wenn dessen Predigt keinen Frieden, sondern Krieg bringe. Gleich den ersten Jüngern floh Farel, wenn er in einer Stadt verfolgt wurde, in eine andere, kam zu Fuß reisend von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, erduldete Hunger, Kälte und Erniedrigung und war überall in Lebensgefahr. Er predigte auf Marktplätzen, in Kirchen, mitunter auf den Kanzeln der Münster. Manchmal fand er die Kirche ohne Zuhörer; zuweilen wurde seine Predigt von Geschrei und Spott unterbrochen, oder er wurde gewaltsam von der Kanzel herunter gerissen. Mehr als einmal wurde er von dem Pöbel angegriffen und beinahe zu Tode geschlagen. Dennoch drängte er vorwärts. Wenn auch oft zurückgeschlagen, wandte er sich doch mit unermüdlicher Ausdauer immer wieder dem Kampfe zu, und nach und nach sah er Flecken und Städte, die zuvor Festen des Papsttums gewesen waren, dem Evangelium ihre Türen öffnen. Das kleine Kirchspiel, in dem er zuerst gearbeitet hatte, nahm bald den reformierten Glauben an. Auch die Städte Murten und Neuenburg gaben die römischen Gebräuche auf und schafften die Bilder aus ihren Kirchen fort.
Schon lange hatte Farel gewünscht, die protestantische Fahne in Genf aufzupflanzen. Könnte diese Stadt gewonnen werden, so würde sie der Mittelpunkt für die Reformation in Frankreich, der Schweiz und Italien sein. Mit diesem Zweck im Auge hatte er seine Arbeit fortgesetzt, bis viele der umliegenden Städte und Ortschaften gewonnen worden waren. Dann betrat er mit einem einzigen Gefährten Genf. Aber nur zwei Predigten durfte er dort halten. Die Priester, die sich umsonst bemüht hatten, von den weltlichen Behörden seine Verurteilung zu erlangen, beschieden ihn jetzt vor einen Rat der Kirche, zu welchem sie sich mit unter den Kleidern verborgenen Waffen begaben, entschlossen, ihm das Leben zu nehmen. Vor der Halle sammelte sich eine wütende Menge mit Knütteln und Schwertern, um ihn zu töten, falls es ihm gelingen sollte, dem Rat zu entrinnen. Die anwesende Obrigkeit jedoch und eine bewaffnete Macht rettete ihn. Früh am nächsten Morgen wurde er mit seinem Gefährten über den See nach einem sicheren Ort gebracht. So endete seine erste Anstrengung in Genf, das Evangelium zu verkündigen.
Für den nächsten Versuch wurde ein bescheideneres Werkzeug gewählt - ein junger Mann, von einem so bescheidenen Aussehen, daß ihn sogar die vorgeblichen Freunde der Reformation kalt behandelten. Aber was konnte ein solcher da tun, wo Farel verworfen worden war? Wie konnte einer, der wenig Mut und Erfahrung besaß, dem Sturm widerstehen, vor welchem die Stärksten und Tapfersten zur Flucht gezwungen worden waren? „Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.“ (Sach. 4, 6.) „Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache.“ „Denn die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, denn die Menschen sind.“ (l. Kor. 1, 27.25.)
Froment begann sein Werk als Schulmeister. Die Wahrheiten, welche er den Kindern in der Schule lehrte, wiederholten sie zu Hause; bald kamen die Eltern, um zuzuhören, wie die Bibel erklärt wurde, und das Schulzimmer füllte sich mit aufmerksamen Zuhörern. Neue Testamente und Traktate wurden reichlich verteilt und erreichten viele, die es nicht wagten, offen zu kommen, um die neuen Lehren zu hören. Bald wurde auch dieser Arbeiter zur Flucht gezwungen; aber die Wahrheiten, die er lehrte, hatten in den Herzen des Volkes Wurzel gefaßt - die Reformation war gepflanzt worden und fuhr fort, stärker zu werden und sich auszudehnen. Die Prediger kehrten zurück, und durch ihre Arbeit wurde schließlich der protestantische Gottesdienst in Genf eingeführt.
Die Stadt hatte sich bereits für die Reformation erklärt, als Kalvin nach verschiedenen Wanderungen und Wechselfällen ihre Tore betrat. Von einem letzten Besuch seines Geburtsortes zurückkehrend, war er auf dem Wege nach Basel; doch da er die direkte Straße von den Truppen Karls V. besetzt fand, sah er sich gezwungen, den Umweg über Genf zu nehmen.
In dieser Reise erkannte Farel die Hand Gottes. Obgleich Genf den reformierten Glauben angenommen hatte, blieb doch noch immer ein großes Werk dort zu verrichten. Nicht als Gemeinschaften, sondern als einzelne Personen müssen Seelen zu Gott bekehrt werden; das Werk der Wiedergeburt muß im Herzen und Gewissen und durch den Heiligen Geist, nicht durch Konzilienbeschlüsse verrichtet werden. Während die Genfer die Botmäßigkeit Roms abgeschüttelt hatten, waren sie noch nicht bereit, die Laster zu fliehen, welche unter seiner Herrschaft gepflegt wurden. Hier die reinen Grundsätze des Evangeliums einzuführen und dies Volk zuzubereiten, würdig die Stellung auszufüllen, zu welcher die Vorsehung es berufen zu haben schien, war keine leichte Aufgabe.
Farel war überzeugt, daß er in Kalvin jemand gefunden hatte, der sich ihm in diesem Werke anschließen konnte. Im Namen Gottes beschwor er den jungen Prediger feierlich, hier zu bleiben und zu arbeiten. Kalvin erschrak sehr. Furchtsam und friedliebend, bebte er zurück von der Berührung mit dem kühnen, unabhängigen, ja sogar heftigen Geist der Genfer. Seine schwache Gesundheit und die Gewohnheit, dem Studium obzuliegen, veranlaßten ihn, die Zurückgezogenheit zu suchen. In der Meinung, der Sache der Reformation am besten durch seine Feder dienen zu können, wünschte er sich ein ruhiges Plätzchen zum Studium, um daselbst durch die Presse die Gemeinden zu unterweisen und aufzubauen. Aber Farels feierliche Warnung kam zu ihm als ein Ruf vom Himmel, und er wagte es nicht, sich zu widersetzen. Es schien ihm, wie er sagte, „als ob die Hand Gottes vom Himmel herab ausgereckt ihn ergriffen und unwiderruflich an den Ort gesetzt habe, den er so gern verlassen wollte.“ (D’Aubigné, Gesch. der Reform. zu den Zeiten Kalvins, 9. Buch, 17. Kap.)
Zu dieser Zeit drohten der protestantischen Sache große Gefahren. Die Bannflüche des Papstes donnerten gegen die Stadt Genf, und mächtige Nationen drohten ihr mit Verderben. Wie sollte diese kleine Stadt der gewaltigen Priestermacht widerstehen, die sonst Könige und Kaiser zur Unterwürfigkeit gezwungen hatte? Wie konnte sie den Heeren der großen Eroberer der Welt standhalten?
In der ganzen Christenheit drohten dem Protestantismus furchtbare Feinde. Als die ersten Siege der Reformation vorüber waren, sammelte Rom neue Kräfte in der Hoffnung, ihre Vernichtung zu vollenden. Um diese Zeit wurde der Jesuitenorden gestiftet. Von irdischen Banden und menschlichen Beziehungen abgeschnitten, den Ansprüchen der natürlichen Neigung abgestorben, Vernunft und Gewissen völlig zum Schweigen gebracht, kannten die Jesuiten keine Herrschaft, keine Verbindung als nur die ihres Ordens und keine andere Pflicht als die, seine Macht auszudehnen. (Siehe Anhang.) Das Evangelium Christi hatte seine Anhänger in den Stand gesetzt, ungeachtet der Kälte, des Hungers, der Mühe und Armut Gefahren zu begegnen und Leiden zu erdulden und das Banner der Wahrheit angesichts des Kerkers, der Folter und des Scheiterhaufens hochzuhalten. Um diese zu bekämpfen, begeisterte das Jesuitentum seine Nachfolger mit einem Glaubenseifer, welcher sie befähigte, gleiche Gefahren zu erdulden und der Macht der Wahrheit alle Waffen der Täuschung gegenüberzustellen. An ständige Armut und Niedrigkeit durch ein Gelübde gebunden, richtet sich ihr ständiges Streben darauf, Reichtum und Macht zu erlangen, um beides zum Sturz des Protestantismus und zur Wiederherstellung der päpstlichen Oberherrschaft zu verwenden.
Als Glieder ihres Ordens erschienen sie in einem Gewand der Heiligkeit, besuchten Gefängnisse und Krankenhäuser, halfen den Kranken und Armen, gaben vor, der Welt entsagt zu haben und trugen den heiligen Namen Jesu, der umherging, Gutes zu tun. Aber unter diesem tadellosen Äußeren wurden oft die gewissenlosesten und tödlichsten Absichten verborgen. Es war ein Hauptgrundsatz des Ordens, daß der Zweck die Mittel heilige, und durch diese Regel wurden Lüge, Diebstahl, Meineid, Meuchelmord nicht nur verzeihlich, sondern sogar lobenswert, wenn sie zum besten der Kirche dienten. Unter verschiedenen Verstellungen bahnten sich die Jesuiten ihren Weg zu Ämtern im Staate, arbeiteten sich zu Ratgebern der Könige empor und leiteten die Politik der Nationen. Sie dienten als Knechte, um als Spione ihre Herren zu überwachen. Sie errichteten Hochschulen für die Söhne der Fürsten und Adligen und Schulen für das gewöhnliche Volk und brachten die Kinder protestantischer Eltern dahin, daß sie päpstliche Gebräuche beobachteten. Das ganze äußerliche Gepränge und der Pomp des päpstlichen Gottesdienstes sollte darauf hinwirken, den Verstand zu verwirren und die Einbildung zu blenden und zu fesseln. Auf diese Weise wurde die Freiheit, für welche die Väter gearbeitet und geblutet hatten, von den Söhnen verraten. Rasch breiteten sich die Jesuiten über ganz Europa aus, und wohin sie kamen, folgte eine Wiederbelebung des Papsttums.
Um ihnen größere Macht zu geben, wurde eine Bulle erlassen, welche die Inquisition wieder einführte. (Siehe Anhang.) Trotz dem allgemeinen Abscheu, mit welchem man sie sogar in katholischen Ländern betrachtete, wurde dieses schreckliche Gericht von päpstlichen Herrschern aufs neue eingesetzt, und Abscheulichkeiten, zu schrecklich, um ans Tageslicht gebracht zu werden, wurden in den verborgenen Kerkerzellen wiederholt. In vielen Ländern wurden Tausende und aber Tausende, die Blüte der Nation, die Reinsten und Edelsten, die Verständigsten und höchst Gebildeten, fromme und ergebene Prediger, arbeitsame und vaterlandsliebende Bürger, große Gelehrte, begabte Künstler, tüchtige Gewerbetreibende erschlagen oder gezwungen, in andere Länder zu fliehen.
Dies waren die Mittel, welche Rom erdacht hatte, um das Licht der Reformation auszulöschen, den Menschen die Bibel zu entziehen und die Unwissenheit und den Aberglauben des Mittelalters wiederherzustellen. Aber unter dem Gottessegen und durch die Bemühungen jener edlen Männer, die der Herr als Luthers Nachfolger erweckt hatte, wurde der Protestantismus nicht gestürzt. Nicht der Gunst oder dem Arm der Fürsten sollte er seine Stärke verdanken. Die kleinsten Länder, die bescheidensten und die verhältnismäßig schwächsten Völker wurden seine Bollwerke. Es war das kleine Genf inmitten mächtiger Feinde, die auf seinen Untergang bedacht waren; es war Holland mit seinen Sanddünen an der Nordsee, welches gegen die Tyrannei Spaniens, damals das größte und reichste der Königreiche, kämpfte; es war das rauhe, unfruchtbare Schweden, - alle diese errangen Siege für die Reformation.
Beinahe dreißig Jahre lang arbeitete Kalvin in Genf, erstens um dort eine Gemeinde zu gründen, die sich an die reine Sittlichkeit der Bibel halte, und dann um die Reformation über ganz Europa zu verbreiten. Seine Art und Weise als öffentlicher Lehrer war nicht ohne Tadel, noch waren seine Lehren frei von Irrtum. Aber er war das Werkzeug zur Verkündigung der großen Wahrheiten, die in seiner Zeit von besonderer Wichtigkeit waren, zur Aufrechterhaltung der Grundsätze des Protestantismus gegen die rasch zurückkehrende Flut des Romanismus und zur Förderung von Reinheit und Einfachheit des Lebens in den reformierten Gemeinden anstelle des Stolzes und der Verderbnis, welche durch die päpstlichen Lehren genährt wurden.
Von Genf gingen Schriften und Lehrer aus, um die reformierten Lehren auszubreiten. Dorthin schauten die Verfolgten aller Länder, um Belehrung, Rat und Ermutigung zu erlangen. Die Stadt Kalvins wurde zu einer Zufluchtsstätte für die verfolgten Reformatoren des ganzen westlichen Europas. Auf der Flucht vor den schrecklichen Stürmen, die Jahrhunderte lang anhielten, kamen die Flüchtlinge zu den Toren Genfs. Ausgehungert, verwundet, der Heimat und der Verwandten beraubt, wurden sie warm empfangen und liebreich versorgt, und indem sie hier eine Heimat fanden, gereichten sie der Stadt, die sie aufgenommen, durch ihre Frömmigkeit, Gelehrsamkeit und Tüchtigkeit zum Segen. Viele, welche hier erst eine Zuflucht gesucht hatten, kehrten wieder nach ihrer eigenen Heimat zurück, um der Tyrannei Roms Widerstand zu bieten. John Knox, der wackere schottische Reformator, nicht wenige der englischen Puritaner, die Protestanten aus Holland und Spanien und die Hugenotten von Frankreich, trugen von Genf aus die Fackel der Wahrheit, um die Finsternis ihres heimatlichen Landes zu erleuchten.


 
KAPITEL 13

DIE NIEDERLANDE UND SKANDINAVIEN

In den Niederlanden rief die päpstliche Wüterei schon sehr frühe entschiedenen Widerstand hervor. So wurde der römische Oberpriester schon 700 Jahre vor der Zeit Luthers von zwei Bischöfen, welche, da sie mit einem Auftrag nach Rom gesandt worden waren, den wahren Charakter des „heiligen Stuhles“ kennengelernt hatten, furchtlos folgendermaßen angeklagt: Gott „hat seine Königin und Braut, die Gemeinde, zu einer edlen und ewigen Anordnung für ihre Familie gesetzt, mit einer Mitgift, die weder vergänglich noch verderbbar ist, und hat ihr eine ewige Krone, ein Zepter gegeben,... Wohltaten, die du wie ein Dieb abschneidest. Du setzest dich in den Tempel Gottes als ein Gott; statt ein Hirte zu sein, bist du den Schafen zum Wolfe geworden. ... Du willst, daß wir dich für einen hohen Bischof halten; aber du beträgst dich vielmehr wie ein Tyrann. ... Statt ein Knecht aller Knechte zu sein, wie du dich nennst, bemühst du dich, ein Herr aller Herren zu werden. ... Du bringst die Gebote Gottes in Verachtung. ... Der Heilige Geist ist der Erbauer aller Gemeinden, so weit sich die Erde ausdehnt. ... Die Stadt unseres Gottes, von der wir Bürger sind, reicht zu allen Teilen des Himmels, und sie ist größer als die Stadt, welche die heiligen Propheten Babylon nannten, die vorgibt, göttlich zu sein, sich zum Himmel erhebt und sich rühmt, daß ihre Weisheit unsterblich sei, und schließlich, wenn auch ohne Grund, daß sie nie irre noch irren könne.“ (Brandt, Gesch. der niederländischen Reform., 1. Buch, S. 6.)
Andere Stimmen erhoben sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, um diesen Protest von neuem erschallen zu lassen. Und jene ersten Lehrer, die verschiedene Länder durchzogen, unter verschiedenen Namen bekannt waren, den Charakter der waldensischen Missionare hatten und überall die Erkenntnis des Evangeliums ausbreiteten, drangen auch in die Niederlande ein. Ihre Lehren verbreiteten sich rasch. Die waldensische Bibel übersetzten sie in Versen in die holländische Sprache. Sie erklärten, „daß ein großer Vorteil darin sei, daß sich in ihr keine Scherze, keine Fabeln, kein Spielwerk, kein Betrug, nichts als Worte der Wahrheit befänden, daß allerdings hier und da eine harte Kruste sei, aber dadurch nur der Kern und die Süßigkeit alles dessen, was gut und heilig ist, leichter entdeckt werde.“ (Ebd., S. 14.) So schrieben die Freunde des alten Glaubens im zwölften Jahrhundert.
Als dann die päpstlichen Verfolgungen begannen, fuhren die Gläubigen fort, sich inmitten der Scheiterhaufen und Foltern zu vermehren, und erklärten standhaft, daß die Bibel die einzige, untrügliche Autorität in Religionssachen sei, und daß „niemand gezwungen werden solle zu glauben, sondern durch die Predigt gewonnen werden müsse.“ (Ebd., S. 14.)
Luthers Lehren fanden in den Niederlanden einen zusagenden Boden, und ernste, treue Männer standen auf, um das Evangelium zu predigen. Aus einer Provinz Hollands kam Menno Simons. Römisch-katholisch erzogen und zum Priester geweiht, war er der Bibel völlig unkundig und wollte sie aus Furcht, zur Ketzerei verführt zu werden, nicht lesen. Als sich ihm ein Zweifel über die Verwandlungslehre aufdrängte, betrachtete er dies als eine Versuchung vom Satan und suchte durch Gebet und Beichte sich davon zu befreien; aber umsonst. In weltlichen Vergnügungen wollte er die anklagende Stimme des Gewissens zum Schweigen bringen; aber es war ohne Erfolg. Nach einiger Zeit unternahm er das Studium des Neuen Testaments, und dies nebst Luthers Schriften veranlaßte ihn, den protestantischen Glauben anzunehmen. Bald darauf war er in einem benachbarten Dorf Augenzeuge der Enthauptung eines Mannes, der getötet wurde, weil er wieder getauft worden war. Dies führte ihn zum Studium der Bibel betreffs der Kindertaufe. Er konnte keine Beweise dafür in der Heiligen Schrift finden, sah aber, daß Reue und Glauben überall die Bedingung zu dem Empfang der Taufe waren.
Menno zog sich von der römischen Kirche zurück und widmete sich der Verkündigung der Wahrheiten, welche er empfangen hatte. Sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden waren Schwärmer aufgetreten, welche aufrührerische Lehren verkündigten, Ordnung und Sittsamkeit schmähten und zu Gewalttat und Empörung schritten. Menno sah die schrecklichen Folgen, zu welchen dies Vorgehen unvermeidlich leiten würde, und widersetzte sich ernstlich den irrtümlichen Lehren und wilden Hirngespinsten dieser Schwärmer. Es gab viele, welche durch die Schwärmer irregeleitet worden waren, jedoch später ihren verführerischen Lehren entsagt hatten; auch waren noch viele Nachkommen der alten Christen, die Früchte der waldensischen Lehren, übriggeblieben. Unter diesen Klassen arbeitet Menno mit großem Eifer und Erfolg.
Fünfundzwanzig Jahre reiste er mit seiner Frau und seinen Kindern umher, erduldete große Mühsale und Entbehrungen und war oft in Lebensgefahr. Er durchreiste die Niederlande und das nördliche Deutschland, indem er hauptsächlich unter den bescheideneren Klassen arbeitete, jedoch einen weitreichenden Einfluß ausübte. Von Natur beredt, wenn auch von beschränkter Bildung, war er ein Mann von unerschütterlicher Rechtschaffenheit, demütigem Geist, freundlichem Wesen und von aufrichtiger und ernster Frömmigkeit, der die Vorschriften, welche er lehrte, in seinem eigenen Leben ausführte und sich das Vertrauen des Volkes erwarb. Seine Nachfolger wurden zerstreut und unterdrückt. Doch wurden unter seinem Wirken sehr viele Seelen bekehrt.
Nirgends wurden die reformierten Lehren allgemeiner angenommen als in den Niederlanden. In wenigen Ländern erduldeten ihre Anhänger schrecklichere Verfolgung. In Deutschland hatte Karl V. die Reformation verbannt und hätte gern alle ihre Anhänger auf den Scheiterhaufen gebracht; aber die Fürsten erhoben sich als Schranken gegen seine Willkür. In den Niederlanden war seine Macht größer, und Verfolgungsbefehle wurden in rascher Aufeinanderfolge erlassen. Die Bibel zu lesen, sie zu predigen oder zu hören, oder auch nur von ihr zu reden, wurde zu einem Verbrechen gemacht, das mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft werden sollte. Die geheime Anrufung Gottes, die Weigerung, vor einem Heiligenbild das Knie zu beugen, das Singen eines Psalms wurde gleichfalls mit dem Tode bestraft. Selbst die, welche ihren Glauben abschworen, wurden verdammt, falls es Männer waren, durch das Schwert zu sterben, falls Frauen, lebendig begraben zu werden. Tausende kamen unter der Regierung Karls V. und Philipps II. um.
Einmal wurde eine ganze Familie vor die Inquisitionsrichter gestellt unter der Anklage, von der Messe weggeblieben zu sein und zu Hause Gottesdienst gehalten zu haben. Als der jüngste Sohn über ihre geheimen Gewohnheiten gefragt wurde, antwortete er: „Wir fallen auf unsere Knie und beten, daß Gott unsere Gemüter erleuchten und unsere Sünden verzeihen wolle. Wir beten für unsern Landesfürsten, daß seine Regierung gedeihlich und sein Leben glücklich sein möge. Wir beten für unsere Stadtbehörde, daß Gott sie erhalten wolle.“ (Wylie, 18. Buch, 6. Kap.) Etliche Richter waren tief bewegt, doch wurden der Vater und einer seiner Söhne zum Scheiterhaufen verurteilt.
Die Wut der Verfolger übertraf nicht den Glaubensmut der Märtyrer. Nicht nur Männer, sondern auch zarte Frauen und junge Mädchen legten einen unerschütterlichen Mut an den Tag. „Frauen stellten sich neben den Marterpfahl ihrer Gatten, und während diese das Feuer erduldeten, flüsterten sie ihnen Worte des Trostes zu oder sangen Psalmen, um sie aufzumuntern.“ „Jungfrauen legten sich lebendig in ihr Grab, als ob sie das Schlafgemach zur nächtlichen Ruhe beträten, oder sie gingen zum Schafott oder Feuertode in ihren besten Gewändern, als ob sie zur Hochzeit gingen.“ (Wylie, 18. Buch, 6. Kap.)
Wie in den Tagen, da das Heidentum das Evangelium zu vernichten suchte, war das Blut der Christen wie ein Same. Die Verfolgung diente dazu, die Zahl der Zeugen für die Wahrheit zu vermehren. Jahr für Jahr betrieb der durch die unbesiegbare Entschlossenheit des Volkes zur Wut gereizte Monarch sein grausames Werk, aber umsonst; und die Empörung unter dem edlen Wilhelm von Oranien brachte Holland schließlich die Freiheit, Gott zu verehren.
In Skandinavien
Auf den Bergen von Piemont, in den Ebenen Frankreichs und an den Küsten von Holland wurde der Fortschritt des Evangeliums durch das Blut seiner Jünger gekennzeichnet; aber in den Ländern des Nordens fand es einen friedlichen Eingang. Wittenbergische Studenten brachten auf ihrer Rückkehr nach der Heimat den evangelischen Glauben nach Skandinavien; auch wurde das Licht durch die Veröffentlichung von Luthers Schriften ausgebreitet. Das einfache, kräftige Volk des Nordens wandte sich von der Verderbnis, dem Gepränge und dem Aberglauben Roms ab, um die Reinheit, die Einfachheit und die lebengebenden Wahrheiten der Bibel zu bewillkommnen.
Tausen, der Reformator Dänemarks, war der Sohn eines Landmannes. Frühzeitig gab der Knabe Beweise eines scharfen Verstandes. Ihn verlangte nach einer Ausbildung, die ihm aber die beschränkten Verhältnisse seiner Eltern nicht erlaubten, und er trat in ein Kloster ein. Hier gewannen ihm die Reinheit seines Lebens sowie sein Fleiß und seine Treue die Gunst seines Oberen. Eine Prüfung zeigte, daß er Gaben besaß, die künftig der Kirche gute Dienste versprachen. Man beschloß, ihn an einer der Universitäten Deutschlands oder der Niederlande auszubilden. Dem jungen Studenten wurde die Erlaubnis erteilt, sich selbst eine Schule zu wählen, jedoch mit dem Vorbehalt, nicht nach Wittenberg zu gehen. Er, der sich für die Kirche vorbereitete, sollte nicht durch das Gift der Ketzerei gefährdet werden, sagten die Mönche.
Tausen ging nach Köln, das zu jener Zeit, wie es noch heute ist, eine der Festen des Romanismus war. Hier widerte ihn bald das Geheimnisvolle der Schulgelehrten an. Ungefähr um diese Zeit kam er zum ersten Mal in Besitz von Luthers Schriften. Er las sie mit Erstaunen und Entzücken und wünschte sehnlich, den persönlichen Unterricht des Reformators zu genießen. Um dies jedoch tun zu können, mußte er sich der Gefahr aussetzen, seinen klösterlichen Oberen zu beleidigen und seine Unterstützung zu verwirken. Sein Entschluß war bald gefaßt, und nicht lange darauf wurde er zu Wittenberg als Student eingetragen.
Bei seiner Rückkehr nach Dänemark begab er sich wiederum in sein Kloster. Keiner verdächtigte ihn des Luthertums; er enthüllte sein Geheimnis nicht, bestrebte sich aber, ohne das Vorurteil seiner Gefährten zu erregen, sie zu einem reineren Glauben und heiligeren Leben zu führen. Er erschloß ihnen die Bibel, erklärte deren wahren Sinn und predigte schließlich Christum offen als des Sünders Gerechtigkeit und seine einzige Hoffnung auf Seligkeit. Groß war der Zorn des Oberen, der hohe Hoffnungen auf ihn als einen tapferen Verteidiger Roms setzte. Er wurde ohne weiteres von seinem eigenen Kloster nach einem anderen versetzt und unter strenger Aufsicht auf seine Zelle beschränkt.
Zum Schrecken seiner neuen Hüter bekannten sich bald mehrere der Mönche zum Protestantismus. Durch das Gitter seiner Zelle hatte Tausen seine Gefährten zur Erkenntnis der Wahrheit gebracht. Wären diese dänischen Väter bewandert gewesen mit der Art und Weise, wie die Kirche mit der Ketzerei umgehe, so würde Tausens Stimme nie wieder gehört worden sein; statt ihn jedoch dem Grabe irgendeines unterirdischen Verlieses zu überliefern, jagten sie ihn aus dem Kloster fort. Nun waren sie machtlos. Ein soeben veröffentlichter königlicher Erlaß bot den Verkündigern der neuen Lehre Schutz an. Tausen begann zu predigen. Die Kirchen wurden ihm aufgetan und das Volk strömte herzu, ihn zu hören. Auch andere predigten das Wort Gottes. Das in die dänische Sprache übersetzte Neue Testament wurde weit umher verbreitet. Die von den Päpstlichen gemachten Anstrengungen, das Werk zu stürzen, dienten nur dazu, es auszudehnen, und es dauerte nicht lange, bis Dänemark seine Annahme des reformierten Glaubens erklärte.
Auch in Schweden brachten junge Männer, welche von der Quelle Wittenbergs getrunken hatten, das Wasser des Lebens zu ihren Landsleuten. Zwei der ersten Förderer der schwedischen Reformation, Olaus und Laurentius Petri, die Söhne eines Schmiedes von Örebro, studierten unter Luther und Melanchthon und waren eifrig, die Wahrheit, welche sie auf diese Weise kennengelernt hatten, zu lehren. Gleich dem großen Reformator weckte Olaus das Volk durch seinen Eifer und seine Beredsamkeit auf, während Laurentius, gleich Melanchthon, der gelehrte, denkende und ruhige war. Beide waren Männer von glühender Frömmigkeit und hohen theologischen Kenntnissen und von unerschütterlichem Mut in der Verbreitung der Wahrheit. An päpstlichem Widerstand fehlte es nicht. Die katholischen Priester reizten das unwissende und abergläubische Volk auf. Olaus Petri wurde oft von der Menge angegriffen und kam bei verschiedenen Anlässen kaum mit dem Leben davon. Diese Reformatoren wurden jedoch vom König beschützt und begünstigt.
Unter der Herrschaft der römischen Kirche war das Volk in Armut versunken und durch Unterdrückung geplagt. Es war der Heiligen Schrift unkundig, und da es eine Religion besaß, die sich auf Bilder und Zeremonien beschränkte, die dem Gemüt kein Licht zuführten, kehrte es zum Aberglauben und zu den Gewohnheiten seiner heidnischen Vorfahren zurück. Es teilte sich in streitende Parteien, deren endlose Kämpfe das Elend aller vermehrten. Der König entschloß sich zu einer Reformation in Staat und Kirche und begrüßte diese fähigen Helfer im Kampfe gegen Rom.
In Gegenwart des Königs und der ersten Männer Schwedens verteidigte Olaus Petri sehr geschickt die Lehren des reformierten Glaubens gegen die römischen Kämpen. Er bestand darauf, daß die Lehren der Kirchenväter nur angenommen werden dürften, wenn sie mit der Bibel übereinstimmten; daß, die wesentlichen Glaubenslehren in der Bibel in einer klaren und einfachen Weise dargestellt seien, so daß alle Menschen sie verstehen könnten. Christus sagte: „Meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat,“ (Joh. 7, 16.) und Paulus erklärte, daß, falls er ein anderes Evangelium predigen sollte als jenes, welches er überkommen hatte, er verflucht sein würde. (Gal. 1, 8.) „Wie denn,“ sagte der Reformator, „sollen andere sich anmaßen, nach ihrem Wohlgefallen Lehrsätze aufzustellen und sie als zur Seligkeit notwendige Dinge aufzubürden?“ (Wylie, 10. Buch, 4. Kap.) Er zeigte, daß die Erlasse der Kirche keine Autorität sind, wenn sie den Geboten Gottes zuwiderlaufen, und hielt den großen protestantischen Grundsatz aufrecht, daß die Bibel und nur die Bibel die Richtschnur des Glaubens und des Wandels sei.
Dieser Kampf, wenngleich er auf einem verhältnismäßig unbekannten Kampfplatz vor sich ging, zeigt uns, „aus welchen Männern meistens das Heer der Reformatoren bestand. Es waren keine ungebildeten, sektiererischen, lärmenden Wortfechter - weit - davon entfernt; es waren Männer, welche das Wort Gottes studiert hatten und wohl verstanden, die Waffen zu führen, mit welchen die Rüstkammer der Bibel sie versehen hatte. Bezüglich der Ausbildung waren sie ihrer Zeit weit voraus. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf solch glänzende Mittelpunkte, wie Wittenberg und Zürich und auf solch glorreiche Namen wie die von Luther und Melanchthon, von Zwingli und Ökolampad gerichtet halten, so könnte man uns sagen, das seien die Leiter der Bewegung, und wir würden natürlicherweise eine ungeheure Kraft und große Errungenschaften in ihnen erwarten; aber die Untergeordneten seien ihnen nicht gleich. Gut; wir wenden uns dem entlegenen Schauplatz von Schweden, den schlichten Namen von Olaus und Laurentius Petri zu - von den Meistern zu den Jüngern -, und was finden wir? Gelehrte und Theologen, Männer, welche gründlich die gesamte Evangeliumswahrheit kennen und welche einen leichten Sieg über die Sophisten der Schulen und die Würdenträger Roms gewinnen.“ (Ebd.)
Als eine Folge dieser Auseinandersetzung nahm der König von Schweden den protestantischen Glauben an, und nicht lange darauf erklärte sich die Nationalversammlung zu seinen Gunsten. Das Neue Testament war von Olaus Petri in die schwedische Sprache übersetzt worden, und auf Wunsch des Königs unternahmen die beiden Brüder die Übersetzung der ganzen Bibel. Auf diese Weise erhielt das schwedische Volk zum ersten Male das Wort Gottes in seiner Muttersprache. Der Reichstag verordnete, daß Prediger im Lande die Heilige Schrift auslegen sollten und daß man die Kinder in der Schule unterrichte, die Bibel zu lesen.
Allmählich und sicher wurde das Dunkel der Unwissenheit und des Aberglaubens durch das herrliche Licht des Evangeliums verscheucht. Die Nation, von römischer Unterdrückung befreit, stieg zu einer Stärke und Größe empor, welche sie noch nie zuvor erreicht hatte. Schweden wurde eines der Bollwerke des Protestantismus. Ein Jahrhundert später, zu einer Zeit höchster Gefahr, kam diese kleine und bis dahin schwache Nation - die einzige in Europa, die es wagte, eine rettende Hand auszustrecken - Deutschland zur Hilfe in den schrecklichen Kämpfen des Dreißigjährigen Krieges. Das ganze nördliche Europa schien auf dem Punkte zu stehen, wieder unter die Gewaltherrschaft Roms gebracht zu werden. Hier waren es die schwedischen Truppen, welche Deutschland befähigten, den Einfluß der römischen Erfolge zu brechen, Duldung für die Protestanten, Reformierten sowohl als auch Lutheraner, zu gewinnen, und den Ländern, welche die Reformation angenommen hatten, die Gewissensfreiheit wiederzugeben.


 
KAPITEL 14

SPÄTERE ENGLISCHE REFORMATOREN

Während Luther dem deutschen Volk eine verschlossene Bibel öffnete, wurde Tyndale vom Geiste Gottes angetrieben, dasselbe für England zu tun. Wiklifs Bibel war aus dem lateinischen Text, der viele Irrtümer enthielt, übersetzt worden. Sie war nie gedruckt worden, und die Kosten eines geschriebenen Exemplars waren so groß, daß nur wenige außer den Reichen oder Adligen sie sich verschaffen konnten, und da sie überdies von der Kirche aufs schärfste geächtet worden war, hatte sie eine verhältnismäßig geringe Verbreitung gehabt. Im Jahre 1516, ein Jahr vor dem Erscheinen der Thesen Luthers, hatte Erasmus seine griechische und lateinische Ausgabe des Neuen Testaments veröffentlicht. Nun wurde das Wort Gottes zum ersten Mal in der Ursprache gedruckt. In diesem Werk wurden viele Irrtümer der früheren Ausgaben berichtigt und der Sinn deutlicher wiedergegeben. Es führte viele der gebildeten Klassen zu einem besseren Verständnis der Wahrheit und gab dem Werk der Reformation neue Triebkraft. Aber den meisten aus dem gewöhnlichen Volk war das Wort Gottes noch immer unzugänglich. Tyndale sollte Wiklifs Werk vollenden und seinen Landsleuten die Bibel geben.
Als ein eifriger Schüler, der ernstlich nach Wahrheit suchte, hatte er das Evangelium aus dem griechischen Testament des Erasmus empfangen. Furchtlos predigte er seine Überzeugungen und drang darauf, daß alle Lehren mit dem Worte Gottes geprüft werden sollten. Auf die päpstliche Behauptung, daß die Kirche die Bibel gegeben habe und sie allein erklären könne, sagte Tyndale: „Wer hat denn den Adler gelehrt, seine Beute zu finden? Nur derselbe Gott lehrt seine hungrigen Kinder, ihren Vater in seinem Worte finden. Nicht ihr habt uns die Schrift gegeben, vielmehr habt ihr sie uns vorenthalten; ihr seid es, die diejenigen verbrennet, die sie predigen, ja ihr würdet die Schrift selbst verbrennen, wenn ihr könntet.“ (D’Aubigné, 18. Buch, 4. Abschn.)
Tyndales Predigten machten großen Eindruck; viele nahmen die Wahrheit an. Aber die Priester waren auf der Hut, und sobald er das Feld verlassen hatte, suchten sie mit ihren Drohungen und Entstellungen sein Werk zu vernichten. Nur zu oft gelang es ihnen. „Was soll ich tun?“ rief er aus. Während ich hier säe, reißt der Feind dort wieder alles aus, wo ich grade herkomme. Ich kann nicht überall zugleich sein. 0, daß die Christen die Heilige Schrift in ihrer Sprache besäßen, so könnten sie den Sophisten selbst widerstehen! Ohne die Bibel ist es unmöglich, die Laien in der Wahrheit zu befestigen.“ (Ebd.)
Ein neuer Vorsatz reifte jetzt in ihm. Er sagte: „In Israels eigener Sprache erschollen die Psalmen im Tempel Jehovas, und das Evangelium sollte unter uns nicht reden dürfen in der Sprache Englands? Die Kirche sollte weniger Licht haben jetzt im hohen Mittag als ehemals in den ersten Stunden der Dämmerung? Das Neue Testament muß in der Volkssprache gelesen werden können..“ (Ebd.) Die Doktoren und Lehrer der Kirche stimmten nicht miteinander überein. Nur durch die Bibel konnte das Volk zur Wahrheit gelangen. Der eine hatte diese Lehre, der andere jene; ein Gelehrter widersprach dem andern. „Wie sollen wir da das Wahre vom Falschen unterscheiden? Allein durch das Wort Gottes.“ (Ebd.)
Nicht lange darauf erklärte ein katholischer Gelehrter, mit dem er sich in einen Streit einließ, daß es besser wäre, ohne das Gesetz Gottes als ohne das Gesetz des Papstes zu sein, worauf Tyndale erwiderte: „Ich trotze dem Papst samt all seinen Gesetzen. Wenn Gott mir das Leben schenkt, so soll in wenig Jahren ein Bauernknecht, der seinen Karren treibt, die Schrift noch besser verstehen als ich.“ (Ebd.)
Der von ihm gehegte Vorsatz, dem Volk die Heilige Schrift in seiner eigenen Sprache zu geben, wurde nun bestärkt, und sofort machte er sich an die Arbeit. Durch die Verfolgung von der Heimat vertrieben, ging er nach London und setzte daselbst eine Zeitlang ungestört seine Arbeiten fort. Wiederum jedoch zwang ihn die Gewalttätigkeit der Päpstlichen zur Flucht. Ganz England schien ihm unzugänglich zu sein, und er entschloß sich, in Deutschland Unterkunft zu suchen. Hier begann er den Druck des englischen Neuen Testaments. Zweimal wurde das Werk aufgehalten; wenn es ihm aber verboten wurde, in einer Stadt zu drucken, ging er in eine andere. Schließlich kam er nach Worms, wo Luther wenige Jahre zuvor das Evangelium vor dem Reichstag verteidigt hatte. In jener alten Stadt gab es viele Freunde der Reformation, und Tyndale setzte daselbst sein Werk ohne weitere Hindernisse fort. Dreitausend Exemplare des Neuen Testaments waren bald vollendet, und eine neue Auflage folgte noch im selben Jahr.
Mit großem Eifer und unermüdlicher Ausdauer beharrte er bei seiner Arbeit. Trotzdem die englischen Behörden ihre Häfen mit der größten Wachsamkeit gehütet hatten, wurde das Wort Gottes auf verschiedene Weise heimlich nach London geschafft und von dort aus über das ganze Land verbreitet. Die Päpstlichen suchten die Wahrheit zu unterdrücken, aber vergebens. Der Bischof von Durham kaufte einmal von einem Buchhändler, der ein Freund Tyndales war, seinen ganzen Vorrat an Bibeln, um sie zu vernichten, in der Meinung, daß dadurch das Werk gehindert werden würde. Aber im Gegenteil, mit dem auf diese Weise gewonnenem Geld wurde das Material zu einer neuen und verbesserten Auflage gekauft, welche sonst nicht hätte veröffentlicht werden können. Als Tyndale später zum Gefangenen gemacht wurde, bot man ihm die Freiheit unter der Bedingung an, die Namen derer anzugeben, die ihm geholfen hatten, die Ausgaben für den Druck seiner Bibeln zu bestreiten. Er antwortete, daß der Bischof von Durham mehr getan habe, als irgend sonst jemand, denn da dieser für die vorrätigen Bücher einen hohen Preis bezahlt habe, sei er befähigt worden, gutes Mutes voranzugehen.
Tyndale wurde in die Hände seiner Feinde verraten und mußte viele Monate im Kerker zubringen. Schließlich bezeugte er seinen Glauben mit dem Märtyrertod; aber die von ihm verfertigten Waffen haben andere Streiter befähigt, durch alle Jahrhunderte, sogar bis auf unsere Zeit, den Krieg weiterzuführen.
Latimer behauptete von der Kanzel herab, daß die Bibel in der Sprache des Volkes gelesen werden müsse. „Der Urheber der Heiligen Schrift,“ sagte er, „ist Gott selbst, und diese Schrift hat einen Anteil an der Macht und Ewigkeit ihres Urhebers. Es gibt weder Könige, Kaiser, Obrigkeiten noch Herrscher,... die nicht gebunden wären,... seinem heiligen Wort zu gehorchen.“ „Laßt uns keine Nebenwege einschlagen, sondern uns vom Worte Gottes leiten lassen; laßt uns nicht unsern Vätern nachfolgen und auf das sehen, was sie getan haben, sondern auf das, was sie hätten tun sollen.“ (Latimer, Erste Predigt vor König Eduard VI.)
Barnes und Frith, die treuen Freunde Tyndales, erhoben sich, um die Wahrheit zu verteidigen. Ihnen folgten Gebrüder Ridley und Cranmer. Diese Anführer in der englischen Reformation waren gebildete Männer, und die meisten von ihnen waren ihres Eifers oder ihrer Frömmigkeit wegen in der römischen Kirche hoch geachtet worden. Ihr Widerstand dem Papsttum gegenüber kam daher, weil sie mit den Irrtümern des „heiligen Stuhles“ bekannt waren. Ihre Bekanntschaft mit den Geheimnissen Babylons gab ihren Zeugnissen gegen dasselbe um so größere Macht.
„Ich muß euch eine seltsame Frage stellen,“ sagte Latimer, „wißt ihr, wer der eifrigste Bischof und Prälat in England ist? ... Ich sehe, ihr horcht und wartet auf seinen Namen; ... ich will ihn nennen: Es ist der Teufel. ... Er entfernt sich nie aus seinem Kirchsprengel; ... sucht ihn, wann ihr wollt, er ist immer zu Hause, ... er ist stets bei der Arbeit. ... Ihr werdet ihn nie träge finden, dafür bürge ich euch. ... Wo der Teufel wohnhaft ist, ... dort weg mit den Büchern, und Kerzen herbei; weg mit den Bibeln, und Rosenkränze herbei; weg mit dem Licht des Evangeliums, und Wachsstöcke hoch, ja sogar am hellen Mittage; ... nieder mit dem Kreuz Christi, es lebe das Fegefeuer, das die Taschen leert; ... hinweg mit dem Bekleiden der Nackten, Armen und Lahmen; herbei mit der Verzierung von Bildern und der bunten Schmückung von Stock und Stein; herbei mit menschlichen Überlieferungen und Gesetzen; nieder mit Gottes Einrichtungen und seinem Allerheiligsten Worte. ... 0, daß unsere Prälaten so eifrig wären, die Körner guter Lehre auszustreuen, wie Satan fleißig ist, allerlei Unkraut zu säen!“ (Latimer, Predigt vom Pflug.)
Die unfehlbare Autorität und Macht der Heiligen Schrift als eine Richtschnur des Glaubens und des Wandels war der große, von diesen Reformatoren aufrecht gehaltene Grundsatz, den auch die Waldenser, Wiklif, Johann Hus, Luther, Zwingli und ihre Mitarbeiter hochhielten. Sie verwarfen die Anmaßung des Papstes, der Konzilien, der Väter und der Könige, das Gewissen in Religionssachen zu beherrschen. Die Bibel war ihnen Autorität, und mit ihren Lehren prüften sie alle Lehrsätze und Ansprüche. Der Glaube an Gott und sein Wort stärkte diese heiligen Männer, als sie ihr Leben auf dem Scheiterhaufen aufgaben. „Sei guten Mutes,“ rief Latimer seinen Gefährten im Märtyrertum zu, als die Flammen anfingen ihre Stimme zu ersticken, „wir werden heute durch Gottes Gnade ein Licht in England anzünden, das, wie ich hoffe, nie ausgelöscht werden wird.“ (Latimers Werke, 1. Bd., S. 13.)
In Schottland war der von Kolumban und seinen Mitarbeitern ausgestreute Same der Wahrheit nie völlig vernichtet worden. Jahrhundertelang nachdem die Kirchen Englands sich Rom unterworfen hatten, hielten jene in Schottland ihre Freiheit aufrecht. Im zwölften Jahrhundert jedoch faßte das Papsttum hier Fuß, und in keinem Lande hat es eine unbedingtere Herrschaft ausgeübt. Nirgends war die Finsternis dichter. Dennoch kamen auch Strahlen des Lichts dahin, um das Dunkel zu durchdringen und den kommenden Tag anzukünden. Die mit der Bibel und den Lehren Wiklifs aus England kommenden Lollarden trugen viel dazu bei, die Kenntnis des Evangeliums zu erhalten, und jedes Jahrhundert hatte seine Zeugen und Märtyrer.
Zu Anfang der großen Reformation erschienen Luthers Schriften und dann Tyndales Neues Testament in englischer Sprache. Unbemerkt von der Priesterherrschaft wanderten diese Boten schweigend über Berge und Täler, fachten überall die Fackel der Wahrheit, welche in Schottland nahezu ausgegangen war, zu neuer Flamme an und machten das Werk der Unterdrückung, welches Rom vier Jahrhunderte getrieben hatte, zunichte.
Dann gab das Blut der Märtyrer der Bewegung neuen Antrieb. Die päpstlichen Anführer, welche plötzlich zur Erkenntnis der ihrer Sache drohenden Gefahr kamen, brachten etliche der edelsten und gelehrtesten Söhne Schottlands auf den Scheiterhaufen. Sie errichteten aber damit nur eine Kanzel, von welcher aus die Worte der sterbenden Zeugen im ganzen Lande gehört wurden, die das Herz des Volkes mit einem unerschütterlichen Vorsatz erfüllten, die Fesseln Roms abzustreifen.
Hamilton und Wishart, fürstlich nach Charakter und Geburt, gaben mit einer großen Anzahl geringerer Jünger auf dem Scheiterhaufen ihr Leben dahin. Aber dem brennenden Scheiterhaufen Wisharts entstammte einer, den die Flammen nicht zum Schweigen bringen sollten, einer, der mit Gottes Beistand dem päpstlichen Wesen in Schottland die Sterbeglocke zu läuten bestimmt war.
John Knox hatte sich von den Überlieferungen und dem Wunderglauben der Kirche abgewandt, um von den Wahrheiten des Wortes Gottes zu leben, und Wisharts Lehren hatten seinen Entschluß bestärkt, die Gemeinschaft Roms zu verlassen und sich den verfolgten Reformatoren anzuschließen.
Von seinen Gefährten gebeten, das Amt eines Predigers anzunehmen, schreckte er mit Zittern vor dessen Verantwortlichkeit zurück, und erst nach Tagen der Abgeschiedenheit und eines schmerzlichen Kampfes mit sich selbst willigte er ein. Nachdem er aber die Stellung einmal angenommen hatte, verfolgte er sein Werk mit unbeugsamer Entschlossenheit und unverzagtem Mut sein Leben lang. Dieser unerschrockene Reformator fürchtete sich nicht vor Menschen. Die um ihn her lodernden Feuer des Märtyrertums dienten nur dazu, seinen Eifer um so mehr anzufachen. Trotz dem drohend über seinem Haupte schwebendem Henkerbeil des Tyrannen behauptete er seine Stellung und teilte nach rechts und nach links herzhafte Streiche aus, um den Götzendienst zu zertrümmern.
Als er der Königin von Schottland, in deren Gegenwart der Eifer vieler Führer der Protestanten abgenommen hatte, gegenübergestellt wurde, legte John Knox unerschütterlich Zeugnis für die Wahrheit ab. Er konnte nicht gewonnen werden durch Schmeichelei; er verzagte nicht vor Drohungen. Die Königin beschuldigte ihn der Ketzerei. Sie erklärte, er habe das Volk verleitet, eine vom Staate verbotene Religion anzunehmen und habe auf diese Weise Gottes Gebot, das den Untertanen befehle, ihren Fürsten zu gehorchen, übertreten. Knox antwortete fest:
„Da die richtige Religion weder ihren Ursprung noch ihre Autorität von weltlichen Fürsten, sondern von dem ewigen Gott allein erhielt, so sind die Untertanen nicht gezwungen, ihren Glauben nach dem Geschmack ihrer Fürsten zu richten. Denn oft kommt es vor, daß die Fürsten vor allen andern in der wahren Religion am allerunwissendsten sind. ... Hätte aller Same Abrahams die Religion Pharaos angenommen, dessen Untertanen sie lange waren, welche Religion, ich bitte Sie, Madame, würde dann in der Welt gewesen sein? Oder wenn in den Tagen der Apostel alle Menschen die Religion der römischen Kaiser gehabt hätten, welche Religion würde dann auf Erden gewesen sein? ... Und so, Madame, können Sie sehen, daß Untertanen nicht von der Religion ihrer Fürsten abhängen, wenn ihnen auch geboten wird, ihnen Ehrfurcht zu erzeigen.“
Da sagte Maria: „Ihr legt die Heilige Schrift auf eine Weise aus, sie (die römischen Lehrer) auf eine andere; wem soll ich glauben, und wer soll Richter sein?“
„Sie sollen Gott glauben, der deutlich in seinem Worte spricht,“ antwortete der Reformator, „und weiter als das Wort lehrt, brauchen Sie weder das eine noch das andere zu glauben. Das Wort Gottes ist klar in sich selbst, und wenn irgendeine Stelle dunkel ist, so erklärt der Heilige Geist, der sich nie widerspricht, sie deutlicher an anderen Stellen, so daß kein Zweifel obwalten kann, es sei denn für die, welche hartnäckig unwissend sind.“ (Laing, Knox’ Werke, 2. Bd., S. 281. 284.)
Solche Wahrheiten sprach der furchtlose Reformator bei Lebensgefahr vor den Ohren der königlichen Hoheit. Mit demselben unerschrockenen Mut blieb er bei seinem Vorsatz und betete und führte den Krieg des Herrn, bis Schottland vom Papsttum frei war.
In England wurde durch die Einführung des Protestantismus als nationale Religion die Verfolgung vermindert, aber nicht völlig zum Stillstand gebracht. Während man vielen Lehren Roms absagte, wurden nicht wenige seiner Formen beibehalten. Die Oberhoheit des Papstes wurde verworfen, aber an seiner Stelle wurde der Landesfürst als Haupt der Kirche eingesetzt. Der Gottesdienst wich noch immer weit von der Reinheit und Einfachheit des Evangeliums ab. Der große Grundsatz religiöser Freiheit wurde noch nicht verstanden. Wenn auch die schrecklichen Grausamkeiten, welche Rom gegen die Ketzerei angewandt hatte, von protestantischen Herrschern (siehe Anhang.) nur selten ausgeführt wurden, so wurde doch das Recht eines jeden, Gott nach den Vorschriften seines eigenen Gewissens zu verehren, nicht anerkannt. Von allen wurde verlangt, die Lehren anzunehmen und die Formen beim Gottesdienst zu beobachten, welche die eingeführte Kirche vorschrieb. Andersdenkende erlitten jahrhundertelang mehr oder weniger Verfolgung.
Im 17. Jahrhundert wurden Tausende von Predigern aus ihrer Stellung vertrieben. Den Leuten war es bei Strafe schwerer Geldbußen, Gefängnis und Verbannung untersagt, irgendwelche religiöse Versammlung zu besuchen, die nicht von der Kirche anerkannt war. Jene treuen Seelen, die sich nicht enthalten konnten, zur Verehrung Gottes zusammenzukommen, waren genötigt, sich in dunklen Gäßchen, auf finsteren Bodenkammern und zu gewissen Jahreszeiten um Mitternacht in den Wäldern zu versammeln. In den schützenden Tiefen des Waldes, des von Gott selbst erbauten Tempels, kamen jene zerstreuten und verfolgten Kinder des Herrn zusammen, um in Gebet und Lobpreisung ihre Herzen auszuschütten. Aber trotz all ihren Vorsichtsmaßregeln mußten viele um ihres Glaubens willen leiden. Die Gefängnisse waren überfüllt, Familien wurden getrennt, viele nach fremden Ländern verbannt. Doch Gott war mit seinem Volk und die Verfolgung vermochte nicht, ihr Zeugnis zum Schweigen zu bringen. Viele wurden über das Meer nach Amerika vertrieben und legten dort den Grund zu der bürgerlichen und religiösen Freiheit, welche das Bollwerk und der Ruhm jenes Landes gewesen ist.
Wiederum diente wie in den Tagen der Apostel die Verfolgung zur Förderung des Evangeliums. In einem abscheulichen, mit Ruchlosen und Missetätern angefülltem Verlies schien John Bunyan Himmelsluft zu atmen und schrieb dort sein wunderbares Gleichnis von der Reise des Pilgers aus dem Lande des Verderbens nach der Himmelsstadt. Mehr als zweihundert Jahre hat jene Stimme aus dem Gefängnis zu Bedford mit durchdringender Macht zu den Herzen der Menschen gesprochen. Bunyans „Pilgerreise“ und „Überschwengliche Gnade für den größten der Sünder“ haben manchen irrenden Fuß auf den Weg des Lebens geleitet.
Baxter, Flavel, Alleine und andere Männer von Talent, Bildung und tiefer christlicher Erfahrung standen auf in kühner Verteidigung des Glaubens, der einmal den Heiligen übergeben ist. Das Werk, welches diese, von den Herrschern dieser Welt verfemten und verbannten Männer vollbrachten, kann nie untergehen. Flavels „Brunnquell des Lebens“ und „Wirkung der Gnade“ haben Tausende gelehrt, wie sie ihre Seelen Christo anbefehlen könnten. Baxters „Der umgewandelte Pfarrer“ hat sich vielen, welche eine Wiederbelebung des Werkes Gottes wünschten, als ein Segen erwiesen, seine „Ewige Ruhe der Heiligen“ hat Erfolg gehabt, indem es Seelen zu der Ruhe führte, die noch für das Volk Gottes vorhanden ist.
Hundert Jahre später, zu einer Zeit großer Finsternis, erschienen Whitefield und die Gebrüder Wesley als Lichtträger für Gott. Unter der Herrschaft der Staatskirche waren die Engländer in einen Zustand religiösen Verfalls geraten, der sich vom Heidentum nur wenig unterschied. Eine Naturreligion war das bevorzugte Studium der Geistlichkeit und umfaßte auch den größten Teil ihrer Theologie. Die höheren Klassen spotteten über Frömmigkeit und brüsteten sich damit, über solche Schwärmerei erhaben zu sein. Die niederen Stände waren in grober Unwissenheit befangen und dem Laster ergeben, während die Kirche weder den Mut noch den Glauben hatte, die Sache der Wahrheit länger zu unterstützen, welche in Verfall geraten war.
Die von Luther so deutlich gelehrte große Wahrheit von der Rechtfertigung durch den Glauben war beinahe aus den Augen verloren worden, und der römische Grundsatz, daß die Seligkeit durch gute Werke erlangt werde, hatte deren Stelle eingenommen. Whitefield und die beiden Wesley, welche Glieder der Landeskirche waren, suchten aufrichtig nach der Gunst Gottes, die, wie sie gelehrt worden waren, durch ein tugendhaftes Leben und die Beobachtung der religiösen Verordnungen erreicht werden könnte.
Als Charles Wesley einst krank wurde und den Tod erwartete, wurde er gefragt, worauf er seine Hoffnung eines ewigen Lebens stütze. Seine Antwort war: „Ich habe mich nach Kräften bemüht, Gott zu dienen.“ Als der Freund, der ihm die Frage stellte, nicht völlig zufrieden zu sein schien mit seiner Antwort, dachte Wesley: „Sind meine Bemühungen nicht ein genügender Grund der Hoffnung? Würde er mir diese rauben, so hätte ich nichts anderes, worauf ich vertrauen könnte.“ (Whitehead, Leben des Ch. Wesley, S. 102.) Derart war die dichte Finsternis, welche die Kirche einschloß, die Versöhnung verbarg, Christum seiner Ehre beraubte und den Geist der Menschen von der einzigen Hoffnung der Seligkeit, dem Blute des gekreuzigten Erlösers, abwandte.
Wesley und seine Mitarbeiter kamen zu der Einsicht, daß die wahre Religion ihren Sitz im Herzen habe, und daß das Gesetz Gottes sich sowohl auf die Gedanken als auch auf die Worte und Handlungen beziehe. Überzeugt von der notwendigen Heiligkeit des Herzens sowohl als von einem rechten äußerlichen Wandel, trachteten sie jetzt ernstlich nach einem neuen Leben. Durch Fleiß und Gebet versuchten sie das Böse ihres natürlichen Herzens zu überwinden. Sie lebten ein Leben der Selbstverleugnung, Liebe und Demut und beobachteten mit großer Strenge und Genauigkeit jede Maßregel, welche ihnen zur Erlangung dessen, was sie am meisten wünschten - jene Heiligkeit, welche die Huld Gottes verschaffen kann - dienlich schien. Aber sie erreichten das vorgesteckte Ziel nicht. Vergebens waren ihre Bestrebungen, sich von der Verdammnis der Sünde zu befreien oder ihre Macht zu brechen. Es war derselbe Kampf, welchen Luther in seiner Zelle zu Erfurt durchgemacht hatte, dieselbe Frage, die seine Seele gemartert hatte: „Wie mag ein Mensch gerecht sein bei Gott?“ (Hiob 9, 2.)
Das auf den Altären des Protestantismus beinahe ausgelöschte Feuer der göttlichen Wahrheit sollte von der alten Fackel, welche die böhmischen Christen brennend erhalten hatten, wieder angezündet werden. Nach der Reformation war der Protestantismus in Böhmen von den römischen Horden niedergetreten worden. Alle, welche der Wahrheit nicht entsagen wollten, wurden zur Flucht gezwungen. Etliche dieser Verbannten fanden eine Zuflucht in Sachsen, wo sie den alten Glauben aufrechterhielten. Von den Nachkommen dieser Christen kam das Licht zu Wesley und seinen Mitarbeitern.
Nachdem John und Charles Wesley zum Predigtamt eingesegnet worden waren, wurden sie mit einem Auftrag nach Amerika gesandt. An Bord des Schiffes war eine Gesellschaft Mährischer Brüder. Auf der Überfahrt erhoben sich heftige Stürme, und John Wesley, da er den Tod vor Augen sah, fühlte, daß er keine Versicherung des Friedens mit Gott hatte. Die Mährischen Brüder hingegen bekundeten eine Ruhe und ein Vertrauen, die ihm fremd waren.
Er sagte: „Ich hatte lange zuvor den großen Ernst ihres Benehmens beobachtet. Sie hatten beständig ihre Demut an den Tag gelegt, indem sie für die anderen Reisenden niedrige Dienstleistungen verrichteten, welche keiner der Engländer unternehmen wollte. Sie hatten dafür keine Bezahlung verlangt, sondern sie ausgeschlagen, indem sie sagten, es wäre gut für ihre stolzen Herzen, und ihr Heiland hätte noch mehr für sie getan. Jeder Tag hatte ihnen Gelegenheit geboten, Sanftmut zu zeigen, die durch keine Beleidigung bewegt werden konnte. Wurden sie gestoßen, geschlagen oder niedergeworfen, so erhoben sie sich wieder und gingen weg; aber keine Klage wurde in ihrem Munde erfunden. Jetzt sollten sie geprüft werden, ob sie von dem Geist der Furcht ebenso frei waren wie von dem des Stolzes, des Zornes und der Rachsucht. Während des Singens eines Psalms, womit ihr Gottesdienst begann, brach eine Sturzwelle herein, riß das große Segel in Stücke, bedeckte das Schiff und drang über das Deck, als ob die große Tiefe uns bereits verschlungen hätte. Unter den Engländern erhob sich ein furchtbares Angstgeschrei. Die Brüder sangen ruhig weiter. Ich fragte nachher einen von ihnen: Waren Sie nicht erschrocken? Er antwortete: Gott sei Dank nicht. Aber, sagte ich, waren ihre Weiber und Kinder nicht erschrocken? Er erwiderte mild: Nein, unsere Weiber und Kinder fürchten sich nicht zu sterben.“ (Whitehead, Leben des Ch. Wesley, S. 10 f.)
Nach der Ankunft in Savanna weilte Wesley eine kurze Zeit bei den Mährischen Brüdern, und ihr christliches Betragen machte einen tiefen Eindruck auf ihn. Über einen ihrer Gottesdienste, die in schlagendem Gegensatz zu dem leblosen Formenwesen der Kirche Englands standen, schrieb er: „Die große Einfachheit sowohl als auch die Feierlichkeit des Ganzen ließen mich die dazwischen liegenden 1700 Jahre beinahe vergessen und versetzten mich in eine Versammlung, wo Form und Staat nicht waren, sondern wo Paulus, der Zeltmacher, oder Petrus, der Fischer, unter Kundgebung des Geistes und der Kraft, den Vorsitz hatten.“ (Ebd.)
Auf seiner Rückreise nach England gelangte Wesley unter der Belehrung eines Mährischen Predigers zu einem klareren Verständnis des biblischen Glaubens. Er wurde überzeugt, daß sein Seelenheil nicht von seinen eigenen Werken abhinge, sondern daß er einzig auf „Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt,“ vertrauen müsse. Auf einer in London abgehaltenen Versammlung der Mährischen Brüder wurde eine Aussage Luthers vorgelesen, welche die Veränderung beschrieb, die der Geist Gottes im Herzen des Gläubigen bewirkt. Indem Wesley zuhörte, wurde der Glaube in seiner eigenen Seele entzündet. „Ich fühlte mein Herz seltsam erwärmt,“ sagte er. „Ich fühlte, daß ich auf Christum und Christum allein vertraute für mein Seelenheil; und ich erhielt die Versicherung, daß er meine, ja meine Sünden weggenommen und mich von dem Gesetz der Sünde und des Todes erlöst habe.“ (Ebd., S. 52.)
Während langer Jahre mühsamen und trostlosen Ringens Jahre strenger Selbstverleugnung, Schmach und Erniedrigung hatte Wesley unverwandt den einen Vorsatz festgehalten, Gott zu suchen. Nun hatte er ihn gefunden, und er erfuhr, daß die Gnade, die er durch Beten und Fasten, durch Almosen geben und Selbstverleugnung erlangen wollte, eine Gabe „ohne Geld und umsonst“ war.
Als er einmal im Glauben Christi begründet war, brannte seine ganze Seele mit Verlangen, überall eine Kenntnis des herrlichen Evangeliums von der freien Gnade Gottes zu verbreiten. „Ich betrachte die ganze Welt als mein Kirchspiel,“ sagte er, „und wo ich in demselben sein mag, erachte ich es als passend, recht und meine heilige Pflicht, allen, die willens sind zuzuhören, die frohe Botschaft des Heils zu verkündigen.“ (Ebd., S. 74.)
Er fuhr fort in seinem strengen, selbstverleugnenden Leben, das nun nicht der Grund, sondern die Folge des Glaubens, nicht die Wurzel, sondern die Frucht der Heiligung war. Die Gnade Gottes in Christo ist die Grundlage der Hoffnung des Christen, und jene Gnade zeigt sich im Gehorsam. Wesleys Leben war der Verkündigung jener großen Wahrheiten gewidmet, die er empfangen hatte Gerechtigkeit durch den Glauben an das versöhnende Blut Christi, und die herzerneuernde Macht des Heiligen Geistes, die ihre Frucht bringt in einem Leben, das mit dem Beispiel Christi übereinstimmt.
Whitefield und die beiden Wesley waren durch lange und tiefe persönliche Überzeugung ihres eigenen verlorenen Zustandes für ihr Werk vorbereitet worden; und damit sie imstande sein möchten, als gute Streiter Christi Schwierigkeiten zu erdulden, waren sie der feurigen Probe des Spottes, des Hohnes und der Verfolgung sowohl in der Universität als auch beim Antritt ihres Predigtamtes ausgesetzt gewesen. Sie und einige andere, welche mit ihnen übereinstimmten, wurden von ihren gottlosen Mitstudenten verächtlich Methodisten genannt - ein Name, der gegenwärtig von einer der größten christlichen Gemeinschaften in England und Amerika als ehrenvoll angesehen wird.
Als Glieder der englischen Kirche waren sie den Formen ihres Gottesdienstes sehr ergeben; aber der Herr hatte ihnen in seinem Worte ein höheres Ziel gezeigt. Der Heilige Geist nötigte sie, Christum, den Gekreuzigten, zu predigen. Die Macht des’ Höchsten begleitete ihre Arbeit. Tausende wurden überzeugt und wahrhaft bekehrt. Diese Schafe mußten vor den reißenden Wölfen geschützt werden. Wohl hatte Wesley keinen Gedanken daran, eine neue Gemeinschaft zu gründen, doch vereinigte er sie als die Methodistische Verbindung.
Geheimnisvoll und schwierig war der Widerstand, den diese Prediger von der Staatskirche erfahren mußten; doch Gott in seiner Weisheit hatte diese Ereignisse geleitet, um die Reformation in der Kirche selbst zu beginnen. Wäre sie völlig von außen gekommen, so würde sie dort nicht durchgedrungen sein, wo sie so sehr vonnöten war. Da aber die Erweckungsprediger Kirchenmänner waren und im Gebiete der Kirche arbeiteten, wo sie Gelegenheit finden konnten, gewann die Wahrheit Eingang, wo sonst die Türen verschlossen geblieben wären. Einige Geistliche wurden aus ihrem sittlichen Stumpfsinn aufgerüttelt und fingen an, in ihren eigenen Pfarreien eifrig zu predigen. Gemeinden, welche durch den Formalismus versteinert worden waren, wurden lebendig.
Zu Wesleys Zeiten wie in allen Zeitaltern der Kirchengeschichte betrieben Männer von verschiedenen Gaben das ihnen zugewiesene Werk. Sie stimmten nicht mit jeglichem Punkt der Lehre überein, waren aber alle vom Geist Gottes getrieben und eins in dem alles überragenden Vorhaben, Seelen für Christum zu gewinnen. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Whitefield und den beiden Wesley drohten sie einmal zu entfremden; als sie aber in der Schule Christi Sanftmut lernten, wurden sie durch gegenseitige Geduld und christliche Liebe versöhnt. Sie hatten keine Zeit zum Wortstreit, wenn überall Irrtum und Sünde sich breitmachten und Sünder dem Verderben entgegengingen.
Gottes Diener wandelten auf einem rauhen Pfad. Männer von Einfluß und Bildung wandten sich gegen sie. Nach einer Weile bekundeten viele Geistliche eine ausgesprochene Feindschaft gegen sie, und die Türen der Kirchen wurden dem reinen Glauben sowie denen, die ihn verkündigten, verschlossen. Das Verfahren der Geistlichkeit, sie von der Kanzel herab zu verdammen, erregte die Mächte der Finsternis, der Unwissenheit und der Ungerechtigkeit. Wieder und wieder entging John Wesley durch ein Wunder der rettenden göttlichen Gnade dem Tode. Wenn die Wut des Pöbels gegen ihn erweckt war, und kein Weg des Entrinnens da zu sein schien, trat ein Engel in Menschengestalt an seine Seite, die Menge wich zurück, und der Diener Gottes ging unbehelligt von der Stätte der Gefahr.
Über seine Errettung von der Wut des Pöbels bei einem solchen Anlaß sagte Wesley: „Viele machten Anstrengungen, mich niederzuwerfen, während wir auf einem schlüpfrigen Pfade bergab zur Stadt gingen, da sie richtig urteilten, daß wenn ich einmal zu Fall gebracht wäre, ich wohl kaum wieder aufstehen würde. Aber ich fiel nicht, glitt nicht einmal im geringsten aus, bis ich gänzlich aus ihren Händen war. ... Obgleich viele sich Mühe gaben, mich am Kragen oder an meinem Rock zu erfassen, um mich nieder zuziehen, konnten sie doch keinen Halt gewinnen; nur einem gelang es, einen Zipfel meines Rockschoßes festzuhalten, der bald in seiner Hand blieb, während die andere Hälfte, in welcher sich eine Tasche mit einer Banknote befand, nur halb abgerissen wurde. Ein derber Mensch, unmittelbar hinter mir, holte mehrmals aus, mich mit einem dicken Eichenstock zu schlagen - hätte er mich nur einmal damit auf das Hinterhaupt getroffen, so hätte er sich jede weitere Mühe sparen können. Aber jedesmal wurde der Schlag abgewendet, ich weiß nicht wie; denn ich konnte mich weder zur Rechten noch Linken bewegen. Ein anderer stürzte durch das Gedränge, erhob seinen Arm zum Schlag, ließ ihn aber plötzlich sinken und streichelte mir den Kopf mit den Worten: Welch weiches Haar er hat. Die allerersten, deren Herzen gewandt wurden, waren die Gassenhelden, die Anführer des Pöbelhaufens bei allen Anlässen, von welchen einer ein Ringkämpfer im Bärengarten war. ...
„Wie allmählich bereitet Gott uns auf seinen Willen vor! Vor zwei Jahren streifte ein Stück von einem Ziegelstein meine Schultern, ein Jahr später traf mich ein Stein zwischen die Augen, letzten Monat empfing ich einen Schlag und heute abend zwei, einen ehe wir in die Stadt kamen, und einen nachdem wir hinausgegangen waren; doch beide waren wie nichts, denn obgleich mich ein Mann mit aller Gewalt auf die Brust schlug und der andere mit solcher Wucht auf den Mund, daß das Blut sofort hervor strömte, so fühlte ich doch nicht mehr Schmerz von dem einen oder dem anderen der Schläge, als wenn sie mich mit einem Strohhalm berührt hätten.“ (Wesleys Werke, 3. Bd., S. 297 f.)
Die Methodisten jener Zeit - das Volk und auch die Prediger ertrugen Spott und Verfolgung sowohl von Kirchengliedern als auch von den offenbar Gottlosen, die sich durch die falschen Darstellungen jener anfeuern ließen. Sie wurden vor Gerichtshöfe gestellt, die freilich nur dem Namen nach solche waren; denn Gerechtigkeit fand sich selten in den Gerichtshöfen jener Zeit. Oft erlitten sie Gewalt von ihren Verfolgern. Pöbelhaufen gingen von Haus zu Haus, zerstörten Hausgeräte und Güter, plünderten, was ihnen gefiel, und mißhandelten in roher Weise Männer, Frauen und Kinder. Durch öffentliche Anzeigen wurden alle, welche sich am Einwerfen von Fenstern und Plündern der Häuser der Methodisten zu beteiligen wünschten, aufgefordert, sich zu gegebener Stunde an einem bestimmten Ort zu versammeln. Diese offene Verletzung menschlicher wie auch göttlicher Gesetze ließ man ungetadelt vor sich gehen. Man verfolgte planmäßig die Leute, deren einziger Fehler es war, zu versuchen, den Fuß der Sünder vom Pfad des Verderbens auf den Weg der Heiligkeit zu lenken.
John Wesley sagte über die Anschuldigungen gegen ihn und seine Gefährten: „Einige machen geltend, daß die Lehren dieser Männer falsch, irrtümlich, schwärmerisch und neu sind, daß man erst kürzlich von ihnen gehört, und daß sie Quäkerismus, Schwärmerei und Papsttum seien. Diese ganze Behauptung ist bereits an der Wurzel abgehauen worden, da ausführlich gezeigt wurde, daß jeder Zweig dieser Lehre die deutliche Lehre der Heiligen Schrift ist, wie sie von unserer eigenen Kirche ausgelegt wird, und die deshalb nicht falsch oder irrtümlich sein kann, vorausgesetzt, daß die Heilige Schrift wahr ist.“ „Andere geben vor: ’Ihre Lehre ist zu streng, sie machen den Weg zum Himmel zu schmal;’ und dies ist in Wahrheit der ursprüngliche Einwand, wie es für eine Zeitlang der einzige war, und liegt heimlich tausend anderen zugrunde, welche in verschiedener Gestalt erscheinen. Aber machen sie den Weg himmelwärts schmäler, als unser Herr und seine Apostel ihn machten? Ist ihre Lehre strenger als die der Bibel? Betrachtet nur einige deutliche Bibelstellen: ’Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften, und von ganzem Gemüte.’ ’Die Menschen müssen Rechenschaft geben am Jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben.’ ’Ihr esset nun oder trinket oder was ihr tut, so tut es alles zu Gottes Ehre.’ (Luk. 10, 12; Matth. 12,36; 1. Kor. 10,31.)
Wenn ihre Lehre strenger ist als dies, so sind sie zu tadeln; ihr seid aber in eurem Gewissen überzeugt, daß dem nicht so ist. Und wer kann um ein Jota weniger genau sein, ohne das Wort Gottes zu verdrehen? Kann irgendein Haushalter des Geheimnisses Gottes treu erfunden werden, wenn er irgendeinen Teil jenes heiligen Unterpfandes verändert? - Nein, er kann nichts umstoßen; er kann nichts gelinder machen; er ist gezwungen, allen Menschen zu erklären: Ich darf die Heilige Schrift nicht zu eurem Geschmack herabwürdigen. Ihr müßt euch nach ihr richten oder auf ewig zugrunde gehen. Dies gibt allerdings Veranlassung zu dem volkstümlichen Geschrei: die Lieblosigkeit dieser Menschen! Lieblos sind sie? In welcher Beziehung? Speisen sie nicht die Hungrigen und kleiden die Nackten? Ja, aber das ist nicht die Sache; es mangelt ihnen nicht hierin; aber sie sind lieblos im Urteil; sie denken, es könne niemand gerettet werden außer jenen, welche auf dem von ihnen vorgeschriebenen Weg gehen.“ (Wesleys Werke, 3. Bd., S. 152 f.)
Das geistliche Siechtum, welches sich in England unmittelbar vor Wesleys Zeit zu erkennen gegeben hatte, war in hohem Grade die Folge der gesetzesfeindlichen Lehre. Viele behaupteten, Christus habe das Sittengesetz abgeschafft, die Christen ständen deshalb unter keiner Verpflichtung, es zu beobachten, denn ein Gläubiger sei von der „Knechtschaft der guten Werke“ befreit. Andere, obgleich sie die Beständigkeit des Gesetzes zugaben, erklärten es für unnötig, daß die Prediger das Volk zur Beobachtung seiner Vorschriften anhielten, da die, welche Gott zum Heil bestimmt habe, „durch den unwiderstehlichen Antrieb der göttlichen Gnade zu Frömmigkeit und Tugend angeleitet würden,“ wogegen diejenigen, welche zur ewigen Verdammnis bestimmt seien, „nicht die Kraft hätten, dem göttlichen Gesetze Gehorsam zu leisten.“
Andere, welche gleichfalls behaupteten, daß „die Auserwählten nicht von der Gnade abfallen noch der göttlichen Gunst verlustig gehen könnten,“ kamen zu der noch schrecklicheren Annahme, daß „die bösen Handlungen, welche sie begehen, in Wirklichkeit nicht sündhaft seien noch als Übertretung des göttlichen Gesetzes betrachtet werden könnten, und daß sie folglich keinen Grund hätten, ihre Sünden zu bekennen noch sich von ihnen durch Buße abzuwenden.“ (McClintock and Strong’s Cyclopedia, Art. Antinomians.) Deshalb erklärten sie, daß selbst eine der gröbsten Sünden, „die allgemein als eine schreckliche Übertretung des Gesetzes Gottes betrachtet werde, in Gottes Augen keine Sünde sei,“ wenn sie von einem seiner Auserwählten begangen werde, „da es eins der wesentlichen und auszeichnenden Merkmale der Auserwählten sei, nichts tun zu können, das entweder nicht wohlgefällig vor Gott oder durch das Gesetz verboten ist.“
Diese ungeheuerlichen Lehren sind wesentlich dieselben wie die späteren Lehren der Volkserzieher und Theologen - daß es kein unveränderliches göttliches Gesetz als Richtmaß des Rechtes gebe, sondern daß der Maßstab der Sittlichkeit durch die Gesellschaft selbst angezeigt werde und beständig dem Wechsel unterworfen gewesen sei. Alle diese Gedanken sind von dem nämlichen Geisterfürst eingegeben, nämlich dem, der selbst unter den sündenfreien Bewohnern des Himmels sein Werk anfing und versuchte, die gerechten Einschränkungen des Gesetzes Gottes zu beseitigen.
Die Lehre von der göttlichen, unabänderlichen Vorausbestimmung des Menschen hat viele zu einer tatsächlichen Verwerfung des Gesetzes Gottes geführt. Wesley trat den Irrtümern der gesetzesfeindlichen (antinomistischen) Lehrer standhaft entgegen und zeigte, daß diese Lehre der Gesetzesverwerfung der Heiligen Schrift zuwiderlief. „Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.“ „Denn solches ist gut und angenehm vor Gott, unserm Heiland, welcher will, daß a1len Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler,... Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung.“ (Titus 2, 11; 1. Timotheus. 2, 3-6.) Der Geist Gottes wird in einem reichlichen Maße verliehen, um einen jeglichen zu befähigen, die Heilsmittel zu ergreifen. So erleuchtet Christus, „das wahrhaftige Licht,... alle Menschen,... die in diese Welt kommen.“ (Joh. 1, 9.) Die Menschen verlieren das Heil durch ihre eigene vorsätzliche Verweigerung der Gabe des Lebens.
Als Antwort auf die Behauptung, daß beim Tode Christi die Vorschriften der Zehn Gebote mit dem Zeremonialgesetz abgeschafft worden seien, sagte Wesley: „Das Sittengesetz, wie es in den Zehn Geboten enthalten und von den Propheten eingeschärft worden ist, hat er nicht abgetan. Es war nicht der Zweck seines Kommens, irgendeinen Teil davon abzuschaffen. Es ist dies ein Gesetz, das nie gebrochen werden kann, das feststeht wie der treue Zeuge im Himmel. ... Dasselbe war von Anbeginn der Welt und wurde nicht auf steinerne Tafeln, sondern in die Herzen aller Menschenkinder geschrieben, als sie aus der Hand des Schöpfers hervorgingen. Und wie sehr auch die einst von Gottes Finger geschriebenen Buchstaben jetzt durch die Sünde verwischt sein mögen, so können sie doch nicht gänzlich ausgetilgt werden, solange uns ein Bewußtsein von Gut und Böse bleibt. Ein jeglicher Teil dieses Gesetzes muß für alle Menschen und zu allen Zeitaltern in Kraft bleiben, da es nicht von Zeit oder Ort noch von irgendwelchen anderen dem Wechsel unterworfenen Umständen, sondern von der Natur Gottes und der Natur der Menschen und ihren unveränderlichen Beziehungen zueinander abhängig ist.
„’Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen’ …Unzweifelhaft meint er hier (in Übereinstimmung mit alledem, was vorangeht und folgt): ich bin gekommen, es in seiner Vollkommenheit aufzurichten, trotz allen menschlichen Deutungen; Ich bin gekommen, alles, was in ihm dunkel und undeutlich war, in ein volles und klares Licht zu stellen; Ich bin gekommen, die wahre und volle Bedeutung eines jeglichen Teiles zu erklären, die Länge und Breite und die ganze Tragweite eines jeglichen darin enthaltenen Gebotes sowie die Höhe und Tiefe, dessen unbegreifliche Reinheit und Geistlichkeit in allen seinen Zweigen zu zeigen.“ (Wesleys Werke, 25. Predigt.)
Wesley verkündigte die vollkommene Übereinstimmung zwischen dem Gesetz und dem Evangelium, wenn er sagte: Es besteht deshalb die denkbar innigste Verbindung zwischen dem Gesetz und dem Evangelium. Einerseits bahnt das Gesetz beständig den Weg für das Evangelium und weist uns darauf hin; andererseits führt uns das Evangelium beständig zu einer genaueren Erfüllung des Gesetzes. Das Gesetz zum Beispiel verlangt von uns, Gott und den Nächsten zu lieben und sanftmütig, demütig oder heilig zu sein. Wir fühlen, daß wir hierzu nicht tüchtig sind; ja daß dies dem Menschen unmöglich ist; aber wir sehen eine Verheißung Gottes, uns diese Liebe zu geben und uns demütig, sanftmütig und heilig zu machen; wir ergreifen dies Evangelium, diese frohe Botschaft; uns geschieht nach unserm Glauben; und die Gerechtigkeit des Gesetzes wird in uns erfüllt durch den Glauben an Christum Jesum. ...
„Die größten Feinde des Evangeliums Christi sind die, welche offen und ausdrücklich das Gesetz richten und übel davon reden, welche die Menschen lehren, das ganze Gesetz, nicht nur eins seiner Gebote, sei es das geringste oder das größte, sondern sämtliche Gebote zu brechen (aufzuheben, zu lösen, seine Verbindlichkeit zu beseitigen.) Höchst erstaunlich ist es, daß die, welche sich dieser starken Täuschung ergeben haben, wirklich glauben, Christus dadurch zu ehren, daß sie sein Gesetz umstoßen und wähnen, sein Amt zu verherrlichen, während sie seine Lehre vernichten! Ah, sie ehren ihn gerade wie Judas tat, als er sagte: ’Gegrüßet seist du, Rabbi, und küßte ihn.’ Wohl mag er ebenso billig zu einem jeglichen von ihnen sagen: ’Verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuß?’ Irgendeinen Teil seines Gesetzes auf leichtfertige Weise beiseite zusetzen unter dem Vorwand, sein Evangelium zu fördern, ist nichts anderes als ihn mit einem Kuß zu verraten, von seinem Blute zu reden und seine Krone wegzunehmen. In der Tat kann keiner dieser Anschuldigung entgehen, der den Glauben in einer Weise verkündigt, die direkt oder indirekt dahin führt, irgendeinen Teil des Gehorsams beiseite zusetzen - keiner, der Christum also predigt, daß dadurch irgendwie selbst das geringste der Gebote Gottes ungültig oder geschwächt werde.“ (Ebd.)
Denen, die darauf bestanden, daß „das Predigen des Evangeliums allen Zwecken des Gesetzes entspreche,“ erwiderte Wesley: „Dies leugnen wir gänzlich. Es kommt schon dem allerersten Endzweck des Gesetzes nicht nach, nämlich die Menschen von der Sünde zu überführen und die, welche noch immer am Rande der Hölle schlafen, aufzurütteln.“ Der Apostel Paulus erklärt: „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“; „und nicht ehe der Mensch sich der Schuld bewußt ist, wird er wirklich die Notwendigkeit des versöhnenden Blutes Christi fühlen. ... Wie unser Heiland auch selbst erklärt: ’Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.’ Es ist deshalb töricht, den Gesunden oder denen, die sich gesund wähnen, einen Arzt aufzudrängen. Sie müssen erst überzeugt sein, daß sie krank sind, sonst werden sie keine Hilfe verlangen. Ebenso töricht ist es, demjenigen Christum anzubieten, dessen Herz noch ganz und unzerbrochen ist.“ (Ebd., 35. Predigt.)
So bestrebte sich Wesley, während er das Evangelium von der Gnade Gottes predigte, gleich seinem Herrn „das Gesetz herrlich und groß“ zu machen. Getreu verrichtete er das ihm von Gott anvertraute Werk, und herrlich waren die Folgen, die er sehen durfte. Am Schluß eines langen Lebens von mehr als achtzig Jahren, wovon er mehr als ein halbes Jahrhundert als Reiseprediger zubrachte, belief sich die Zahl seiner bekenntlichen Anhänger auf mehr als eine halbe Million Seelen. Doch die Menge, welche durch sein Wirken aus dem Verderben und der Entartung der Sünde zu einem höheren und reineren Leben erhoben worden war, und die Zahl derer, welche durch seine Lehre eine tiefere und reichere Erfahrung gewonnen hatten, werden wir nicht wissen, bis die gesamte Familie der Erlösten in das Reich Gottes gesammelt werden wird. Sein Leben bietet jedem Christen eine Lehre von unschätzbarem Wert. Möchten doch der Glaube und die Demut, der unermüdliche Eifer, die Selbstaufopferung und Hingabe dieses Dieners Christi in den heutigen Gemeinden widerstrahlen!


 
KAPITEL 15

DIE BIBEL UND DIE FRANZÖSISCHE REVOLUTION

Im 16. Jahrhundert hatte die Reformation, die dem Volk eine offene Bibel darbot, in alle Länder Europas Eingang gesucht. Einige Nationen bewillkommten sie mit Freuden als einen Boten vom Himmel. In anderen Ländern gelang es dem Papsttum in großem Maße, ihren Eingang zu verhindern, und das Licht biblischer Erkenntnis mit seinem veredelnden Einfluß war beinahe gänzlich erloschen. In einem Lande wurde das Licht nicht von der Finsternis begriffen, obgleich es Eingang gefunden hatte. Jahrhundertelang kämpften Wahrheit und Irrtum um die Obergewalt. Schließlich siegte das Böse, und die Wahrheit des Himmels wurde hinaus gestoßen. „Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht.“ (Joh. 3, 19.) Die Nation mußte die Folgen ihrer Wahl ernten. Der zügelnde Einfluß des Geistes Gottes wurde einem Volke, welches seine Gnadengabe verachtet hatte, entzogen. Gott ließ das Böse ausreifen, und alle Welt sah die Früchte willkürlicher Verwerfung des Lichtes.
Der in Frankreich so viele Jahrhunderte lang gegen die Bibel geführte Krieg gipfelte in den Ereignissen der Revolution. Jener schreckliche Ausbruch war die unausbleibliche Folge der Unterdrückung der Heiligen Schrift seitens Roms. (siehe Anhang.) Er bot der Welt das schlagendste Beispiel von der Wirkung der päpstlichen Politik - eine Darstellung von den Folgen, auf welche die Lehren der römischen Kirche mehr als ein Jahrtausend zugesteuert hatten.
Die Unterdrückung der Heiligen Schrift während der päpstlichen Oberherrschaft wurde von den Propheten vorhergesagt; und der Schreiber der Offenbarung verweist ebenfalls auf die schrecklichen Folgen, welche besonders Frankreich von der Herrschaft des „Menschen der Sünde“ erwachsen sollten.
Der Engel des Herrn sagte: „Die heilige Stadt werden sie zertreten zweiundvierzig Monate. Und ich will meinen zwei Zeugen geben, und sie sollen weissagen tausendzweihundertundsechzig Tage, angetan mit Säcken. ... Und wenn sie ihr Zeugnis geendet haben, so wird das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt, mit ihnen einen Streit halten und wird sie überwinden und wird sie töten. Und ihre Leichname werden liegen auf der Gasse der großen Stadt, die da heißt geistlich Sodom und Ägypten, da auch ihr Herr gekreuzigt ist. ... Und die auf Erden wohnen, werden sich freuen über sie und wohlleben und Geschenke untereinander senden; denn diese zwei Propheten quälten, die auf Erden wohnten. Und nach drei Tagen und einem halben fuhr in sie der Geist des Lebens von Gott, und sie traten auf ihre Füße, und eine große Furcht fiel über die, so sie sahen.“ (Offb. 11, 2-11.)
Die hier erwähnten „zweiundvierzig Monate“ und „tausendzweihundertundsechzig Tage“ sind ein und dasselbe. Beide stellen die Zeit dar, da die Gemeinde Christi von Rom unterdrückt werden sollte. Die 1260 Jahre päpstlicher Oberherrschaft fingen an im Jahre 538 n. Chr. und mußten demnach im Jahre 1798 ablaufen. (Siehe Anhang.) Zu der Zeit drang eine französische Armee in Rom ein und nahm den Papst gefangen, der auch später in der Verbannung starb. Wenngleich bald darauf ein neuer Papst gewählt wurde, so hat die päpstliche Priesterherrschaft doch nie wieder die Macht auszuüben vermocht, welche sie ehedem besessen hatte.
Die Verfolgung der Gemeinde Christi erstreckte sich nicht bis an das Ende der 1260 Jahre. Aus Erbarmen gegen sein Volk kürzte Gott die Zeit der Feuerprobe ab. In seiner Weissagung von der „großen Trübsal“, welche die Gemeinde heimsuchen sollte, sagte der Heiland: „Und wo diese Tage nicht würden verkürzt, so würde kein Mensch selig; aber um der Auserwählten willen werden die Tage verkürzt.“ (Matth. 24, 22.) Durch den Einfluß der Reformation wurde die Verfolgung schon vor dem Jahre 1798 eingestellt.
Über die zwei Zeugen sagt der Prophet ferner: „Dies sind die zwei Ölbäume und zwei Fackeln, stehend vor dem Herrn der Erde.“ „Dein Wort,“ sagt der Psalmist, „ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege.“ (Offb. 11, 4; Ps. 119, 105.) Die beiden Zeugen stellen die Schriften des Alten und des Neuen Testamentes dar. Beide sind wichtige Zeugnisse für den Ursprung und die Fortdauer des Gesetzes Gottes. Beide sind gleichfalls Zeugen im Verborgenen. Die päpstliche Macht suchte dem Volk das Wort der Wahrheit zu verbergen und stellte falsche Zeugen, um dessen Zeugnis zu widersprechen. (Siehe Anhang.) Als die Bibel von kirchlichen und weltlichen Behörden verbannt ward; als ihr Zeugnis verkehrt und allerlei Versuche, welche Menschen und Dämonen ersinnen konnten, gemacht wurden, um die Gemüter des Volkes von ihr abzulenken; als die, welche es wagten, ihre heiligen Wahrheiten zu verkündigen, gehetzt, verraten, gequält, in Gefängniszellen begraben, um ihres Glaubens willen getötet oder gezwungen wurden, in die Festen der Berge und die Schluchten und Höhlen der Erde zu fliehen - da weissagten die Zeugen in Säcken. Dennoch setzten sie ihr Zeugnis während der ganzen 1260 Jahre fort. In den dunkelsten Zeiten gab es treue Männer, welche Gottes Wort liebten und um seine Ehre eiferten. Diesen getreuen Knechten wurde Weisheit, Macht und Stärke verliehen, während dieser ganzen Zeit seine Wahrheit zu verkündigen.
„Und so jemand sie will schädigen, so geht Feuer aus ihrem Munde und verzehrt ihre Feinde; und so jemand sie will schädigen, der muß also getötet werden.“ (Offb - 11, 5.) Die Menschen können nicht ungestraft das Wort Gottes mit Füßen treten. Die Bedeutung dieser schrecklichen Drohung wird uns im Schlußkapitel der Offenbarung gegeben: „Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buch: So jemand dazu setzt, so wird Gott zusetzen auf ihn die Plagen, die in diesem Buch geschrieben stehen. Und so jemand davon tut von den Worten des Buchs dieser Weissagung, so wird Gott abtun sein Teil vom Holz des Lebens und von der heiligen Stadt, davon in diesem Buch geschrieben ist.“ (Offb. 22,18.19.)

Die Prophezeiung von den 1260 Tagen
538 n. Chr. 1798 n. Chr.
Die Weissagung Daniels
„Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel stürmten widereinander auf dem großen Meer. Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders denn das andere...
„Nach diesem sah ich in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, das vierte Tier war greulich und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte, und das übrige zertrat es mit seinen Füßen und war auch viel anders denn die vorigen und hatte zehn Hörner. Da ich aber die Hörner schaute, siehe, da brach hervor zwischen ihnen ein anderes kleines Horn, vor welchem der vorigen Hörner drei ausgerissen wurden, und siehe, dasselbe Horn hatte Augen wie Menschenaugen und ein Maul, das redete große Dinge.
Und ich ging zu den einem, die dastanden, und bat ihn, daß er mir von dem allen gewissen Bericht gäbe. Und der redete mit mir und zeigte mir, was es bedeutete.
„Darnach hätte ich gern gewußt gewissen Bericht von dem vierten Tier, welches gar anders war denn die anderen alle, sehr greulich, das eiserne Zähne und eherne Klauen hatte, das um sich fraß und zermalmte und das übrige mit seinen Füßen zertrat und von den zehn Hörnern auf seinem Haupt und von dem anderen, das hervorbrach, vor welchem drei abfielen, und das Horn hatte Augen und ein Maul, das große Dinge redete, und war größer, denn die neben ihm waren. Und ich sah das Horn streiten wider die Heiligen, und es behielt den Sieg über sie...
Er wird den Höchsten lästern und die Heiligen des Höchsten verstören und wird sich unterstehen, Zeit und Gesetz zu ändern. Sie werden aber in seine Hand gegeben werden eine Zeit und (zwei) Zeiten und eine halbe Zeit.“ Daniel 7, 2-3; 7-8; 16; 19-21; 25.

Die Weissagung aus der Offenbarung
„Und ich trat an den Sand des Meers und sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte sieben Häupter und zehn Hörner und auf seinen Hörnern zehn Kronen und auf seinen Häuptern Namen der Lästerung. Und das Tier, das ich sah, war gleich einem Parder und seine Füße wie Bärenfüße und sein Mund wie eines Löwen Mund. Und der Drache gab ihm seine Kraft und seinen Stuhl und große Macht.
Und ich sah seiner Häupter eines, als wäre es tödlich wund, und seine tödliche Wunde ward heil. Und der ganze Erdboden verwunderte sich des Tieres, und sie beteten den Drachen an, der dem Tier die Macht gab und beteten das Tier an und sprachen: Wer ist dem Tier gleich und wer kann mit ihm kriegen? Und es ward ihm gegeben ein Mund zu reden große Dinge und Lästerungen und ward ihm gegeben, daß es mit ihm währte 42 Monate lang.“ Offenbarung 13, 1-5.
Die Bibel sagte vorher, daß die schreckliche Macht - das kleine Horn aus Daniel 7 und 8 - die Welt 1260 Jahrtage lang beherrschen sollte. Jahrhundertelang war es eine wohlbekannte Tatsache, wer dieses kleine Horn aus Daniel 7 und das erste Tier aus der Offenbarung 13 darstellte: nämlich das Papsttum, auch „Mensch der Sünde“ genannt (2. Thess. 2, 3-4) oder Antichrist (l. Joh. 4, 3) jedenfalls wurde dem Papsttum unzweideutig vorhergesagt, daß es 1260 Jahre lang regieren würde. Wann setzte die prophezeite Zeitspanne ein und wann endete sie? Die nächste Seite wird Ihnen die nötigen Informationen liefern.

Die erstaunliche Weissagung der 1260 Jahrtage
Hier geht es um die erstaunliche Vorhersage der 1260 Tage, ein Zeitraum, der an anderer Stelle auch mit Zeit, Zeiten und eine halbe Zeit oder 42 Monaten wiedergegeben wird.
In der biblischen Prophetie symbolisiert ein Tag ein buchstäbliches Jahr (4. Mose 14, 34; Hes. 4, 6). Auch der Ausdruck „Zeit“ steht in der biblischen Prophetie für ein Jahr (Dan. 4, 13). Diese Zeitspanne wird in Daniel 7, 25 zum erstenmal erwähnt, wo es heißt, daß diese dreieinhalb Zeiten lang das furchtbare kleine Horn Macht hätte, die Heiligen zu verstören. Während dieser Zeit würde es auch versuchen, Gottes Gesetz zu ändern: Daniel 7, 25: „Er wird den Höchsten lästern und die Heiligen des Höchsten verstören und wird sich unterstehen, Zeit und Gesetz zu ändern. Sie werden aber in seine Hand gegeben werden eine Zeit und (zwei) Zeiten und eine halbe Zeit.“
Das entspricht im Hebräischen 31/2 Zeiten. Wenn man die damalige Zeitrechnung benutzt, wobei ein Jahr zu 360 Tagen gezählt wurde, kommen wir also auf 360 + 720 + 180 = 1260. Und da ein Tag in biblischer Prophetie ein Jahr symbolisiert, würde dieses kleine Horn also 1260 Jahre lang herrschen. In der Offenbarung 12. Kapitel Vers 6 heißt es, daß die Verfolgung „1260 Tage“ lang anhalten würde, was wiederum 1260 Jahren entspricht (vgl. Offb. 11, 3).
Der Gott des Himmels gab diese wichtige Vorhersage jedoch noch auf eine dritte Weise: Das kleine Horn aus Daniel 7 und 8 ist dasselbe wie das erste Tier in Offenbarung 13: „Und es ward ihm gegeben ein Mund zu reden große Dinge und Lästerungen, und ward ihm gegeben, daß es mit ihm währte 42 Monate lang.“ (Offb. 13, 5; vgl. Offb. 11, 2.)
42 Monate sind dasselbe wie 1260 Tage. Und auch in der Offenbarung wird diese Zeitweissagung mit 3½ Zeiten gekennzeichnet - genauso wie im Daniel Buch.
Wann herrschte dieses kleine Horn, welches das Papsttum symbolisiert? Der Erlaß des Kaisers Justinian 533 n. Chr. anerkannte den Papst als das „Haupt aller heiligen Kirchen“ (Code des Justinian, Band 1, Titel 1, Sektion 4). Die überwältigende Niederlage der Ostgoten in der Belagerung Roms - 5 Jahre später (538) war der Todesstoß für das dritte der drei Hörner, die ausgerissen worden waren (siehe Dan. 7. 8). Mit dem Jahr 538 beginnt also die Zeitspanne der päpstlichen Vorherrschaft, die bis 1798 andauern sollte. In diesem Jahr, während die Schreckensherrschaft der Französischen Revolution noch andauerte und die römisch-katholische Religion in Frankreich abgeschafft wurde, marschierte die Französische Armee in Rom ein - angeführt von General Berthier - und nahm den Papst gefangen. Datum: 10. Februar 1798. Der gefangene Papst starb im darauffolgenden Jahr in seinem Exil in Valence, Frankreich. Ein lauter Schrei erhob sich: „Der Katholizismus ist tot!“ Das Papsttum hatte die „tödliche Wunde“ erhalten, die in Offb. 13, 3 vorhergesagt wurde. Aber wir erfahren auch, daß diese Wunde wieder heilen wird und daß die Zeit kommt, wo sich die ganze Welt „über das Tier wundem wird“ (Offb. 13, 3).
Dies sind Warnungen, die Gott gegeben hat, um die Menschen davon abzuhalten, auf irgendeine Weise etwas zu verändern, das er offenbart oder geboten hat. Diese feierlichen Drohungen richten sich an alle, welche durch ihren Einfluß die Menschen veranlassen, das Gesetz Gottes geringzuachten. Sie sollten jene in Furcht und Zittern versetzen, welche leichtfertig behaupten, es sei eine Sache von geringer Bedeutung, ob wir Gottes Gesetz halten oder nicht. Alle, welche ihre eigenen Ansichten über die göttliche Offenbarung erheben; alle, welche die deutlichen Aussagen des Wortes Gottes nach ihrer eigenen Bequemlichkeit oder um in Übereinstimmung mit der Welt zu sein, umändern möchten, nehmen eine fürchterliche Verantwortlichkeit auf sich. Das geschriebene Wort, das Gesetz Gottes, wird den Charakter eines jeglichen messen und alle verdammen, die diesem unfehlbaren Richtmaß nicht entsprechen.
„Wenn sie ihr Zeugnis geendet haben [beendigen]“, die Zeitperiode, worin die zwei Zeugen, in Säcken angetan, weissagen sollten, endete 1798. Wenn ihr Werk im Verborgenen seinem Ende nahte, sollte die Macht, welche dargestellt wird als „das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt,“ Streit mit ihnen halten. In vielen Nationen Europas waren die Mächte, welche in Kirche und Staat das Zepter führten, seit Jahrhunderten von Satan durch den großen Abfall beherrscht worden. Doch hier wird eine neue Bekundung satanischer Macht vor Augen geführt.
Unter dem Vorwand der Ehrfurcht vor der Bibel hatte Roms Politik diese in einer unbekannten Sprache vor dem Volk verschlossen und verborgen gehalten. Unter ihrer Herrschaft weissagten die Zeugen „angetan mit Säcken.“ Aber eine andere Macht das Tier aus dem Abgrund - sollte sich erheben und dem Worte Gottes offen den Krieg erklären.
Die „große Stadt,“ auf deren Gassen die Zeugen erschlagen wurden und wo ihre Leichname lagen, heißt „geistlich... Ägypten.“ Die biblische Geschichte führt uns keine Nation vor, welche das Dasein des lebendigen Gottes dreister verleugnete und sich seinen Geboten mehr widersetzte als Ägypten. Kein Monarch wagte sich je in eine offenere oder vermessenere Empörung gegen die Autorität des Himmels als der König von Ägypten. Als Mose ihm im Namen des Herrn die Botschaft brachte, gab Pharao stolz zur Antwort: „Wer ist der Herr, des Stimme ich hören müsse und Israel ziehen lassen? Ich weiß nichts von dem Herrn, will auch Israel nicht lassen ziehen.“ (2. Mose 5, 2.) Dies ist Gottesleugnung, und die durch Ägypten versinnbildete Nation sollte einer ähnlichen Verleugnung der Ansprüche des lebendigen Gottes Ausdruck geben und einen gleichen Geist des Unglaubens und der Herausforderung an den Tag legen. Die „große Stadt“ wird auch geistlich mit Sodom verglichen. Die Verderbtheit Sodoms in der Übertretung des Gesetzes Gottes gab sich ganz besonders in ihrer Unzucht zu erkennen. Und diese Sünde war ebenfalls ein sehr hervorragender Zug der Nation, welche die Einzelheiten dieser Schriftstelle erfüllen sollte.
Nach den Angaben des Propheten sollte eine kurze Zeit vor dem Jahre 1798 eine Macht, satanischen Ursprungs und Charakters, sich erheben, um mit der Bibel Streit zu führen. Und in dem Lande, wo das Zeugnis der beiden Zeugen Gottes auf diese Weise zum Schweigen gebracht werden sollte, würde sich die Gottesleugnung Pharaos und die Unzucht Sodoms offenbaren.
Diese Weissagung hat in der Geschichte Frankreichs eine überaus genaue und schlagende Erfüllung gefunden. Während der Revolution von 1793 „hörte die Welt zum erstenmal, daß eine Versammlung von Männern, die gesittet geboren und erzogen waren und sich das Recht anmaßten, eine der schönsten Nationen Europas zu regieren, ihre vereinte Stimme erhob, um die feierlichste Wahrheit, welche die Seele des Menschen empfangen kann, zu verleugnen und einstimmig den Glauben an Gott und die Anbetung der Gottheit zu verwerfen.“ (Scott, Sir Walter, Leben des Napoleon Bonaparte, 1. Bd. 17. Kap.) „Frankreich ist die einzige Nation in der Welt, worüber der zuverlässige Bericht besteht, daß sie als eine Nation ihre Hand in offener Empörung gegen den Schöpfer des Weltalls erhoben hat. Es hat gegeben und gibt noch eine Menge von Lästerern und Ungläubigen in England, Deutschland, Spanien und anderswo; aber Frankreich steht in der Weltgeschichte allein da als der einzige Staat, der durch den Erlaß seiner gesetzgebenden Versammlung erklärte, daß es keinen Gott gebe, und von dessen Hauptstadt sämtliche Bewohner, und eine ungeheure Menge anderswo, Weiber sowohl als auch Männer, vor Freude sangen und tanzten, als sie die Bekanntmachung annahmen.“ (Blackwoods Magazine, Nov. 1870.)
Frankreich bekundete die Merkmale, welche Sodom besonders kennzeichneten. Während der Revolution herrschte ein Zustand sittlicher Erniedrigung und Verderbtheit ähnlich dem, der den Untergang über die Städte der Ebene brachte. Und ein Geschichtsschreiber spricht über die Gottesleugnung und die Unzucht Frankreichs, wie sie uns in der Weissagung gegeben werden: „Eng verbunden mit diesen religionsfeindlichen Gesetzen war dasjenige, welches das Ehebündnis - die heiligste Verbindung, welche menschliche Wesen eingehen können, und deren Dauer am meisten zur Festigung der Gesellschaft beiträgt - zu einem Zustand rein bürgerlichen Übereinkommens vorübergehender Natur herabwürdigte, welches irgendwelche zwei Personen miteinander treffen und nach Willkür wieder lösen könnten... Hätten böse Geister es unternommen, ein Verfahren zu entdecken, welches auf die wirksamste Weise alles zugrunde richtet, was sich Ehrwürdiges, Anmutiges oder Dauerhaftes im Familienleben bietet, und hätten sie gleicherzeit die Zusicherung gehabt, daß das Unheil, das sie anzurichten beabsichtigen, von einem Geschlecht auf das andere fortgepflanzt werden könnte, so hätten sie keinen wirksameren Plan ersinnen können als die Herabwürdigung der Ehe. ... Sophie Arnoult, eine durch ihre witzigen Reden berühmte Schauspielerin, beschrieb die republikanische Hochzeit als das ’Sakrament des Ehebruchs.’“ (Scott, 1. Bd., 17. Kap.)
„Da auch ihr Herr gekreuzigt ist.“ Dies Merkmal der Weissagung erfüllte Frankreich ebenfalls. In keinem Lande hatte sich der Geist der Feindschaft wider Christum auffallender entfaltet. Nirgends ist die Wahrheit auf bittereren oder grausameren Widerstand gestoßen. In den Verfolgungen, mit denen Frankreich die Bekenner des Evangeliums heimsuchte, hatte es Christum in der Person seiner Jünger gekreuzigt.
Ein Jahrhundert nach dem andern war das Blut der Heiligen vergossen worden. Während die Waldenser auf den Gebirgen Piemonts um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu Christi willen ihr Leben niederlegten, war von ihren Brüdern, den Albigensern in Frankreich, ein ähnliches Zeugnis für die Wahrheit abgelegt worden. In den Tagen der Reformation waren ihre Anhänger unter den schrecklichsten Qualen dem Tode preisgegeben worden. Könige und Edelleute, hochgeborene Frauen und zarte Mädchen, der Stolz und die Ritterschaft der Nation, hatten ihre Augen an den Leiden der Märtyrer Jesu geweidet. Die tapferen Hugenotten im Kampfe um die Rechte, welche das menschliche Herz für die heiligsten hält, hatten ihr Blut auf manchem heftig umstrittenen Feld dahingegeben. Die Protestanten wurden vogelfrei erklärt, ein Preis auf ihre Köpfe gesetzt und wie die wilden Tiere gehetzt.
Im 18. Jahrhundert hielt die „Gemeinde in der Wüste“, die wenigen Nachkommen der alten Christen, die, versteckt in den Gebirgen des südlichen Frankreichs, übriggeblieben waren, noch immer den alten Glauben ihrer Väter fest. Wenn sie es wagten, sich bei Nacht an den Gebirgsabhängen oder auf der einsamen Heide zu versammeln, wurden sie von den Dragonern verfolgt und zur lebenslänglicher, Gefangenschaft auf die Galeeren geschleppt. Die Reinsten, die Gebildetsten und Verständigsten der Franzosen wurden unter schrecklichen Qualen mit Räubern und Meuchelmördern zusammengekettet. (Wylie, 22. Buch, 6. Kap.) Anderen widerfuhr eine barmherzigere Behandlung; sie wurden, als sie unbewaffnet und hilflos betend auf ihre Knie fielen, kaltblütig niedergeschossen. Hunderte von betagten Männern, wehrlosen Frauen und unschuldigen Kindern wurden an dem Versammlungsort tot auf dem Boden liegend zurückgelassen. Beim Durchstreifen der Gebirgsabhänge oder Wälder, wo sie gewohnt waren, sich zu versammeln, war es nicht außergewöhnlich, „alle vier Schritte Leichname auf dem Rasen oder an den Bäumen hängend zu finden.“ Ihr Land, von Schwert, Henkerbeil und Feuerbrand verwüstet, „wurde zu einer großen, düsteren Wildnis.“„Diese Greuel wurden nicht in dem finsteren Zeitalter,... sondern in jener glänzenden Zeitperiode Louis XIV begangen. Die Wissenschaften wurden damals gepflegt, die Literatur blühte, die Geistlichkeit des Hofes und der Hauptstadt waren gelehrte und beredte Männer, welche sich gern mit dem Anschein der Demut und der Liebe zierten.“ (Ebd., 7. Kap.)
Doch das schwärzeste in dem schwarzen Verzeichnis der Verbrechen, das schrecklichste unter den höllischen Taten aller Schreckensjahrhunderte war die blutige Bartholomäusnacht. Noch erinnert sich die Weit mit Schaudern und Entsetzen jenes höchst grausamen und feigen Gemetzels. Der König von Frankreich, von römischen Priestern und Prälaten angetrieben, genehmigte das schreckliche Werk. Eine Glocke gab in nächtlicher Stille das Zeichen zum Blutbad. Tausende von Protestanten, die ruhig in ihren Wohnungen schliefen und sich auf die verpfändete Ehre des Königs verließen, wurden ohne Warnung hervor geschleppt und kaltblütig niedergemacht.
Wie Christus der unsichtbare Führer seines Volkes aus der ägyptischen Knechtschaft war, so war Satan der ungesehene Leiter seiner Untertanen in diesem schrecklichen Werk, die Zahl der Märtyrer zu vergrößern. Sieben Tage lang wurde das Gemetzel in Paris fortgesetzt; an den ersten drei Tagen mit unbegreiflicher Wut. Auf besonderen Befehl des Königs erstreckte es sich nicht nur auf die Stadt selbst, sondern auch auf alle Provinzen und Städte, wo sich Protestanten vorfanden. Weder Alter noch Geschlecht wurde berücksichtigt. Weder der unschuldige Säugling noch der Greis blieb verschont. Der Adlige wie der Bauer, alt und jung, Mutter und Kind wurden zusammen nieder gehauen. Das Gemetzel wurde in ganz Frankreich zwei Monate lang fortgesetzt. Siebzigtausend der Besten der Nation kamen um.
„ Als die Nachricht von dem Blutbad Rom erreichte, kannte die Freude der Geistlichkeit keine Grenzen. Der Kardinal von Lorraine belohnte den Boten mit eintausend Kronen, der Domherr von St. Angelo ließ hundert Freudenschüsse geben, die Glocken läuteten von jedem Turm, Freudenfeuer verwandelten die Nacht in Tag, und Gregor XIII, begleitet von den Kardinälen und anderen geistlichen Würdenträgern, zog in einer großen Prozession nach der Kirche von St. Louis, wo der Kardinal von Lorraine ein Tedeum sang. ... Eine Denkmünze wurde zur Erinnerung an das Gemetzel geprägt, und im Vatikan kann man noch drei Freskogemälde von Vasari sehen, welche den Angriff auf den Admiral, den König, wie er im Rate das Hinschlachten plante, und das Blutbad selbst darstellen. Gregor sandte Karl die goldene Rose und hörte vier Monate später ruhigen Gemüts der Predigt eines französischen Priesters zu, der von jenem ’Tage des Glücks und der Freude sprach, als der heilige Vater die Nachricht empfing und in großer Feierlichkeit ging, um Gott und St. Louis seinen Dank darzubringen.` (White, H., Massacre of Bartholomew, 14. Kap., 34. Abschn.)
Derselbe mächtige Geist, der zum Blutbad in der Bartholomäusnacht den Antrieb gab, führte auch die Leitung in den Ereignissen der Revolution. Jesus Christus wurde als Betrüger hingestellt, und der Sammelruf der französischen Gottesleugner war: „Nieder mit dem Elenden!“, womit sie Christum meinten. Den Himmel herausfordernde Lästerung und abscheuliche Gottlosigkeit gingen Hand in Hand, und die gemeinsten Menschen, die verwahrlosesten Ungeheuer der Grausamkeit und des Lasters wurden aufs höchste erhoben. In diesem allen wurde dem Satan die höchste Huldigung gezollt, während Christus in seinen Eigenschaften der Wahrheit, der Reinheit und der selbstlosen Liebe gekreuzigt wurde.
„So wird das Tier, das aus dem Abgrund aufsteigt, mit ihnen einen Streit halten und wird sie überwinden und wird sie töten.“ Die Gottesleugnerische Macht, welche in Frankreich während der Revolution und der Schreckensherrschaft das Zepter führte, unternahm einen solchen Krieg gegen Gott und sein heiliges Wort, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte. Die Anbetung Gottes wurde von der Nationalversammlung verboten. Bibeln wurden gesammelt und unter jeder möglichen Bekundung der Verachtung öffentlich verbrannt. Das Gesetz Gottes trat man mit Füßen. Biblische Einrichtungen wurden abgeschafft. Der wöchentliche Ruhetag wurde beiseite gesetzt und an dessen Statt jeder zehnte Tag der Lustbarkeit und der Gotteslästerung gewidmet. Taufe und Abendmahl wurden verboten. Über den Grabstätten deutlich angebrachte Inschriften erklärten den Tod für einen ewigen Schlaf.
Die Gottesfurcht, behauptete man, sei anstatt der Anfang der Weisheit vielmehr der Anfang der Torheit. Jegliche Verehrung, ausgenommen die der Freiheit und des Landes, wurde untersagt. Der „konstitutionelle Bischof von Paris wurde herbeigeholt, um in der schamlosesten und anstößigsten Posse, die je sich vor einer Nationalvertretung abspielte, die Hauptrolle zu übernehmen. ... Man führte ihn in einer förmlichen Prozession vor, um der Versammlung zu erklären, daß die Religion, welche er so viele Jahre lang gelehrt hatte, in jeglicher Hinsicht ein Stück Pfaffentrug ohne irgendeinen Grund in der Geschichte noch der heiligen Wahrheit sei. Er verleugnete in feierlichen und deutlichen Ausdrücken das Dasein der Gottheit, zu deren Dienst er eingesegnet worden war, und widmete sich in Zukunft der Verehrung der Freiheit, Gleichheit, Tugend und Sittlichkeit. Dann legte er seinen bischöflichen Schmuck auf den Tisch und empfing eine brüderliche Umarmung von dem Präsidenten des Konvents. Verschiedene abgefallene Priester folgten dem Beispiel dieses Prälaten.“ (Scott, 1. Bd., 17. Kap.)
„Und die auf Erden wohnen, werden sich freuen über sie und wohlleben und Geschenke untereinander senden; denn diese zwei Propheten quälten die auf Erden wohnten.“ Das ungläubige Frankreich hatte die strafende Stimme dieser beiden Zeugen Gottes zum Schweigen gebracht. Das Wort Gottes lag tot auf ihren Straßen und alle, welche die Einschränkungen und Erfordernisse des Gesetzes Gottes haßten, frohlockten. Öffentlich forderten Menschen den König des Himmels heraus. Wie die Sünder vor alters, riefen sie aus: „Was merkt Gott? Weiß der Höchste überhaupt etwas?“ (Ps. 73, 11 f.)
Mit lästernder Vermessenheit, die beinahe alle Glaubwürdigkeit übersteigt, sagte einer der Priester dieser neuen Art: „Gott, so du existierst, räche deinen beleidigten Namen. Ich biete dir Trotz! Du schweigst! Du wagst es nicht, deine Donner zu schleudern! Wer wird hinfort an dein Dasein glauben?“ (Lacretelle, Hist. de France, 11. Bd., S. 309, Paris 1825.) Welch ein Widerhall ist dies von der Forderung Pharaos: „Wer ist der Herr, des Stimme ich hören müsse?“ „Ich weiß nichts von dem Herrn.“
„Die Toren sprechen in ihrem Herzen: Es ist kein Gott.“, (Ps. 14, 1.) Und der Herr erklärt betreffs der Verkehrer seiner Wahrheit: „Ihre Torheit wird offenbar werden jedermann.“ (2. Tim. 3, 9.) Nachdem Frankreich sich von der Anbetung des lebendigen Gottes, des „Hohen und Erhabenen, der ewiglich wohnt,“ losgesagt hatte, verstrich nur eine kleine Zeit, bis es zum erniedrigenden Götzendienst hinabsank, indem es die Göttin der Vernunft in der Person eines lasterhaften Frauenzimmers anbetete - und dies in der Versammlung der Stellvertreter der Nation und durch seine höchsten bürgerlichen und gesetzgebenden Behörden! Der Geschichtsschreiber sagt: „Eine der Zeremonien dieser wahnsinnigen Zeit steht unübertroffen wegen ihrer Abgeschmacktheit, verbunden mit Gottlosigkeit. Die Tore des Konvents wurden einer Schar von Musikanten geöffnet, der die Mitglieder der Stadtbehörde in feierlichem Zug folgten, indem sie ein Loblied auf die Freiheit sangen und den Gegenstand ihrer zukünftigen Anbetung, ein verschleiertes Frauenzimmer, welches sie die Göttin der Vernunft nannten, geleiteten. Als man sie innerhalb der Schranken gebracht, sie mit großer Förmlichkeit entschleiert und zur Rechten des Präsidenten gesetzt hatte, erkannte man sie allgemein als eine Tänzerin aus der Oper. ... Dieser Person, als dem passendsten Vertreter jener Vernunft, die man anbetete, brachte die Nationalversammlung Frankreichs öffentliche Huldigung dar.
„Diese gottlose und lächerliche Mummerei wurde zu einem gewissen Brauch, und die Einsetzung der Göttin der Vernunft wurde in der ganzen Nation an allen Orten, wo die Bewohner sich als auf der Höhe der Revolution zeigen wollten, erneuert und nachgeahmt.“ (Scott, 1. Bd., 17. Kap.)
Der Redner, welcher die Anbetung der Vernunft einführte, sagte: „Mitglieder der Gesetzgebung! Fanatismus ist der Vernunft gewichen. Seine getrübten Augen konnten den Glanz des Lichtes nicht ertragen. Heute hatte sich eine unermeßliche Menge in den gothischen Gewölben versammelt, welche zum ersten Mal von der Stimme der Wahrheit widerhallten. Dort haben die Franzosen die wahre Anbetung der Freiheit und der Vernunft vollzogen; dort haben wir neue Wünsche für das Glück der Waffen, der Republik ausgesprochen; dort haben wir die leblosen Götzen gegen die Vernunft, dieses belebte Bild, das Meisterwerk der Schöpfung, umgetauscht.“ (Thiers, Gesch. der Franz. Rev., 2. Bd., S. 370. 371.)
Als die Göttin in den Konvent geführt wurde, nahm der Sprecher sie bei der Hand und sagte, sich an die Versammlung wendend: „Sterbliche, hört auf zu beben vor dem ohnmächtigen Donner eines Gottes, den eure Furcht geschaffen hat. Hinfort erkennt keine Gottheit an als die Vernunft. Ich stelle euch ihr reinstes und edelstes Bild vor; müßt ihr Götter haben, so opfert nur solchen wie dieser. ... 0 Schleier der Vernunft, falle vor dem erlauchten Senat der Freiheit!“ ...
„Nachdem der Präsident die Göttin umarmt hatte, wurde sie auf einen prächtigen Wagen gesetzt und inmitten eines ungeheuren Gedränges zur Liebfrauenkirche geführt, um dort die Stelle der Gottheit einzunehmen. Dann wurde sie auf den Hochaltar gehoben und daselbst von allen Anwesenden verehrt.“ (Alison, Gesch. Europas, 1. Bd., 10. Kap.)
Nicht lange darauf folgte die öffentliche Verbrennung der Bibel. Bei einem derartigen Anlaß betrat die „volkstümliche Gesellschaft des Museums“ den Saal der höchsten Behörde mit dem Ruf: Es lebe die Vernunft! Auf der Spitze einer Stange wurden die halb verbrannten Überreste verschiedener Bücher getragen, darunter Gebetbücher, Meßbücher und das Alte und Neue Testament, welche, wie der Präsident sich ausdrückte, „in einem großen Feuer die gesamten Torheiten sühnten, welche sie das menschliche Geschlecht zu begehen veranlaßt hatten.“ (Journal von Paris, 1793, Nr. 318.)
Das Papsttum hatte das Werk angefangen, welches die Gottesleugner nun vollendeten. Die römische Politik hatte jene gesellschaftlichen, politischen und religiösen Zustände zur Folge, welche Frankreich dem Verderben zutrieben. Schriftsteller, die die Schrecken der Revolution schilderten, sagten, daß jene Ausschreitungen dem Thron und der Kirche zur Last gelegt werden müssen. (Siehe Anhang.) Ein gerechtes Urteil muß sie der Kirche zurechnen. Das Papsttum hatte die Gemüter der Könige gegen die Reformation als einen Feind der Krone, eine Ursache der Uneinigkeit, welche sich dem Frieden und der Eintracht der Nation verderblich erweisen würde, eingenommen. Der Einfluß Roms leitete auf diese Weise die entsetzlichsten Grausamkeiten und die bittersten Unterdrückungen ein, die je vom Throne ausgegangen sind.
Der Geist der Freiheit begleitete die Bibel. Wo das Evangelium Aufnahme fand, wurden die Gemüter der Menschen belebt. Sie fingen an, die Bande, welche sie in der Leibeigenschaft der Unwissenheit, des Lasters und des Aberglaubens gehalten hatten, abzuschütteln und wie Männer zu denken und zu handeln. Die Herrscher sahen es und fürchteten für ihre unumschränkte Gewalt.
Rom versäumte nicht, ihre eifersüchtigen Befürchtungen anzufachen. Der Papst sagte im Jahre 1525 zu dem Regenten von Frankreich: „Diese Tollwut [der Protestantismus] wird nicht nur die Religion verwirren und verderben, sondern auch alle Fürsten und Adelswürden, Gesetze, Orden und Rangunterschiede außerdem.“ (Felice, Gesch. der Protestanten Frankreichs, 1. Buch, 2. Kap. 6. Abschn., Leipzig 1855 .) Einige Jahre später warnte ein päpstlicher Gesandter den König: „Sire, täuschen Sie sich nicht, die Protestanten werden die bürgerliche wie die religiöse Ordnung untergraben. ... Der Thron ist ebensosehr in Gefahr wie der Altar. ... Die Einführung einer neuen Religion bringt notwendigerweise die einer neuen Regierung mit sich.“ (D’Aubigné, Gesch. der Reform. zu den Zeiten Kalvins, 2. Bd., 36. Kap.) Theologen benutzten die Vorurteile des Volkes und erklärten, daß die protestantische Lehre „die Leute zu Neuerungen und Torheiten verlocke, dem Könige die aufopfernde Liebe seiner Untertanen raube und Kirche und Staat verheere.“ So gelang es Rom, Frankreich dahin zubringen, daß es sich gegen die Reformation erhob. „Zur Erhaltung des Thrones, zur Bewahrung des Adels und zur Aufrechterhaltung der Gesetze wurde das Schwert der Verfolgung in Frankreich zuerst gezogen.“ (Wylie, 13. Buch, 4. Kap.)
Die Herrscher jenes Landes waren weit davon entfernt, die Folgen dieser verderblichen Politik vorauszusehen. Die Lehren der Bibel hätten in den Gemütern und Herzen des Volkes jene Grundsätze der Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Wahrheit, Gleichheit und Wohltätigkeit eingepflanzt, welche der eigentliche Eckstein der Wohlfahrt eines Volkes sind. „Gerechtigkeit erhöht ein Volk;“ dadurch „wird der Thron befestigt.“ (Spr. 14, 34; 16, 12.) „Der Gerechtigkeit Frucht wird Friede sein,“ und die Wirkung „wird ewige Stille und Sicherheit sein.“ (Jes. 32, 17.) Wer das göttliche Gesetz hält, wird auch aufs getreueste den Gesetzen des Landes Achtung und Gehorsam entgegenbringen. Wer Gott fürchtet, wird auch den König in der Ausübung aller gerechten und gesetzlichen Macht ehren. Aber das unglückliche Frankreich verbot die Bibel und verbannte ihre Anhänger. Ein Jahrhundert nach dem anderen mußten aufrichtige Männer - Männer von guten Grundsätzen und Rechtschaffenheit, von geistigem Scharfblick und sittlicher Kraft, welche den Mut hatten, ihren Überzeugungen treu zu bleiben, und den Glauben besaßen, um für die Wahrheit leiden zu können - als Sklaven auf den Galeeren arbeiten, Martertum erleiden, in dumpfen Kerkerzellen vermodern, während Tausende und aber Tausende sich durch die Flucht retteten; und dies dauerte noch 250 Jahre lang nach dem Anfang der Reformation fort.
„Kaum gab es während jener langen Zeitspanne unter den Franzosen ein Geschlecht, das nicht Zeuge gewesen wäre, wie Jünger des Evangeliums vor der wahnsinnigen Wut der Verfolger flohen und Bildung, Künste, Gewerbefleiß und Ordnungsliebe, in denen sie sich in der Regel auszeichneten, mit sich nahmen und damit das Land ihrer Zuflucht bereicherten. Und in dem Verhältnis, womit andere Länder mit diesen guten Gaben beglückt wurden, verarmte ihr eigenes Land durch Entziehung dieser Gaben. Wären alle, welche nun vertrieben wurden, in Frankreich geblieben, wäre die Geschicklichkeit dieser strebsamen Verbannten diese 300 Jahre auf die Bebauung des eigenen Bodens gerichtet gewesen, so wären ihre künstlerischen Anlagen während dieser langen Zeit dessen Gewerbewesen zugute gekommen; Ihr schöpferischer Geist und forschender Verstand hätte seine Literatur bereichert und seine Wissenschaften gepflegt, hätte ihre Weisheit seine Beratungen geleitet, ihre Tapferkeit seine Schlachten geschlagen, ihre Unparteilichkeit seine Gesetze aufgestellt, die Religion der Bibel den Geist gestärkt und das Gewissen des Volkes beherrscht - mit welcher Herrlichkeit würde Frankreich an diesem Tage umgeben sein! Welch ein großes, blühendes und glückliches Land, den Nationen ein Vorbild, würde es gewesen sein!
Aber eine blinde und unerbittliche Frömmelei jagte von seinem Boden einen jeden Lehrer der Tugend, einen jeden Kämpen der Ordnung, einen jeden ehrlichen Verteidiger des Thrones; sie sagte zu den Menschen, die ihr Land zu einem Ruhm und einer Herrlichkeit auf Erden machen wollten: Wählt, was ihr haben wollt, den Marterpfahl oder die Verbannung. Schließlich war das Verderben des Staates vollständig. Es blieb kein Gewissen mehr zu ächten, keine Religion auf den Scheiterhaufen zu schleppen, kein Patriotismus mehr, den man in die Verbannung hätte jagen können.“ (Wylie, 13. Buch, 20. Kap.) Die Revolution mit all ihren Schrecken war die entsetzliche Folge.
„Mit der Flucht der Hugenotten lagerte sich ein allgemeiner Verfall über Frankreich. Blühende Fabrikstädte gingen zugrunde, fruchtbare Strecken verfielen in ihre ursprüngliche Wildnis, geistiger Stumpfsinn und sittlicher Verfall folgten einer Zeit ungewöhnlichen Fortschrittes. Paris wurde ein ungeheures Armenhaus; man sagt, daß beim Ausbruch der Revolution 200000 Arme um Unterstützung von der Hand des Königs nachsuchten. Nur der Jesuitenorden blühte in der verfallenen Nation und herrschte mit fürchterlicher Willkür über Kirchen und Schulen, über Gefängnisse und Galeeren.“ (Wylie, 13. Buch, Kap. 20.)
Das Evangelium würde Frankreich die Lösung jener politischen und sozialen Fragen gebracht haben, welche die Geschicklichkeit seiner Geistlichkeit, seines Königs und seiner Gesetzgeber zuschanden machten und schließlich die Nation in Zuchtlosigkeit und Verderben stürzten. Doch unter der Herrschaft Roms hatte das Volk des Heilandes herrliche Lehren der Selbstaufopferung und selbstloser Liebe vergessen; man hatte es davon abgebracht, für das Wohl anderer Selbstverleugnung zu üben. Die Reichen wurden wegen ihrer Unterdrückung der Armen nicht gerügt, und diese blieben in ihrer Knechtschaft und Erniedrigung ohne Hilfe. Die Selbstsucht der Wohlhabenden und Mächtigen wurde nach und nach offenbarer und drückender. Jahrhundertelang hatte die Habgier und Ruchlosigkeit des Adels eine grausame Erpressung der Bauern zur Folge. Die Reichen übervorteilten die Armen, und die Armen haßten die Reichen.
In vielen Provinzen besaßen die Vornehmen das Land, und die arbeitenden Klassen waren nur Pächter, die von der Gnade der Gutsbesitzer abhingen und sich gezwungen sahen, ihren übermäßigen Forderungen nachzukommen. Die Last, die Kirche und den Staat zu unterhalten, ruhte auf den mittleren und niederen Klassen, die von den bürgerlichen Behörden und der Geistlichkeit schwer besteuert wurden. „Die Willkür des Adels galt als das höchste Gesetz; die Bauern und Landbewohner durften verhungern, ohne daß die Unterdrücker sich darum bekümmert hätten... Die Leute sahen sich bei jeder Wendung gezwungen, einzig und allein den Vorteil des Gutsbesitzers zu berücksichtigen. Das Leben der Landarbeiter war beständige Mühsal und ungelindertes Elend; ihre Klagen, falls sie es je wagten, solche vorzubringen, wurden mit beleidigender Verachtung abgewiesen. Die Gerichtshöfe schenkten einem Adligen stets vor einem Bauern Gehör. Bestechung der Richter wurde offenkundig betrieben, und die geringste Laune der Vornehmen hatte infolge dieser fortgesetzten allgemeinen Verderbtheit, Gesetzeskraft. Nicht einmal die Hälfte der den arbeitenden Klassen von den weltlichen Großen einerseits und der Geistlichkeit andererseits erpreßten Steuern gelangten in die königliche oder kirchliche Schatzkammer; alles andere wurde in ausgelassener Selbstbefriedigung verschleudert. Und die Leute, welche auf diese Weise ihre Mitmenschen arm machten, waren selbst aller Steuern enthoben und durch Gesetze oder Brauch zu allen Staatsämtern berechtigt. Zu den bevorzugten Klassen zählte man 150 000 Personen, und zur Befriedigung ihrer Leidenschaften wurden Millionen zu einem hoffnungslosen und herabwürdigenden Leben verdammt.“ (Siehe Anhang.)
Der Hof ergab sich der Üppigkeit und der Ausschweifung. Zwischen Herrschern und Untertanen bestand nur wenig Vertrauen. Der Verdacht heftete sich an alle Maßnahmen der Regierung, daß sie hinterlistig und selbstsüchtig seien. Mehr als ein halbes Jahrhundert vor der Revolutionszeit hatte Ludwig XV, der sich selbst in jenen bösen Zeiten als ein träger, leichtfertiger und sinnlicher Fürst auszeichnete, den Thron inne. Mit einem verderbten und grausamen Adel, einer verarmten und unwissenden unteren Klasse, der Staat in finanzieller Verlegenheit und das Volk erbittert, bedurfte es keines prophetischen Auges, um einen schrecklich drohenden Ausbruch vorauszusehen. Auf die Warnungen seiner Ratgeber erwiderte der König gewöhnlich: „Bestrebt euch, alles in Gang zu erhalten, solange ich leben mag; nach meinem Tode mag es kommen wie es will.“ Vergebens drang man auf die Notwendigkeit einer Reform. Er sah die Übel, hatte aber weder den Mut noch die Macht, ihnen zu begegnen. Das Schicksal, welches Frankreich bevorstand, wurde nur zu deutlich in seiner lässigen und selbstsüchtigen Antwort bezeichnet: „Nach mir die Sintflut.“
Durch Einwirken auf die Eifersucht der Könige und der herrschenden Klassen hatte Rom diese beeinflußt, das Volk in Knechtschaft zu halten, wohl wissend, daß der Staat dadurch geschwächt würde; und damit beabsichtigte es, sowohl die Herrscher als auch das Volk zu seinen Sklaven zu machen. Mit weitsehender Politik erkannte es, daß man, um die Menschen endgültig zu unterjochen, ihren Seelen Fesseln anlegen müßte; daß der sicherste Weg, ihr Entkommen aus der Knechtschaft zu verhindern, der sei, sie für die Freiheit untüchtig zu machen. Tausendmal schrecklicher als die körperlichen Leiden, welche aus ihrer Politik hervorgingen, war die sittliche Erniedrigung. Der Bibel beraubt, den Lehren der Scheinfrömmigkeit und der Selbstsucht preisgegeben, wurde das Volk in Unwissenheit und Aberglauben gefangen und in Laster versenkt, so daß es zur Selbstbeherrschung gänzlich untüchtig war.
Doch die Früchte waren weit verschieden von dem, was Rom angestrebt hatte. Anstatt die Massen in einer blinden Unterwürfigkeit unter seine Lehrsätze zu halten, machte es Gottesleugner und Staatsumwälzer aus ihnen. Den Romanismus verachteten sie als Pfaffentrug und betrachteten die Geistlichkeit als mitverantwortlich für ihre Unterdrückung. Der Gott Roms war ihr einziger Gott; Roms Lehre ihre einzige Religion. Sie betrachteten dessen Habgier und Grausamkeit als die eigentliche Frucht der Bibel, und wollten deshalb nichts von ihr wissen.
Rom hatte den Charakter Gottes falsch dargestellt und seine Forderungen verdreht, und nun verwarfen die Leute sowohl die Bibel als auch ihren Urheber. Unter vorgeblicher Gutheißung der Schrift hatte Rom einen blinden Glauben an seine Lehrsätze gefordert. Die Rückwirkung davon war, daß Voltaire und seine Mitgenossen das Wort Gottes gänzlich beiseite setzten und das Gift des Unglaubens überall verbreiteten. Rom hatte das Volk unter seiner eisernen Ferse, und nun brachen die entwürdigten und verrohten Massen als Erwiderung auf die Zwangsherrschaft alle Schranken nieder. In Wut über den gleißenden Betrug, dem sie so lange gehuldigt hatten, verwarfen sie Wahrheit und Irrtum zusammen, und indem sie die Zügellosigkeit für Freiheit hielten, jubelten die Sklaven des Lasters in ihrer vermeintlichen Freiheit.
Auf königliche Bewilligung hin wurde dem Volke bei der Eröffnung der Revolution eine Vertretung gewährt, welche die gemeinsame des Adels und der Geistlichkeit überwog. Somit hatte es das Übergewicht der Macht in seiner Hand, war aber nicht imstande, sie mit Weisheit oder Mäßigung zu benutzen. Eifrig bestrebt, das von ihm erlittene Unrecht zu ahnden, beschloß es die Wiedererneuerung der Gesellschaft zu unternehmen. Die schimpflich behandelten Volksmassen, deren Gemüter mit bitteren, seit langem angehäuften Erinnerungen an Ungerechtigkeiten erfüllt waren, faßten den Vorsatz, den Zustand des Elends, der unerträglich geworden war, umzugestalten und sich an denen zu rächen, die sie als Urheber ihrer Leiden betrachteten. Die Unterdrückten setzten die Lehre, welche sie unter der Gewaltherrschaft gelernt hatten, in die Tat um und wurden die Unterdrücker derer, die sie unterdrückt hatten.
Das unglückliche Frankreich heimste eine blutige Ernte der ausgestreuten Saat ein. Schrecklich waren die Folgen seiner Unterwerfung unter die überwiegende Macht Roms. Wo Frankreich unter dem Einfluß des Romanismus bei der Eröffnung der Reformation den ersten Scheiterhaufen aufgerichtet hatte, stellte die Revolution ihre erste Guillotine auf. Auf der nämlichen Stätte, wo die ersten Märtyrer des protestantischen Glaubens im 16. Jahrhundert verbrannt wurden, fielen die ersten Opfer der Revolution im 18. Jahrhundert unter der Guillotine. Indem Frankreich das Evangelium, das ihm Heilung hätte bringen können, verwarf, öffnete es dem Unglauben und dem Verderben die Tür. Als die Schranken des Gesetzes Gottes niedergeworfen waren, stellte es sich heraus, daß die menschlichen Gesetze unzulänglich waren, um die mächtige Flut menschlicher Leidenschaften zu hemmen; und die Nation erging sich in Empörung und Gesetzlosigkeit. Der Krieg gegen die Bibel führte eine Zeitspanne ein, welche in der Weltgeschichte als „die Schreckensherrschaft“ verzeichnet wird. Friede und Glück war aus den Wohnungen und den Herzen der Menschen verbannt. Keiner war sicher. Wer heute die Oberhand hatte, wurde morgen verdächtigt und verdammt. Gewalt und Wollust führten unbestritten das Zepter.
Der König, die Geistlichkeit und der Adel sahen sich gezwungen, sich der Grausamkeit eines aufgeregten und wütenden Volkes zu fügen. Der Rachedurst wurde durch die Hinrichtung des Königs nur noch gereizt, und die seinen Tod bestimmt hatten, folgten ihm bald aufs Schafott. Ein allgemeines Gemetzel aller, die der Revolution feindlich zu sein im Verdacht standen, wurde beschlossen. Die Gefängnisse waren überfüllt und bargen zu einer Zeit mehr als 200 000 Gefangene. Die Städte des Königreichs waren mit Schreckensvorgängen angefüllt. Eine revolutionäre Partei war gegen die andere, und Frankreich wurde ein ungeheurer Kampfplatz streitender Volksmassen, die sich von der Wut ihrer Leidenschaften beherrschen ließen. „In Paris folgte ein Aufstand dem anderen, und die Bürger waren in viele Parteien zersplittert, die es auf nichts anderes als ihre gegenseitige Ausrottung abgesehen zu haben schienen.“ Zur Vergrößerung des allgemeinen Elends wurde die Nation in einen langen verheerenden Krieg mit den Großmächten Europas verwickelt. „Das Land war beinahe bankrott, die Truppen schrien nach ihrem rückständigen Sold, die Pariser waren am Verhungern, die Provinzen wurden von Räubern verwüstet, und die Zivilisation ging beinahe unter in Aufruhr und Zügellosigkeit.“
Nur zu genau hatte das Volk die Lehren der Grausamkeit und der Folter gelernt, die Rom mit solchem Fleiß gelehrt hatte. Ein Tag der Wiedervergeltung war endlich gekommen. Nun waren es nicht mehr die Jünger Jesu, welche in Gefängnishöhlen geworfen und auf Scheiterhaufen geschleppt wurden; denn sie waren schon längst umgekommen oder in die Verbannung getrieben worden. Das schonungslose Rom fühlte jetzt die tödliche Macht derer, welche es ausgebildet hatte, sich an Bluttaten zu vergnügen. „Das Beispiel der Verfolgung, welches die französische Geistlichkeit so lange gegeben hatte, wurde ihr nun mit großer Heftigkeit vergolten. Schafotte färbten sich rot von dem Blut der Priester. Die Galeeren und Gefängnisse, die einst Hugenotten bargen, wurden jetzt mit deren Verfolgern angefüllt. An die Ruderbank gekettet und mühsam am Riemen ziehend, machte die katholische Geistlichkeit alle Qualen durch, welche sie so reichlich über die friedliebenden Ketzer gebracht hatte.“ (Siehe Anhang.)
„Dann kamen jene Tage, da die grausamsten aller Gesetze von dem unmenschlichsten aller Gerichtshöfe gehandhabt wurden; da niemand seinen Nachbar grüßen oder sein Gebet verrichten konnte ... ohne Gefahr zu laufen, ein Todesverbrechen zu begehen, da in jedem Winkel Spione lauerten, allmorgendlich die Guillotine lange und schwer arbeitete, die Gefängnisse so gedrängt voll waren wie die Räume eines Sklavenschiffes, da in den Straßenrinnen das Blut schäumend der Seine zueilte.... Während täglich Wagenladungen mit Opfern durch die Straßen von Paris ihrem Schicksal entgegen geführt wurden, schwelgten die Statthalter, welche der Oberausschuß in die Provinzen gesandt hatte, in übermäßiger Grausamkeit, wie man sie selbst in der Hauptstadt nicht kannte. Das Messer der Todesmaschine stieg und fiel zu langsam für das Werk der Metzelei. Lange Reihen von Gefangenen mähte man mit Kartätschen nieder. Besetzte Boote wurden angebohrt. Lyon wurde zur Wüste. In Arras wurde den Gefangenen selbst die grausame Barmherzigkeit eines schnellen Todes versagt. Die ganze Loire hinab, von Saumur bis zum Meer, fraßen Scharen von Krähen und Weihen an den nackten Leichnamen, die in abscheulichen Umarmungen miteinander verschlungen waren. Weder dem Geschlecht noch dem Alter erwies man Barmherzigkeit. Die Anzahl junger Knaben und Mädchen von siebzehn Jahren, welche von dieser fluchwürdigen Regierung ermordet wurden, läßt sich nach Hunderten berechnen. Der Brust entrissene Säuglinge wurden von Spieß zu Spieß die Reihen der Jakobiner entlang geworfen.“ (Siehe Anhang.) In dem kurzen Zeitraum von zehn Jahren kamen Scharen menschlicher Wesen um.
All dies war nach Satans Sinn; dies zu erreichen hatte er seit Jahrhunderten sich bestrebt. Sein Plan beruhte vom Anfang bis zum Ende auf Täuschung, und sein unverwandter Vorsatz ist, Leid und Elend über die Menschen zu bringen, Gottes Werke zu entstellen und zu beflecken, den göttlichen Zweck der Liebe und des Wohlwollens zu vereiteln und dadurch Trauer im Himmel zu verursachen. Dann verblendet er durch seine täuschenden Künste die Sinne der Menschen und verleitet sie, den Tadel, der sein Wirken trifft, auf Gott zu werfen, als ob alles Elend die Folge von dem Plan des Schöpfers sei. Auf gleiche Weise treibt er alle, welche durch seine grausame Macht in einen versunkenen und verwilderten Zustand geraten sind, wenn sie ihre Freiheit erringen, zu allerlei Ausschreitungen und Greueltaten an, und dann verweisen grausame und gewissenlose Zwingherren auf dies Bild zügelloser Ausgelassenheit als ein Beispiel der Folgen der Freiheit.
Wird der Irrtum in einem Gewand entdeckt, so verhüllt Satan ihn einfach in eine andere Maske, und die Menge nimmt ihn ebenso gierig an wie zuerst. Als das Volk fand, daß der Romanismus eine Täuschung war, als Satan es nicht durch dies Mittel zur Übertretung des Gesetzes Gottes bringen konnte, bestand er darauf, alle Religion als einen Betrug und die Bibel als ein Märchen hinzustellen; und als das Volk die göttlichen Vorschriften beiseite setzte, gab es sich der ungezügelten Gesetzlosigkeit hin.
Der verderbliche Irrtum, der solches Wehe über die Einwohner Frankreichs brachte, war die Verachtung der einen großen Wahrheit, daß die wahre Freiheit innerhalb der Schranken des Gesetzes Gottes liegt. „O daß du auf meine Gebote merktest, so würde dein Friede sein wie ein Wasserstrom, und deine Gerechtigkeit wie Meereswellen.“ „Aber die Gottlosen, spricht der Herr, haben keinen Frieden.“ „Wer aber mir gehorcht, wird sicher bleiben und genug haben und kein Unglück fürchten.“ (Jes. 48, 18. 22; Spr. 1, 33.)
Gottesleugner, Ungläubige und Abtrünnige setzen sich wider Gottes Gesetz und verwerfen es; aber die Folgen ihres Einflusses beweisen, daß die Wohlfahrt des Menschen mit dem Gehorsam gegen die göttlichen Verordnungen verbunden ist. Wer die Lehre nicht aus dem Buche Gottes lesen will, muß sie in der Geschichte der Nationen lesen.
Als Satan durch die römische Kirche es erstrebte, die Menschen von dem Gehorsam abzubringen, war seine Tätigkeit derart verborgen und sein Wirken so verstellt, daß die Entartung und das Elend, die daraus entstanden, nicht als Früchte der Übertretung erkannt wurden; aber das Wirken des Geistes Gottes vereitelte soweit seine Macht, daß seine Absichten nicht zur vollen Reife gelangten. Das Volk ging den Wirkungen nicht auf den Grund und entdeckte die Quelle seines Elends nicht. Doch in der Revolution wurde das Gesetz Gottes von der Nationalversammlung öffentlich beiseite gesetzt, und in der darauf folgenden Schreckensherrschaft konnten alle den wahren Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung deutlich erkennen.
Als Frankreich öffentlich Gott verleugnete und die Bibel beiseite setzte, frohlockten böse Menschen und Geister der Finsternis, daß sie das so lang erwünschte Ziel, nämlich ein Reich von den Schranken des Gesetzes Gottes befreit, erreicht hatten. „Weil nicht bald geschieht ein Urteil über die bösen Werke, dadurch wird das Herz der Menschen voll, Böses zu tun.“ (Pred. 8, 11-13.) Aber die Übertretung eines gerechten und heiligen Gesetzes muß unvermeidlich in Elend und Verderben enden. Wenn auch nicht sofort von Gerichten heimgesucht, so bewirkt doch die Gottlosigkeit der Menschen ihr sicheres Verderben. Jahrhunderte des Abfalls und des Verbrechens hatten den Zorn auf den Tag der Vergeltung angehäuft, und als das Maß ihrer Ungerechtigkeit voll war, erfuhren die Verächter Gottes zu spät, daß es etwas Schreckliches ist, die göttliche Geduld verwirkt zu haben. Der zügelnde Geist Gottes, der der grausamen Macht Satans Schranken setzt, wurde zu einem hohen Grade entzogen, und er, dessen einzige Freude das Elend der Menschen ist, durfte nach seinem Willen handeln. Alle, welche sich dem Aufruhr ergaben, mußten dessen Früchte einheimsen, bis das Land voll von Verbrechen war, die jeder Beschreibung spotten. Aus den verwüsteten Provinzen und zerstörten Städten stieg ein schrecklicher Schrei auf - ein Schrei der bittersten Angst. Frankreich wurde wie durch ein Erdbeben erschüttert. Religion, Gesetz, gesellschaftliche Ordnung, Familie, Staat und Kirche - alle wurden von der ruchlosen Hand niedergestreckt, die sich gegen das Gesetz Gottes erhoben hatte. Wahr ist das Wort des weisen Mannes: „Der Gottlose wird fallen durch sein gottlos Wesen.“ (Spr. 11, 5.) „Ob ein Sünder hundertmal Böses tut und lange lebt, so weiß ich doch, daß es wohlgehen wird denen, die Gott fürchten, die sein Angesicht scheuen. Aber dem Gottlosen wird es nicht wohlgehen.“ „Darum, daß sie haßten die Lehre und wollten des Herrn Furcht nicht haben,“ „so sollen sie essen von den Früchten ihres Wesens und ihres Rats satt werden.“ (Pred. 8, 12.13; Spr. 1, 29.31.)
Gottes treue Zeugen, die durch die lästerliche Macht, welche „aus dem Abgrund aufsteigt,“ erschlagen wurden, sollten nicht lange schweigen. „Nach drei Tagen und einem halben fuhr in sie der Geist des Lebens von Gott, und sie traten auf ihre Füße; und eine große Furcht fiel über die, so sie sahen.“ (Offb. 11, 11.) Es war im Jahre 1793, als die Erlasse, welche die christliche Religion abschafften und die Bibel verboten, von der französischen Nationalversammlung genehmigt wurden. Dreiundeinhalb Jahre später wurde ein Beschluß, welcher diese Erlasse widerrief und somit der Heiligen Schrift Duldung gewährte, von der nämlichen Behörde angenommen. Die Welt war über die ungeheure Schuld, welche aus einer Verwerfung des lebendigen Wortes Gottes hervorgegangen war, bestürzt, und die Menschen erkannten die Notwendigkeit des Glaubens an Gott und sein Wort als die Grundlage von Tugend und Sittlichkeit. Der Herr sagte: „Wen hast du geschmäht und gelästert? Über wen hast du die Stimme erhoben? Du hebst deine Augen empor wider den Heiligen in Israel.“ „Darum siehe, nun will ich sie lehren und meine Hand und Gewalt ihnen kundtun, daß sie erfahren sollen, ich heiße der Herr.“ (Jes. 37, 23; Jer . 16, 21.)
Über die zwei Zeugen sagt der Prophet ferner: „Und sie hörten eine große Stimme vom Himmel zu ihnen sagen: Steiget, herauf! Und sie stiegen auf in den Himmel in einer Wolke, und es sahen sie ihre Feinde.“ (Offb. 11, 12.) Seit Frankreich gegen die beiden Zeugen Gottes Krieg geführt hat, sind sie wie nie zuvor geehrt worden. Im Jahre 1804 wurde die Britische und Ausländische Bibelgesellschaft gegründet. Darauf folgten ähnliche Organisationen mit zahlreichen Verzweigungen auf dem europäischen Festland. Im Jahre 1816 trat die Amerikanische Bibelgesellschaft ins Dasein. Zur Zeit der Organisation der britischen Gesellschaft war die Bibel in 50 Sprachen gedruckt und verbreitet worden. Seitdem ist sie in mehr als 400 Sprachen und Mundarten übersetzt worden. (Siehe Anhang.)
Während der 50 Jahre, die dem Jahre 1792 vorausgingen, wurde dem ausländischen Missionswerk nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Es traten keine neuen Gesellschaften ins Leben, und es gab nur wenige Gemeinschaften, die sich irgendwie bemühten, das Christentum in heidnischen Ländern zu verbreiten. Doch gegen Ende des 18. Jahrhunderts fand eine große Veränderung statt. Man wurde unzufrieden mit den Folgen des Vernunftglaubens und erkannte die Notwendigkeit einer göttlichen Offenbarung und einer Erfahrungsreligion. Von dieser Zeit an wuchs das Werk der ausländischen Missionen mit nie dagewesener Schnelligkeit. (Siehe Anhang.)
Die Verbesserungen in der Buchdruckerkunst haben der Verbreitung der Bibel einen neuen Antrieb gegeben. Die zahlreichen Erleichterungen des Verkehrs zwischen verschiedenen Ländern, der Zusammenbruch alter Hindernisse des Vorurteils und nationaler Abgeschlossenheit und der Verlust weltlicher Macht seitens des Papstes von Rom haben den Weg für den Eingang des Wortes Gottes gebahnt. Schon seit Jahren ist die Bibel ohne irgendwelche Hindernisse auf den Straßen Roms verkauft und jetzt auch nach allen Teilen der bewohnten Erdkugel getragen worden.
Prahlend sagte einst der ungläubige Voltaire: „Ich habe es satt, die Leute wiederholen zu hören, daß zwölf Männer die christliche Religion gegründet haben. Ich will beweisen, daß ein Mann genügt, sie umzustoßen.“ Ein Jahrhundert ist seit seinem Tode verstrichen. Millionen haben sich dem Kampf gegen die Bibel angeschlossen. Aber anstatt ausgerottet worden zu sein, gibt es da, wo in Voltaires Zeit hundert waren, nun zehntausend, ja hunderttausend Exemplare des Gottesbuches. Die Worte eines der ersten Reformatoren über die christliche Kirche lauten: „Die Bibel ist ein Amboß, der viele Hämmer abgenutzt hat.“ Der Herr sagt: „Einer jeglichen Waffe, die wider dich zubereitet wird, soll es nicht gelingen; und alle Zunge, so sich wider dich setzt, sollst du im Gericht verdammen.“ (Jes. 54, 17.)
„Das Wort unseres Gottes bleibt ewiglich.“ „Alle seine Gebote sind rechtschaffen. Sie werden erhalten immer und ewiglich und geschehen treulich und redlich.“ (Jes. 40, 8; Ps. 111 7.8.) Was auf menschliche Macht aufgebaut wird, wird umgestoßen; was aber den Felsen des unveränderlichen Wortes Gottes als Grundlage hat, wird ewiglich bestehen.


 
KAPITEL 16

EIN ZUFLUCHTSORT

Die englischen Reformatoren hatten, während sie den Lehren des Romanismus entsagten, viele seiner Formen beibehalten. Auf diese Weise wurden, wenn auch der Anspruch und das Glaubensbekenntnis Roms verworfen war, dem Gottesdienst der Kirche Englands viele seiner Gebräuche und Formen einverleibt. Man behauptete, daß diese Dinge keine Gewissenssachen seien, weil sie in der Heiligen Schrift nicht geboten, deshalb auch nicht wesentlich, und weil sie nicht verboten, auch eigentlich nicht unrecht seien. Ihre Beobachtung diene dazu, die Kluft, welche die protestantischen Kirchen von Rom trenne, geringer zu machen; und man betonte, daß sie die Annahme des protestantischen Glaubens seitens der Anhänger Roms erleichtern würde.
Den am Bestehenden Haftenden und den zur Verträglichkeit geneigten schienen die Gründe folgerichtig zu sein. Es gab jedoch noch eine andere Klasse, die nicht so urteilte. Die Tatsache, daß diese Gebräuche „dahin zielten, die Kluft zwischen Rom und der Reformation zu überbrücken,“ (Martyn, 5. Bd., S. 22.) war in ihren Augen ein endgültiger Beweisgrund gegen ihre Beibehaltung. Sie sahen sie als Abzeichen der Sklaverei an, von welcher sie befreit worden waren, und zu welcher sie nicht zurückkehren wollten. Sie waren der Ansicht, daß Gott die Verordnungen zu seiner Verehrung in seinem Worte niedergelegt habe, und daß es den Menschen nicht freistehe, dazu hinzuzufügen oder davon wegzunehmen. Der allererste Anfang des großen Abfalls bestand darin, daß man suchte, die Autorität Gottes durch die der Kirche zu ergänzen. Rom fing an zu verordnen, was Gott nicht verboten hatte, und kam schließlich dahin, das zu verbieten, was Gott ausdrücklich befohlen hatte.
Viele wünschten ernstlich zu der Reinheit und Einfachheit zurückzukehren, welche die erste Gemeinde kennzeichnete. Sie betrachteten viele der in der englischen Kirche eingeführten Gebräuche als Denkmäler des Götzendienstes und konnten sich nicht mit gutem Gewissen an ihrem Gottesdienst beteiligen. Die Kirche jedoch, unterstützt von der staatlichen Macht, gestattete keine Abweichung von ihren Formen. Der Besuch ihrer Gottesdienste wurde von dem Gesetz verlangt, und unerlaubte religiöse Versammlungen waren bei Verbannung und Todesstrafe untersagt.
Am Anfang des 17. Jahrhunderts erklärte sich der soeben zum Thron gelangte König von England entschlossen, die Puritaner zu zwingen, sich „entweder den anderen anzupassen, oder er würde sie aus dem Lande hinaushetzen oder ihnen noch Schlimmeres tun.“ (Pancroft, Gesch. d. Ver. St., 1. Teil, 12. Kap., 6. Abschn.) Gejagt, verfolgt und eingekerkert konnten sie in der Zukunft keine Hoffnung auf bessere Tage erspähen, und viele wurden überzeugt, daß für solche, welche Gott der Stimme ihres eigenen Gewissens gemäß dienen wollten, „England für immer aufgehört habe, ein bewohnbares Land zu sein.“ (Palfrey, Gesch. Neuenglands, 3. Kap., 43. Abschn.) Etliche entschlossen sich zuletzt, in Holland Zuflucht zu suchen. Sie mußten Schwierigkeiten, Verluste und Gefängnis erleiden; ihre Absichten wurden durchkreuzt, und sie selbst in die Hände ihrer Feinde verraten; aber die standhafte Ausdauer siegte schließlich und sie fanden Unterkunft an der freundschaftlichen Küste der holländischen Republik.
Durch die Flucht hatten sie ihre Häuser, ihre Güter und ihren Lebensunterhalt verloren; sie waren Fremdlinge in einem fremden Land, unter einem Volk von anderer Sprache und anderen Sitten. Sie waren genötigt, neue und ungewohnte Beschäftigungen zu ergreifen, um ihr Brot zu verdienen. Männer von mittlerem Alter, die ihr Leben mit Ackerbau zugebracht hatten, mußten nun dies oder jenes Handwerk erlernen. Aber freudig fügten sie sich in jede Lage und verloren keine Zeit durch Müßiggang oder Unzufriedenheit. Oft mit Armut kämpfend, lobten sie doch Gott für die Segnungen, die er ihnen gewährte, und fanden ihre Freude in der unbelästigten geistlichen Gemeinschaft. „Sie wußten, daß sie Pilger waren und schauten nicht viel auf irdische Dinge, sondern hoben ihre Augen auf gen Himmel, ihr liebstes Heimatland, und beruhigten ihr Gemüt. (Bancroft, 1. T., 12. Kap., 15. Abschn.)
In Verbannung und Ungemach erstarkte ihre Liebe und ihr Glaube. Sie vertrauten auf die Verheißungen Gottes, und er verließ sie nicht in Zeiten der Not. Seine Engel standen ihnen zur Seite, um sie zu ermutigen und zu unterstützen. Und als Gottes Hand sie übers Meer zu weisen schien nach einem Lande, wo sie für sich selbst einen Staat gründen und ihren Kindern das kostbare Erbe religiöser Freiheit hinterlassen konnten, folgten sie ohne Zagen dem Pfad der Vorsehung.
Gott hatte Prüfungen über sein Volk kommen lassen, um es auf die Erfüllung seiner Gnadenabsichten für die Seinen vorzubereiten. Die Gemeinde war erniedrigt worden, auf daß sie erhöht werde. Gott war im Begriff, seine Macht zu ihren Gunsten zu entfalten und der Welt aufs neue einen Beweis zu geben, daß er die nicht verlassen will, die ihm vertrauen. Er hatte die Ereignisse so gelenkt, daß der Zorn Satans und die Anschläge böser Menschen seine Ehre fördern und sein Volk an einen Ort der Sicherheit bringen mußten. Verfolgung und Verbannung bahnten den Weg zur Freiheit.
Als sich die Puritaner zuerst gezwungen fühlten, sich von der englischen Kirche zu trennen, schlossen sie unter sich einen feierlichen Bund, als freies Volk des Herrn in „allen seinen Wegen, die ihnen bekannt waren oder noch bekannt gemacht würden, gemeinsam zu wandeln.“ (Brown, Pilgerväter, S. 74.) Dies war der wahre Geist der Freiheit, die lebendige Grundlage des Protestantismus. Mit diesem Vorsatz verließen die Pilger Holland, um in der neuen Welt eine Heimat zu suchen. John Robinson, ihr Prediger, der verhindert war, sie zu begleiten, sagte in seiner Abschiedsrede an die Verbannten:
„Geschwister, wir werden nun voneinander gehen, und der Herr weiß, ob ich leben werde, um je eure Angesichter wiederzusehen. Wie der Herr es aber verfügt, ich befehle euch vor Gott und seinen heiligen Engeln,. mir nicht weiter zu folgen, als ich Christo gefolgt bin. Falls Gott euch durch ein anderes Werkzeug irgend etwas offenbaren sollte, so seid ebenso bereit es anzunehmen, wie zur Zeit, da ihr die Wahrheit durch mein Predigtamt annahmt; denn ich bin sehr zuversichtlich, daß der Herr noch mehr Wahrheit und Licht aus seinem heiligen Wort hervorbrechen lassen wird.“ (Martyn, 5. Bd., S. 70 f.)
„Was mich anbetrifft, so kann ich den Zustand der reformierten Kirchen nicht genug beklagen, die in der Religion bis zu einer gewissen Stufe gelangt sind und nicht weitergehen wollen als die Werkzeuge ihrer Reformation gegangen sind. Die Lutheraner können nicht veranlaßt werden, weiterzugehen als das, was Luther sah; ... und die Kalvinisten, seht ihr, bleiben da stecken, wo sie von jenem großen Gottesmann, der noch nicht alle Dinge sah, gelassen wurden. Dies ist ein sehr beklagenswertes Elend; denn wenn jene Männer auch in ihrer Zeit brennende und scheinende Lichter waren, so erfaßten sie doch nicht alle Ratschläge Gottes; sie würden aber, wenn sie jetzt lebten, ebenso bereit sein, weiteres Licht anzunehmen, wie sie damals waren, das erste zu empfangen.“ (Neal, Gesch. d. Puritaner, 1. Bd., S. 269.)
„Gedenkt eures Gemeindegelöbnisses, in welchem ihr euch verpflichtet habt, in allen Wegen des Herrn zu wandeln, wie sie euch bekannt geworden sind oder noch bekannt werden. Denkt an euer Versprechen und euren Bund mit Gott und miteinander, jegliches Licht und alle Wahrheit, so euch noch aus seinem geschriebenen Worte kundgetan werden soll, anzunehmen. Dennoch habt acht, ich bitte euch, was ihr als Wahrheit annehmt; vergleicht es, wägt es mit andern Schriftstellen der Wahrheit, ehe ihr es annehmt, denn es ist nicht möglich, daß die christliche Welt so spät aus solch einer dichten antichristlichen Finsternis herauskomme und ihr dann auf einmal die vollkommene Erkenntnis aufgehe.“ (Martyn, ebd.)
Es war das Verlangen nach Gewissensfreiheit, welches die Pilger begeisterte, den Schwierigkeiten der langen Reise über das Meer mit Mut entgegenzutreten, die Beschwerden und die Gefahren der Wildnis zu erdulden und unter Gottes Segen an der Küste Amerikas den Grund zu einer mächtigen Nation zu legen. Doch konnten die Pilger, so aufrichtig und gottesfürchtig sie auch waren, noch nicht den großen Grundsatz religiöser Duldung begreifen. Die Freiheit, die für sich zu erwerben sie so viel geopfert hatten, gewährten sie andern nicht bereitwillig in gleichem Maße. „Sehr wenige selbst der hervorragendsten Denker und Sittenlehrer des 17. Jahrhunderts hatten einen richtigen Begriff von jenem herrlichen, dem Neuen Testament entstammenden Grundsatz, der Gott als den einzigen Richter des menschlichen Glaubens anerkennt.“ (Martyn, S. 297.) Die Lehre, daß Gott der Gemeinde das Recht, die Gewissen zu beherrschen und Ketzerei zu bezeichnen und zu strafen, verliehen habe, ist ein päpstlicher Irrtum, der sehr tief eingewurzelt ist. Während die Reformatoren das Glaubensbekenntnis Roms verwarfen, waren sie nicht gänzlich frei von seinem Geist der Unduldsamkeit. Die dichte Finsternis, worein während der langen Zeit seiner Herrschaft das Papsttum die gesamte Christenheit gehüllt hatte, war selbst jetzt noch nicht gänzlich gewichen. Einer der leitenden Prediger in der Ansiedlung der Massachusetts-Bai sagte: „Duldung machte die Welt antichristlich; und die Kirche hat sich durch die Bestrafung der Ketzer nie Schaden zugezogen.“ (Ebd., S. 335.) Die Verordnung wurde in den Kolonien eingeführt, daß in der bürgerlichen Regierung nur Kirchenglieder eine Stimme haben sollten. Es wurde eine Art Staatskirche gegründet; jedermann mußte zum Unterhalt der Geistlichkeit beitragen, und die Behörden wurden beauftragt, die Ketzerei zu unterdrücken. Somit war die weltliche Macht in den Händen der Kirche. Es dauerte nicht lange, bis diese Maßnahmen zu der unausbleiblichen Folge - Verfolgung - führten.
Elf Jahre nach der Gründung der ersten Kolonie kam Roger Williams nach der Neuen Welt. Gleich den früheren Pilgervätern kam er, um sich der Religionsfreiheit zu erfreuen; aber unterschiedlich von ihnen sah er - was so wenige seiner Zeit noch gesehen hatten -, daß diese Freiheit das unveräußerliche Recht aller war, wie ihr Glaubensbekenntnis auch lauten mochte. Er war ein ernster Forscher nach Wahrheit und hielt es mit Robinson für unmöglich, daß alles Licht aus dem Worte Gottes schon erhalten worden sei. Williams „war der erste Mann im neueren Christentum, der die bürgerliche Regierung auf die Lehre von der Gewissensfreiheit und der Gleichberechtigung der Meinungen vor dem Gesetz gründete.“ (Bancroft, 1. T., 15. Kap., 16. Abschn.) Er erklärte, daß es die Pflicht der Behörde sei, Verbrechen zu unterdrücken, daß sie aber nie das Gewissen beherrschen dürfe. „Das Volk oder die Behörden,“ sagte er, „mögen entscheiden, was der Mensch dem Menschen schuldig ist; versuchen sie aber, einem Menschen seine Pflicht gegen Gott vorzuschreiben, so tun sie, was nicht ihres Amtes ist, und man kann sich nicht mit Sicherheit auf sie verlassen; denn es ist klar, daß der Magistrat, wenn er die Macht hat, heute diese und morgen jene Meinungen oder Bekenntnisse vorschreiben mag, wie es in England von den verschiedenen Königen und Königinnen und in der römischen Kirche von etlichen Päpsten und Konzilien getan worden ist, so daß der Glaube ein Haufen Wirrwarr würde.“ (Martyn, 5. Bd., S. 340.)
Den Gottesdiensten der Staatskirche beizuwohnen wurde unter Geld- und Gefängnisstrafe verlangt. „Williams mißbilligte dies Gesetz, denn es sei die schlimmste Satzung im englischen Gesetzbuch, welche den Besuch der Landeskirche verlange. Leute zu zwingen, sich mit Andersgläubigen zu vereinen, erachtete er als eine offene Verletzung ihrer natürlichen Rechte; Religionsverächter und Unwillige zum öffentlichen Gottesdienst zu schleppen, hieße Heuchelei verlangen. ... ’Niemand sollte zur Anbetung oder zur Unterstützung eines Gottesdienstes gegen seine Zustimmung gezwungen werden.’ -’Was!’ Riefen seine Gegner aus, erstaunt über seine Grundsätze, ’ist nicht der Arbeiter seines Lohnes wert?’ ’Ja,’ erwiderte er, ’von denen, die ihn dingen’“. (Bancroft, ebd., 2. Abschn.)
Roger Williams wurde als ein getreuer Prediger, ein Mann von seltenen Gaben, von unbeugsamer Rechtschaffenheit und wahrem Wohlwollen geachtet und geliebt; doch konnte man es nicht vertragen, daß er so entschieden den bürgerlichen Behörden das Recht absprach, Macht über die Kirche zu haben, und daß er religiöse Freiheit verlangte. Die Ausführung dieser neuen Lehre, behauptete man, „würde die Grundlage der Regierung des Landes verkehren.“ (Bancroft, ebd., 10. Abschn.) Er wurde aus den Kolonien verbannt und sah sich schließlich, um der Verhaftung zu entgehen, gezwungen, inmitten der Kälte und den Stürmen des Winters in den Urwald zu fliehen.
„Vierzehn Wochen lang,“ so schrieb er, „mußte ich mich in der bitteren Jahreszeit herumschlagen, nicht wissend, was Brot oder Bett heißt. Die Raben speisten mich in der Wüste.“ Ein hohler Baum diente ihm oft als Obdach. (Martyn, 5. Bd., S. 349 f.) Auf diese Weise setzte er seine schmerzvolle Flucht durch den Schnee und den pfadlosen Wald fort, bis er Zuflucht fand bei einem Indianerstamm, dessen Zutrauen und Liebe er gewann, während er sich bestrebte, ihnen die Wahrheiten des Evangeliums zu predigen.
Nach Monaten wechselvollen Wanderns kam er schließlich nach der Küste der Narragansett-Bai und legte daselbst den Grund des ersten Staates der Neuzeit, welcher im vollsten Sinne das Recht religiöser Freiheit anerkannte. Der Grundsatz, auf welchem die Kolonie des Roger Williams beruhte, war, „daß jedermann das Recht haben sollte, Gott nach den Vorschriften seines eigenen Gewissens zu verehren.“ (s. vorige Anm.) Sein kleiner Staat, Rhode Island, wurde der Zufluchtsort der Unterdrückten, und er nahm zu und gedieh, bis die ihm unterliegenden Grundsätze - bürgerliche und religiöse Freiheit - die Ecksteine der amerikanischen Republik wurden.
In jenem bedeutenden alten Schriftstück, welches diese Männer als ihre Verfassungsbestimmung - die Unabhängigkeitserklärung - aufstellten, sagten sie: „Wir halten diese Wahrheiten als selbstverständlich: daß alle Menschen gleich geschaffen sind; daß ihnen der Schöpfer gewisse, unveräußerliche Rechte verliehen hat; daß zu diesen Leben, Freiheit und Erlangung des Glückes gehören.“ Und die Verfassung sichert in den deutlichsten Ausdrücken die Unverletzlichkeit des Gewissens zu: „Keine religiöse Prüfung soll je erforderlich sein zur Bekleidung irgendeines öffentlichen Vertrauenspostens in den Ver. Staaten.“ „Der Kongreß soll kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Religion bezweckt oder deren freie Ausübung verbietet.“
„Die Verfasser der Konstitution anerkannten den ewigen Grundsatz, daß die Beziehungen des Menschen zu seinem Gott über der menschlichen Gesetzgebung stehen, und daß sein Gewissensrecht unveräußerlich ist. Es waren zur Begründung dieser Wahrheit keine Vernunftschlüsse erforderlich; wir sind uns ihrer in unserem eigenen Herzen bewußt. Dies Bewußtsein ist es, welches, den menschlichen Gesetzen Trotz bietend, so viele Märtyrer in Qualen und Flammen standhaft machte. Sie fühlten, daß ihre Pflicht gegen Gott über menschlichen Verordnungen erhaben sei, und daß der Mensch keine Autorität über ihre Gewissen ausüben könne. Es ist dies, ein angeborener Grundsatz, den nichts auszutilgen vermag.“ (Kongreßurkunden der Ver. St., Serien-Nr. 200, Urk. 271.)
Als sich die Kunde von einem Land, wo jedermann die Frucht seiner eigenen Arbeit genießen und den Überzeugungen seines eigenen Gewissens folgen könnte, in den Ländern Europas verbreitete, strömten Tausende nach den Gestaden der Neuen Welt. Die Kolonien vermehrten sich rasch. „Massachusetts bot durch eine besondere Verordnung den Christen jeder Nation, die sich über den Atlantischen Ozean flüchteten, ’um Kriegen, Hungersnot oder der Unterdrückung ihrer Verfolger zu entgehen,’ eine freundliche, unentgeltliche Aufnahme und Hilfe an. Somit wurden die Flüchtlinge und die Niedergetretenen durch gesetzliche Verordnungen Gäste des Staates.“ (Martyn, 5. Bd., S. 417.) In zwanzig Jahren seit der ersten Landung zu Plymouth hatten sich ebenso viele tausend Pilger in Neuengland niedergelassen.
Um das Erwünschte zu erlangen, „waren sie zufrieden, sich durch ein enthaltsames und arbeitsames Leben einen kargen Unterhalt verdienen zu können. Sie verlangten von dem Boden nur einen leidlichen Ertrag ihrer Arbeit. Keine goldenen Aussichten warfen ihren trügerischen Schein auf ihren Pfad. ... Sie waren mit dem langsamen aber beständigen Fortschritt ihres gesellschaftlichen Gemeinwesens zufrieden. Sie hielten die Entbehrungen der Wildnis geduldig aus, bewässerten den Freiheitsbaum mit ihren Tränen und mit dem Schweiß ihres Angesichts, bis er tiefe Wurzel im Lande geschlagen hatte.“
Die Bibel galt als die Grundlage ihres Glaubens, die Quelle der Weisheit und als Freiheitsbrief. Ihre Grundsätze wurden zu Hause, in der Schule und in der Kirche fleißig gelehrt, und ihre Früchte offenbarten sich in Wohlstand, Bildung, sittlicher Reinheit und Enthaltsamkeit. Man konnte jahrelang in den puritanischen Niederlassungen wohnen, ohne „einen Trunkenbold zu sehen, einen Fluch zu hören oder einem Bettler zu begegnen.“ (Bancroft, 1. T., 19. Kap. 25. Abschn.) Der Beweis wurde geliefert, daß die Grundsätze der Bibel die sichersten Schutzmittel der nationalen Größe sind. Die schwachen und abgesonderten Kolonien wuchsen zu einer Verbindung mächtiger Staaten heran, und die Welt nahm mit Bewunderung den Frieden und das Gedeihen „einer Kirche ohne Papst und eines Staates ohne König“ wahr.
Doch beständig sich vermehrende Scharen, angetrieben von Beweggründen, welche von denen der ersten Pilgerväter weit verschieden waren, wurden zu den Gestaden Amerikas hingezogen. Obgleich der einfache Glaube und der lautere Wandel eine weitverbreitete und bildende Macht ausübten, wurde deren Einfluß doch schwächer und schwächer, als die Zahl derer wuchs, die nur weltlichen Vorteil suchten.
Die von den ersten Kolonisten angenommene Verordnung, das Stimmrecht und das Innehalten von Staatsämtern nur Gemeindegliedern zu gestatten, brachte höchst schädliche Folgen. Diese Maßregel war eingeführt worden als ein Mittel, die Reinheit des Staates zu bewahren; aber sie wurde der Kirche zum Verderben. Da ein Religionsbekenntnis die Bedingung war, um das Stimmrecht zu erhalten und zu öffentlichen Ämtern zugelassen zu werden, schlossen sich viele einzig und allein aus weltlicher Klugheit der Kirche an, ohne eine Herzensveränderung erfahren zu haben. So kam es, daß die Kirchen zum großen Teil aus unbekehrten Leuten bestanden, und selbst unter den Predigern waren solche, die nicht nur irrige Lehren aufstellten, sondern auch nichts wußten von der erneuernden Kraft des Heiligen Geistes. Auf diese Weise zeigte es sich wiederum, wie so oft in der Kirchengeschichte seit den Tagen Konstantins bis auf unsere Zeit, wie verderblich es ist, die Kirche mit Hilfe des Staates aufbauen zu wollen und die weltliche Macht aufzufordern, das Evangelium dessen zu unterstützen, der erklärt hat: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ (Joh. 18, 36.) Die Verbindung der Kirche mit dem Staat, und wäre sie noch so gering, führt, während sie die Weit näher zur Kirche zu bringen scheint, in Wirklichkeit die Kirche näher zur Welt.
Der von Robinson und Roger Williams auf so edle Weise verteidigte Grundsatz, daß die Wahrheit fortschreitet, und daß die Christen bereit sein sollten, alles Licht, welches aus Gottes heiligem Wort scheinen mag, anzunehmen, wurde von ihren Nachkommen aus den Augen verloren. Die protestantischen Kirchen Amerikas und auch Europas, die so sehr begünstigt worden waren, die Segnungen der Reformation zu erhalten, drangen auf dem Pfad der Reform nicht vorwärts. Wenn auch von Zeit zu Zeit etliche treue Männer auftraten, um neue Wahrheiten zu verkündigen und lang gehegte Irrtümer bloßzustellen, so war doch die Mehrzahl, wie die Juden in den Tagen Christi oder die Päpstlichen zur Zeit Luthers, damit zufrieden, zu glauben, was ihre Väter geglaubt, und zu leben, wie sie gelebt hatten. Deshalb artete ihre Religion abermals in Formenwesen aus; und Irrtümer und Aberglaube, die verworfen worden wären, falls die Gemeinde fortgefahren hätte, in dem Licht des Wortes Gottes zu wandeln, wurden beibehalten und gepflegt. Auf diese Weise starb der von der Reformation eingeflößte Geist allmählich aus, bis sich in den protestantischen Kirchen ein beinahe ebenso großes Bedürfnis nach einer Reformation einstellte wie in der römischen Kirche zur Zeit Luthers. Es herrschte derselbe Weltsinn, die nämliche geistliche Abgestumpftheit, eine ähnliche Ehrfurcht vor den Ansichten der Menschen und eine Einsetzung menschlicher Theorien an der Stelle der Lehren des Wortes Gottes.
Der weiten Verbreitung der Bibel zu Anfang des 19. Jahrhunderts und dem großen, auf diese Weise über die Welt ergossenem Licht folgte kein entsprechender Fortschritt in der Erkenntnis der offenbarten Wahrheit oder in der Erfahrungsreligion. Satan konnte nicht, wie in früheren Zeiten, das Wort Gottes dem Volke fernhalten, weil es allen erreichbar war; um aber seinen Zweck auszuführen, veranlaßte er viele, es geringzuschätzen. Die Menschen vernachlässigten das Suchen in der Heiligen Schrift und nahmen dadurch beständig falsche Auslegungen an und pflegten Lehren, welche keinen Grund in der Bibel hatten.
Als Satan bemerkte, daß seine Anstrengungen, die Wahrheit durch Verfolgung zu unterdrücken, fehlschlugen, nahm er wiederum seine Zuflucht zu dem Ausgleichverfahren, wodurch der große Abfall und die Gründung der römischen Kirche veranlaßt wurde. Er hatte die Christen verleitet, sich wenn auch jetzt nicht mit Heiden, so doch mit jenen zu verbinden, welche sich durch ihre Verehrung der Dinge dieser Welt ebensosehr als wahre Götzendiener erwiesen hatten wie die Anbeter der Götzenbilder. Die Folgen dieser Verbindung war jetzt nicht weniger verderblich als in früheren Zeiten: Stolz und Verschwendung wurden unter dem Gewand der Religion gepflegt und die Kirchen wurden verderbt. Satan fuhr fort, die Lehren der Bibel zu verdrehen, und die Überlieferungen, welche Millionen zugrunde richten sollten, faßten tiefe Wurzel. Die Kirche hielt diese Überlieferungen aufrecht und verteidigte sie, anstatt um den Glauben, „der einmal den Heiligen übergeben ist,“ zu kämpfen. So wurden die Grundsätze, für welche die Reformatoren so viel getan und gelitten hatten, beiseite gesetzt.


 
KAPITEL 17

HEROLDE DES MORGENS

Eine der feierlichsten und gleicher Zeit köstlichsten aller in der Bibel offenbarten Wahrheiten ist die von dem zweiten Kommen Christi zur Vollendung des großen Erlösungswerkes. Dem Pilgervolke Gottes, das so lange „in Finsternis und Schatten des Todes“ wandern muß, bietet die Verheißung der Erscheinung dessen, der „die Auferstehung und das Leben“ ist, der die Verbannten wieder heimbringen wird, eine köstliche, beglückende Hoffnung. Die Lehre von dem zweiten Kommen ist der eigentliche Grundton der Heiligen Schrift. Von dem Tage an, als das erste Menschenpaar trauerndes Schrittes Eden verließ, haben die Glaubenskinder der Ankunft des Verheißenen, der die Macht des Zerstörers brechen und sie wiederum in das verlorene Paradies zurückbringen wird, geharrt. Die heiligen Männer vor alters warteten auf Hoffnung. Henoch, nur der siebente von Adam, der im Paradiese wohnte, er, der drei Jahrhunderte lang auf Erden mit Gott wandelte, durfte von fern die Ankunft des Befreiers schauen. „Siehe,“ sagte er, „der Herr kommt mit vielen tausend Heiligen, Gericht zu halten über alle.“ (Judas 14. 15.) Der Patriarch Hiob rief in der Nacht seiner Leiden mit unerschütterlichem Vertrauen aus: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt; und als der letzte wird er über dem Staube sich erheben [stehen]... und werde in meinem Fleisch Gott sehen. Denselben werde ich mir sehen, und meine Augen werden ihn schauen, und kein Fremder.“ (Hiob 19, 25-27.)
Das Kommen Christi, um die Herrschaft der Gerechtigkeit einzuführen, hat die heiligen Schreiber zu höchst erhabenen und begeisternden Aussprüchen veranlaßt. Die Dichter und Propheten der Bibel haben sich darüber in Worten ergangen, die mit himmlischem Feuer glühten. Der Psalmist sang von der Macht und Majestät des Königs Israels: „Aus Zion bricht an der schöne Glanz Gottes. Unser Gott kommt und schweigt nicht. ... Er ruft Himmel und Erde, daß er sein Volk richte.“ „Der Himmel freue sich, und die Erde sei fröhlich... vor dem Herrn, denn er kommt, denn er kommt, zu richten das Erdreich. Er wird den Erdboden richten mit Gerechtigkeit und die Völker mit seiner Wahrheit.“ (Ps. 50, 2-4; 96, 11. 13.)
Der Prophet Jesaja sagte: „Wachet auf und rühmet, die ihr liegt unter der Erde! Denn dein Tau ist ein Tau des grünen Feldes; aber das Land der Toten wirst du stürzen.“ „Aber deine Toten werden leben, meine Leichname werden auferstehen.“ „Er wird den Tod verschlingen ewiglich; und der Herr, Herr wird die Tränen von allen Angesichtern abwischen und wird aufheben die Schmach seines Volks in allen Landen; denn der Herr hat’s gesagt. Zu der Zeit wird man sagen: Siehe, das ist unser Gott, auf den wir harren, und er wird uns helfen; das ist der Herr, auf den wir harren, daß wir uns freuen und fröhlich seien in seinem Heil.“ (Jes. 26, 19; 25, 8. 9.)
Habakuk, entzückt in einem heiligen Gesicht, schaute Christi Erscheinen: „Gott kam vom Mittag und der Heilige vom Gebirge Pharan. Seines Lobes war der Himmel voll, und seiner Ehre war die Erde voll. Sein Glanz war wie Licht.“ „Er stand und maß die Erde, er schaute und machte beben die Heiden, daß zerschmettert wurden die Berge, die von alters her sind, und sich bücken mußten die ewigen Hügel, da er wie vor alters einherzog.“ „Da du auf deinen Rossen rittest und deine Wagen den Sieg behielten.“ „Die Berge sahen dich und ihnen ward bange; ... die Tiefe ließ sich hören, die Höhe hob die Hände auf. Sonne und Mond standen still. Deine Pfeile fuhren mit Glänzen dahin, und deine Speere mit Leuchten des Blitzes.“ „Du zogest aus, deinem Volk zu helfen, zu helfen deinem Gesalbten.“ (Hab. 3, 3. 4. 6. 8. 10. 11. 13.)
Als der Heiland im Begriff war, sich von seinen Jüngern zu trennen, tröstete er sie in ihrem Leid mit der Versicherung, daß er wiederkommen wolle: „Euer Herz erschrecke nicht. ... In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen. . -. Ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen.“ (Joh. 14, 1-3.) „Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden.“ (Matth. 25, 31. 32.)
Die Engel, welche nach der Himmelfahrt Christi am Ölberge weilten, wiederholten den Jüngern die Verheißung seiner Wiederkunft: „Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.“ (Apg. 1, 11.) Der Apostel Paulus bezeugt unter Eingebung des Heiligen Geistes: „Denn er selbst, der Herr, wird mit einem Feldgeschrei und der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes hernieder kommen vom Himmel.“ (l. Thess. 4, 16.) Der Prophet von Patmos sagt: „Siehe, er kommt mit den Wolken, und es werden ihn sehen alle Augen.“ (Offb. 1, 7.)
Um sein Kommen reihen sich die Herrlichkeiten jener Zeit, „da herwieder gebracht werde alles, was Gott geredet hat durch den Mund aller seiner heiligen Propheten, von der Welt an.“ (Apg. 3, 21.) Dann wird die so lang bestandene Herrschaft des Bösen gebrochen werden; „es sind die Reiche der Welt unsres Herrn und seines Christus geworden, und er wird regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.“ (Offb. 11, 15.) „Denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen.“ „Gleichwie Gewächs aus der Erde wächst,... also wird Gerechtigkeit und Lob vor allen Heiden aufgehen aus dem Herrn, Herrn.“ „Zu der Zeit wird der Herr Zebaoth sein eine liebliche Krone und ein herrlicher Kranz den Übriggebliebenen seines Volks.“ (Jes. 40, 5; 61, 11; 28, 5.)
Dann wird das friedensvolle und. lang ersehnte Reich des Messias unter dem ganzen Himmel aufgerichtet werden. „Denn der Herr tröstet Zion, er tröstet alle ihre Wüsten und macht ihre Wüste wie Eden und ihr dürres Land wie den Garten des Herrn.“ „Denn die Herrlichkeit des Libanon ist ihr gegeben, der Schmuck Karmels und Sarons.“ „Man soll dich nicht mehr die Verlassene noch dein Land eine Wüstung heißen; sondern du sollst ’Meine Lust an ihr’ und dein Land ’Liebes Weib’ heißen.“ „Wie sich ein Bräutigam freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen.“ (Jes. 51, 3; 35, 2; 62, 4. 5.)
Das Kommen des Herrn war zu jener Zeit die Hoffnung seiner wahren Nachfolger. Die Abschiedsverheißungen des Heilandes auf dem Ölberg, daß er wiederkommen werde, erhellte den Jüngern die Zukunft und erfüllte ihre Herzen mit einer Freude und Hoffnung, die weder Sorgen dämpfen noch Prüfungen schwächen konnten. Unter Leiden und Verfolgungen war „die Erscheinung des großen Gottes und unseres Heilandes, Jesu Christi,“ „die selige Hoffnung.“ (Tit. 2, 13.) Als die Christen zu Thessalonich von Leid erfüllt waren bei der Bestattung ihrer Lieben, die gehofft hatten, das Kommen des Herrn zu sehen, verwies Paulus, ihr Lehrer, sie auf die Auferstehung, welche bei der Ankunft Christi stattfinden würde. Dann sollen die Toten in Christo auferstehen und zusammen mit den Lebenden dem Herrn entgegen gerückt werden in der Luft. „Und werden also,“ sagt er, „bei dem Herrn sein allezeit. So tröstet euch nun mit diesen Worten untereinander.“ (l. Thess. 4, 16-18.)
Auf dem felsigen Patmos hört der geliebte Jünger die Verheißung: „Siehe, ich komme bald!“ und seine sehnsuchtsvolle Antwort ertönt in dem Gebet der Gemeinde auf ihrer ganzen Pilgerreise: „Ja komm, Herr Jesu!“ (Offb. 22, 7. 20.)
Aus dem Kerker, von dem Marterpfahl und dem Schafott, wo die Heiligen und Märtyrer für die Wahrheit Zeugnis ablegten, vernimmt man durch alle Jahrhunderte hindurch den Ausdruck ihres Glaubens und ihrer Hoffnung. Von der persönlichen Auferstehung Christi und damit auch von der ihrigen zur Zeit seines Kommens überzeugt, verachteten diese Christen den Tod und standen über ihm erhaben. Sie waren bereit, in das Grab hinabzusteigen, auf daß sie frei auferstehen möchten. Sie sehen „dem Erscheinen des Herrn in den Wolken, in der Herrlichkeit des Vaters entgegen“, „den Gerechten die Zeiten des Himmelreiches zu bringen.“ Die Waldenser hegten denselben Glauben. Wiklif sah der Erscheinung des Heilandes als der Hoffnung der Kirche entgegen.
Luther erklärte: „Ich sage mir wahrlich, der Tag des Gerichtes könne keine volle dreihundert Jahre mehr ausbleiben. Gott will und kann diese gottlose Welt nicht länger dulden. Der große Tag naht, an welchem das Reich der Greuel gestürzt werden wird.“ (Taylor, Stimme der Kirche, S. 129 ff .)
„Diese veraltete Welt ist nicht fern von ihrem Ende“ sagt Melanchthon. Kalvin fordert die Christen auf, nicht unschlüssig zu sein und „brennend nach der Ankunft des Tages des Herrn zu verlangen, als von allen Tagen der heilsamste“; und er erklärt, daß die ganze Familie der Getreuen diesen Tag vor Augen behalten wird. Er sagt: „Wir müssen nach Christo hungern, ihn suchen, erforschen, bis zum Anbrechen jenes großen Tages, an dem unser Herr die Herrlichkeit seines Reiches völlig offenbaren wird.“ (Ebd., S. 158.134.)
„Ist nicht unser Herr Jesus in unserm Fleische in den Himmel gefahren?“ sagte Knox, der schottische Reformator, „und wird er nicht wiederkommen? Wir wissen, daß er wiederkommen wird, und das in Eile.“ Ridley und Latimer, welche beide ihr Leben für die Wahrheit niederlegten, sahen im Glauben der Ankunft des Herrn entgegen. Ridley schrieb: „Die Welt geht unzweifelhaft dies glaube ich, und deshalb sage ich es - dem Ende entgegen. Lasset uns mit Johannes, dem Knecht Christi, rufen: Komme bald, Herr Jesu!“ (Ebd., S. 151. 145.)
Baxter sagt: „Der Gedanke an das Kommen des Herrn ist mir überaus köstlich und freudenvoll.“ „Seine Erscheinung liebzuhaben und der seligen Hoffnung entgegenzusehen, ist das Werk des Glaubens und kennzeichnet seine Heiligen.“ „Wenn der Tod der letzte Feind ist, der bei der Auferstehung zerstört werden soll, so können wir begreifen, daß ernstlich Gläubige nach der zweiten Ankunft Christi, wann dieser völlige und schließliche Sieg gewonnen werden wird, verlangen und dafür beten sollten.“ (Baxters Werke, 17, S. 555.) Dies ist der Tag, auf den alle Gläubigen als auf die Verwirklichung des ganzen Werkes ihrer Erlösung und die Erfüllung aller ihrer Wünsche und Bestrebungen harren, hoffen und warten sollten. ... Beschleunige, o Herr, diesen segenbringenden Tag.“ (Ebd., S. 182. 183.) Derart war die Hoffnung der apostolischen Kirche, der „Gemeinde der Wüste“ und der Reformatoren.
Die Weissagung sagt nicht nur die Art und Weise sowie den Zweck der Wiederkunft Christi voraus, sondern gibt auch Zeichen an, woran man erkennen kann, wann sie nahe ist. Jesus sagte: „Es werden Zeichen geschehen an Sonne und Mond und Sternen.“ „Aber zu der Zeit, nach dieser Trübsal, werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren, und die Sterne werden vom Himmel fallen, und die Kräfte der Himmel werden sich bewegen. Und dann werden sie sehen des Menschen Sohn kommen in den Wolken mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ (Luk. 21, 25; Markus 13, 24-26.) Johannes schildert in der Offenbarung das erste der Zeichen, welche der zweiten Ankunft Christi vorausgehen, wie folgt: „Die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut.“ (Offb. 6, 12.)
Diese Zeichen wurden vor dem Anfang des 19. Jahrhunderts wahrgenommen. In Erfüllung dieser Weissagung fand im Jahre 1755 das allerschrecklichste Erdbeben statt, das je berichtet worden ist. Obgleich allgemein bekannt als das Erdbeben von Lissabon, dehnte es sich doch über den größeren Teil von Europa, Afrika und Amerika aus. Es wurde in Grönland, in Westindien und auf der Insel Madeira, in Schweden und Norwegen, Großbritannien und Irland verspürt. Es erstreckte sich über einen Flächenraum von nicht weniger als 4.000.000 Quadratmeilen (10.360.000 qkm). In Afrika war die Erschütterung beinahe ebenso heftig wie in Europa. Ein großer Teil von Algerien wurde zerstört, und in nur geringer Entfernung von Marokko wurde ein Dorf mit 8- bis 10.000 Einwohnern verschlungen. Eine ungeheure Woge, welche Städte fortriß und große Zerstörung verursachte, fegte über die Küsten von Spanien und Afrika.
In Spanien und Portugal zeigten sich die Erdstöße mit äußerster Heftigkeit. In Kadiz soll die hereinstürzende Woge 18 m hoch gewesen sein. „Etliche der größten Berge in Portugal wurden heftig, sozusagen vom Grunde aus, erschüttert. Die Gipfel etlicher öffneten sich und wurden auf wunderbare Weise gespalten und zerrissen, wobei ungeheure Massen in die umliegenden Täler geschleudert wurden. Man erzählt, daß diesen Bergen Flammen entstiegen.“ (Lyell, Grundrisse der Geologie, S. 495.)
Zu Lissabon „wurde ein unterirdischer Donner vernommen, und unmittelbar darauf stürzte durch einen heftigen Stoß der größere Teil jener Stadt ein. Im Laufe von ungefähr sechs Minuten kamen 60.000 Menschen um. Das Meer zog sich erst zurück und legte die Sandbank trocken, dann flutete es herein und erhob sich mehr als 15 m über seinen gewöhnlichen Höhepunkt.“ „Unter anderen außerordentlichen Ereignissen, die sich während der Katastrophe in Lissabon zutrugen, war das Versinken des neuen Kais, der mit einem ungeheuren Kostenaufwand gänzlich aus Marmor hergestellt worden war. Eine große Menschenmenge hatte sich hier sicherheitshalber, als an einem Ort, wo sie außer dem Bereich der fallenden Trümmer sein könnte, gesammelt; doch plötzlich sank der Kai mit all seinen Menschenmengen, und nicht einer der Leichname kam je wieder an die Oberfläche.“ (Ebd.)
„Dem Stoß“ des Erdbebens „folgte unmittelbar der Einsturz sämtlicher Kirchen und Klöster, fast aller großen und öffentlichen Bauten und mehr als ein Viertel der Häuser. Ungefähr zwei Stunden nach dem Stoß brach in den verschiedenen Stadtvierteln Feuer aus und wütete beinahe drei Tage lang mit solcher Gewalt, daß die Stadt gänzlich verwüstet wurde. Das Erdbeben trug sich an einem Feiertage zu, als die Kirchen und Klöster voll von Leuten waren, von denen nur sehr wenige entkamen.“ (Encyclopedia Americana, 1831, Art. Lisbon.) „Der Schrecken des Volks überstieg alle Beschreibung. Niemand weinte; das Unglück war zu groß. Die Menschen liefen hin und her, wahnsinnig vor Schrecken und Entsetzen, schlugen sich in das Angesicht und an die Brust und riefen: ’Misericordia! Die Welt geht unter!’ Mütter vergaßen ihre Kinder und rannten mit Kruzifixen umher. Unglücklicherweise liefen viele in die Kirchen, um Schutz zu suchen; aber vergebens wurde das Sakrament emporgehoben; umsonst klammerten sich die armen Geschöpfe an die Altäre; Kruzifixe, Priester und Volk wurden alle miteinander in dem gemeinsamen Untergang verschlungen.“ Man hat geschätzt, daß 90.000 Menschenleben an jenem verhängnisvollen Tage umkamen.
Fünfundzwanzig Jahre später erschien das nächste in der Weissagung erwähnte Zeichen - die Verfinsterung der Sonne und des Mondes, und zwar war dies um so auffallender, da die Zeit seiner Erfüllung genau und bestimmt angegeben worden war. Der Heiland erwähnte in seiner Unterredung mit den Jüngern auf dem Ölberg nach der Schilderung der langen Trübsalszeit der Gemeinde den 1260 Jahren der päpstlichen Verfolgung, hinsichtlich der er verheißen hatte, daß die Tage der Trübsal verkürzt werden sollten gewisse Ereignisse, die seinem Kommen vorausgehen würden, und stellte die Zeit fest, wann das erste davon gesehen werden sollte. „Aber zu der Zeit, nach dieser Trübsal, werden Sonne und Mond ihren Schein verlieren.“ (Mark. 13, 24.) Die 1260 Tage oder Jahre liefen mit dem Jahr 1798 ab. Ein Vierteljahrhundert zuvor hatten die Verfolgungen beinahe gänzlich aufgehört. Nach dieser Verfolgung sollte nach den Worten Christi die Sonne verdunkelt werden. Am 19. Mai 1780 ging diese Weissagung in Erfüllung.
„Beinahe, falls nicht gänzlich alleinstehend als die geheimnisvollste und bis dahin unerklärte Naturerscheinung dieser Art steht der finstere Tag vom 19. Mai 1780 - eine höchst unerklärliche Verfinsterung des ganzen sichtbaren Himmels und der Atmosphäre Neuenglands.“ (Devens, Unser erstes Jahrh., S. 89.)
Ein in Massachusetts wohnender Augenzeuge beschreibt das Ereignis folgendermaßen:
„Am Morgen ging die Sonne klar auf, der Himmel überzog sich aber sehr bald. Die Wolken senkten sich immer mehr, und indem sie dunkler und unheildrohender wurden, zuckten die Blitze, und der Donner grollte, und etwas Regen fiel. Gegen neun Uhr lichteten sich die Wolken und nahmen ein messing- oder kupferfarbenes Aussehen an, so daß Erde, Felsen, Bäume, Gebäude, das Wasser und die Menschen ganz verändert in diesem seltsamen, unheimlichen Licht erschienen. In wenigen Minuten breitete sich eine schwere, schwarze Wolke über das ganze Himmelsgewölbe mit Ausnahme eines schmalen Streifens am Horizont, und es war so dunkel, wie es gewöhnlich im Sommer um neun Uhr abends ist...
Furcht, Angst und heilige Scheu bemächtigten sich der Menschen. Frauen standen vor den Türen und schauten auf die dunkle Landschaft, die Männer kehrten von ihrer Feldarbeit zurück, der Zimmermann verließ seine Geräte, der Schmied seine Werkstatt, der Kaufmann den Laden. Die Schulen wurden geschlossen, und die zitternden Kinder rannten heim. Reisende nahmen Unterkunft in den nächsten Landhäusern. ’Was soll das werden?’ fragten bebende Lippen und Herzen. Es schien, als ob ein großer Sturm über das Land hereinbrechen wollte, oder als ob das Ende aller Dinge gekommen sei.
Lichter wurden angezündet, und das Feuer im offenen Kamin schien so hell wie an einem Herbstabend ohne Mondlicht. ... Die Hühner erklommen ihre Ruhestangen und schliefen ein, das Vieh ging an die Weidepforten und brüllte, Frösche quakten, Vögel sangen ihr Abendlied, und die Fledermäuse begannen ihren nächtlichen Flug. Aber die Menschen wußten, daß die Nacht nicht hereingebrochen war. ...
Dr. Nathanael Whittacker, Prediger der Tabernakelkirche in Salem, hielt Andachtsübungen im Versammlungssaal und behauptete in seiner Predigt, daß die Dunkelheit übernatürlich sei. An vielen Orten wurden Versammlungen gehalten, und die Bibeltexte für die unvorbereiteten Predigten waren ausschließlich solche, die andeuteten, daß die Finsternis in Übereinstimmung mit der biblischen Weissagung war. .. . Etwas nach elf Uhr war die Dunkelheit am stärksten.“ (Essex Antiquarian, Salem, Mass., April 1899.) „An den meisten Orten war die Finsternis so dicht, daß man weder nach der Uhr sehen noch die häuslichen Arbeiten ohne Kerzenlicht verrichten konnte. . -.
„Die Finsternis dehnte sich außergewöhnlich weit aus. Nach Osten erstreckte sie sich bis Falmouth, nach Westen erreichte sie den äußersten Teil von Connecticut und Albany, nach Süden wurde sie die ganze Seeküste entlang bemerkt, und nach Norden reichte sie so weit wie die amerikanischen Niederlassungen sich ausdehnten.“ (Gordon, Gesch. d. Ver. St., 3. Bd., S. 57.)
Der tiefen Finsternis dieses Tages folgte eine oder zwei Stunden vor Sonnenuntergang ein teilweise klarer Himmel; die Sonne brach wieder hervor, obgleich sie noch durch den schwarzen, schweren Nebel verschleiert wurde. „Nach Sonnenuntergang stiegen die Wolken wieder höher und es wurde sehr schnell dunkel.“ „Die Dunkelheit der Nacht war ebenso ungewöhnlich und erschreckend wie die des Tages, denn obgleich es beinahe Vollmond war, ließ sich doch kein Gegenstand ohne künstliches Licht unterscheiden, und dieses nahm sich von den Nachbarhäusern und andern Orten aus, als ob es durch eine ägyptische Finsternis dringe, welche für die Strahlen beinahe undurchdringlich war.“ (Massachusetts Spy, 25. Mai 1780.) Ein Augenzeuge dieses Ereignisses sagte: „Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß, wenn alle leuchtenden Himmelskörper in solch undurchdringliche Finsternis gehüllt oder gänzlich aus dem Dasein entschwunden wären, die Finsternis nicht vollständiger sein könnte.“ (Samml. d. Geschichtl. Ges. in Mass., 1. Serie, 1. Bd., S. 97.) Obgleich um neun Uhr abends der Mond voll aufging, „vermochte er nicht im geringsten den todesähnlichen Schatten zu zerteilen.“ Nach Mitternacht verschwand die Finsternis, und als der Mond zuerst sichtbar wurde, hatte er das Aussehen von Blut.
Der 19. Mai 1780 steht in der Geschichte verzeichnet als „der finstere Tag.“ Seit Moses Zeit ist keine Finsternis von gleicher Dichtigkeit, Ausdehnung und Dauer je verzeichnet worden. Die Beschreibung dieses Ereignisses, wie sie der Augenzeuge gibt, ist nur ein Widerhall der Worte des Herrn, wie sie der Prophet Joel 2500 Jahre vor ihrer Erfüllung berichtet: „Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt.“ (Joel 3, 4.)
Christus hatte seinem Volk geboten, auf die Zeichen seiner Wiederkunft zu achten und sich zu freuen, wenn es die Vorläufer seines kommenden Königs sehen würde. Seine Worte lauteten: „Wenn aber dies anfängt zu geschehen, so sehet auf und erhebet eure Häupter, darum daß sich eure Erlösung naht.“ Er machte seine Nachfolger auf die knospenden Bäume des Frühlings aufmerksam und sagte: „Wenn sie jetzt ausschlagen, so sehet ihr’s an ihnen und merket, daß jetzt der Sommer nahe ist. Also auch ihr: wenn ihr dies alles sehet angehen, so wisset, daß das Reich Gottes nahe ist.“ (Luk. 21, 28. 30. 31.)
Doch als der Geist der Demut und Frömmigkeit in der Kirche dem Stolz und dem Formenwesen Platz gemacht hatte, waren die Liebe zu Christo und der Glaube an seine Zukunft erkaltet. Das bekenntliche Volk Gottes, von Weltlichkeit und Vergnügungssucht in Anspruch genommen, wurde blind für die Lehren des Heilandes betreffs der Zeichen seiner Erscheinung. Die Lehre von der Wiederkunft Christi war vernachlässigt, die darauf bezüglichen Schriftstellen waren durch falsche Auslegung verdunkelt worden, bis sie vielfach übersehen und vergessen wurden. Ganz besonders war dies der Fall in den Kirchen Amerikas. Die Freiheit und Bequemlichkeit, deren sich alle Klassen der Gesellschaft erfreuten, das ehrgeizige Verlangen nach Reichtum und Überfluß, das eine verzehrende Sucht des Gelderwerbs hervorrief, das begierige Streben nach Volkstümlichkeit und Macht, welche in dem Bereich aller zu liegen schienen, verleiteten die Menschen, ihre Zuneigungen und Hoffnungen auf die Dinge dieses Lebens zu richten und jenen feierlichen Tag, an dem der gegenwärtige Lauf der Dinge vergehen würde, weit in die Zukunft hinauszuschieben.
Als der Heiland seine Nachfolger auf die Zeichen seiner Wiederkunft verwies, weissagte er ihnen den Zustand des Abfalls, der unmittelbar vor seinem zweiten Kommen herrschen werde. Da würde sich, gleichwie in den Tagen Noahs, rege Tätigkeit in weltlichen Unternehmungen und Sucht nach Vergnügen zeigen - Kaufen, Verkaufen, Pflanzen, Bauen, Freien und sich freien lassen wobei Gott und das zukünftige Leben vergessen würden. Denen, welche zu dieser Zeit leben, gilt Christi Ermahnung: „Hütet euch aber, daß eure Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen und mit Sorgen der Nahrung und komme dieser Tag schnell über euch.“ „So seid nun wach allezeit und betet, daß ihr würdig werden möget, zu entfliehen diesem allem, das geschehen soll, und zu stehen vor des Menschen Sohn.“ (Luk. 21, 34. 36.)
Der Zustand der Kirche zu dieser Zeit wird in den Worten des Heilandes in der Offenbarung geschildert: „Du hast den Namen, daß du lebest, und bist tot.“ Und an jene, welche sich weigern, aus ihrer gleichgültigen Sicherheit sich aufzuraffen, wird die feierliche Warnung gerichtet: „So du nicht wirst wachen, werde ich über dich kommen wie ein Dieb, und wirst nicht wissen, welche Stunde ich über dich kommen werde.“ (Offb. 3, 1. 3.)
Die Menschen mußten auf ihre Gefahr aufmerksam gemacht werden, sie mußten aufgeweckt werden, damit sie sich auf die feierlichen, mit dem Ablauf der Gnadenzeit in Verbindung stehenden Ereignisse vorbereiten könnten. Der Prophet Gottes erklärt: „Der Tag des Herrn ist groß und sehr erschrecklich: wer kann ihn leiden?“ (Joel 2, 11.) Wer wird bestehen, wenn der erscheint, von dem es heißt: „Deine Augen sind rein, daß du Übles nicht sehen magst, und dem Jammer kannst du nicht zusehen“? (Hab. 1, 13.) Denen, die rufen: „Du bist mein Gott; wir... kennen dich“ und seinen Bund übertreten und einem anderen Gott nacheilen, die Gesetzlosigkeit in ihren Herzen herbergen und die Pfade der Ungerechtigkeit lieben, denen wird des Herrn Tag „finster und nicht licht sein, dunkel und nicht hell.“ (Hos . 8, 2. L; Ps. 16, 4; Amos 5, 20 .) „Zur selben Zeit,“ spricht der Herr, „will ich Jerusalem mit Leuchten durchsuchen und will heimsuchen die Leute die auf ihren Hefen liegen und sprechen in ihrem Herzen: Der Herr wird weder Gutes noch Böses tun.“ (Zeph. 1, 12.) „Ich will den Erdboden heimsuchen um seiner Bosheit willen und die Gottlosen um ihrer Untugend willen und will dem Hochmut der Stolzen ein Ende machen und die Hoffart der Gewaltigen demütigen.“ „Es wird sie ihr Silber und Gold nicht erretten können am Tage des Zorns des Herrn, und ihre Güter sollen zum Raub werden und ihre Häuser zur Wüste.“ (Jes. 13, 11; Zeph. 1, 18. 13.)
Der Prophet Jeremia ruft im Hinblick auf diese schreckliche Zeit: „Wie ist mir so herzlich weh! ... und habe keine Ruhe; denn meine Seele hört der Posaune Hall und eine Feldschlacht und einen Mordschrei über den andern.“ (Jer. 4, 19. 20.)
„Dieser Tag ist ein Tag des Grimmes, ein Tag der Trübsal und Angst, ein Tag des Wetters und Ungestüms, ein Tag der Finsternis und Dunkels, ein Tag der Wolken und Nebel, ein Tag der Posaune und Drommete.“ „Denn siehe, des Herrn Tag kommt,... das Land zu zerstören und die Sünder daraus zu vertilgen.“ (Zeph. 1, 15. 16; Jes. 13, 9.)
Im Hinblick auf jenen großen Tag fordert Gottes Wort in der feierlichsten und eindrucksvollsten Sprache sein Volk auf, die geistliche Schlafsucht abzuschütteln und sein Angesicht in Reue und Demut zu suchen: „Blaset mit der Posaune zu Zion, rufet auf meinem heiligen Berge; Erzittert, alle Einwohner im Lande! Denn der Tag des Herrn kommt und ist nahe.“ „Heiliget ein Fasten, rufet die Gemeinde zusammen! Versammelt das Volk, heiliget die Gemeinde, sammelt die Ältesten, bringet zuhauf die jungen Kinder! ... Der Bräutigam gehe aus seiner Kammer und die Braut aus ihrem Gemach. Laßt die Priester, des Herrn Diener, weinen zwischen Halle und Altar.“ „Bekehret euch zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, mit Weinen, mit Klagen! Zerreißet eure Herzen und nicht eure Kleider, und bekehret euch zu dem Herrn, eurem Gott; denn er ist gnädig, barmherzig, geduldig und von großer Güte.“ (Joel 2, 1. 15–17.12.13.)
Um ein Volk vorzubereiten, das am Tage des Herrn bestehen würde, mußte ein großes Reformationswerk verrichtet werden. Gott sah, daß viele seines bekenntlichen Volkes nicht für die Ewigkeit lebten, und in seiner Barmherzigkeit wollte er ihnen eine Warnungsbotschaft senden, um sie aus ihrem Stumpfsinn aufzurütteln und sie zu veranlassen, sich auf die Zukunft des Herrn vorzubereiten.
Diese Warnung ist in Offenbarung 14 verzeichnet. Hier wird die dreifache Botschaft als von himmlischen Wesen verkündigt vorgeführt, der unmittelbar das Kommen des Menschensohnes folgt, um die Ernte der Erde einzubringen. Die erste dieser Warnungen kündigt das nahende Gericht an. Der Prophet sah einen Engel fliegen „mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium zu verkündigen denen, die auf Erden wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern und Sprachen und Völkern, und sprach mit großer Stimme: „Fürchtet Gott und gebet ihm die Ehre; denn die Zeit seines Gerichts ist gekommen! Und betet an den, der gemacht hat Himmel und Erde und Meer und die Wasserbrunnen.“ (Offb. 14, 6. 7.)
Diese Botschaft wird ein Teil des „ewigen Evangeliums“ genannt. Das Predigen des Evangeliums ist nicht Engeln, sondern Menschen anvertraut worden. Wohl sind heilige Engel beauftragt worden, dies Werk zu leiten; sie lenken die großen Bewegungen zum Heil der Menschen; aber die tatsächliche Verkündigung des Evangeliums wird von Christi Knechten auf Erden ausgerichtet.
Treue Männer, welche den Eingebungen des Geistes Gottes und den Lehren seines Wortes gehorsam waren, sollten der Welt diese Warnung verkündigen. Sie hatten geachtet auf das feste prophetische Wort, jenes „Licht, das da scheint in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe.“ (2. Petr. 1, 19.) Sie hatten die Erkenntnis Gottes mehr als alle verborgenen Schätze gesucht und erachteten sie „besser zu erwerben als Silber; und ihr Ertrag ist besser als Gold.“ (Spr. 3, 14.) Und der Herr offenbarte ihnen die großen Dinge seines Reiches. „Das Geheimnis des Herrn ist unter denen, die ihn fürchten; und seinen Bund läßt er sie wissen.“ (Ps. 25, 14 .)
Es waren nicht die gelehrten Theologen, die ein Verständnis dieser Wahrheit hatten und sich mit ihrer Verkündigung befaßten. Wären sie treue Wächter gewesen, welche die Schrift fleißig und unter Gebet erforscht hätten, so würden sie die Zeit der Nacht erkannt haben, und die Weissagungen hätten ihnen die Ereignisse erschlossen, die unmittelbar bevorstanden. Diese Stellung nahmen sie jedoch nicht ein, und die Botschaft wurde einfacheren Männern übertragen. Jesus sagte: „Wandelt, dieweil ihr das Licht habt, daß euch die Finsternis nicht überfalle.“ (Joh. 12, 35.) Wer sich von dem von Gott verliehenen Licht abwendet oder es versäumt, es sich anzueignen, wenn es in seiner Reichweite liegt, wird in Finsternis gelassen. Aber der Heiland erklärt: „Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Joh. 8, 12.) Wer auch immer einzig und allein danach trachtet, Gottes Willen zu tun und ernstlich auf das bereits empfangene Licht achtet, wird größeres Licht erhalten; ihr wird ein Stern himmlischen Glanzes gesandt werden, um sie in alle Wahrheit zu leiten.
Zur Zeit des ersten Kommens Christi hätten die Priester und die Schriftgelehrten in der heiligen Stadt, denen das lebendige Wort Gottes anvertraut worden war, die Zeichen der Zeit erkennen und die Ankunft des Verheißenen verkündigen können. Die Weissagung Michas gab den Geburtsort an; Daniel stellte die Zeit seines Kommens fest. (Micha 5, 1; Dan. 9, 25.) Gott hatte diese Weissagungen den Ältesten der Juden anvertraut; es gab für sie keine Entschuldigung, wenn sie es nicht wußten und dem Volke nicht verkündigten, daß die Ankunft des Messias vor der Tür stehe. Ihre Unwissenheit war die Folge sündhafter Nachlässigkeit. Die Juden bauten Denkmäler für die erschlagenen Propheten Gottes, während sie durch ihre Ehrerbietigkeit gegen die Großen der Erde den Knechten Satans Huldigung darbrachten. Gänzlich von ihrem ehrgeizigen Streben um Stellung und Macht unter den Menschen in Anspruch genommen, hatten sie die ihnen von dem König des Himmels angebotenen göttlichen Ehren aus den Augen verloren.
Mit tiefem und ehrfurchtsvollem Interesse hätten die Ältesten Israels den Ort, die Zeit, die Umstände des größten Ereignisses in der Weltgeschichte - die Ankunft des Sohnes Gottes zur Erlösung der Menschen - erforschen sollen. Alle Menschen hätten wachen und harren sollen, um unter den ersten zu sein, den Erlöser der Welt zu begrüßen. Doch siehe, in Bethlehem ziehen zwei müde Reisende von den Hügeln Nazareths die ganze Länge der engen Straße entlang bis zum östlichen Ende der Stadt und spähen vergebens nach einer Ruhe- und Obdachstätte für die Nacht. Keine Tür steht ihnen offen. In einem elenden Schuppen, der für das Vieh hergerichtet war, finden sie schließlich Unterkunft, und hier wird der Heiland der Welt geboren.
Die Engel hatten die Herrlichkeit gesehen, welche der Sohn Gottes mit dem Vater teilte, ehe die Welt war, und sie hatten mit lebhaftem Anteil seiner Erscheinung auf Erden entgegengesehen als dem freudevollsten Ereignis für alle Völker. Es wurden Engel bestimmt, die frohe Botschaft denen zu bringen, die auf ihren Empfang vorbereitet waren, und die sie mit Freuden den Bewohnern der Erde bekanntmachen würden. Christus hatte sich erniedrigt, die menschliche Natur anzunehmen; er sollte ein unendliches Maß voll Leiden tragen, wenn er sein Leben als Opfer für die Sünde darbringen würde; und doch wünschten die Engel, daß der Sohn des Allerhöchsten selbst in seiner Erniedrigung mit einer seinem Charakter entsprechenden Würde und Herrlichkeit vor den Menschen erscheinen möchte. Würden die Großen der Erde sich in der Hauptstadt Israels versammeln, um sein Kommen zu begrüßen? Würden Legionen Engel ihn der harrenden Menge vorführen?
Ein Engel besucht die Erde, um zu sehen, wer vorbereitet ist, Jesum willkommen zu heißen. Aber er kann keine Zeichen der Erwartung erkennen. Er hört keine Stimme des Lobes und des Siegesjubels, daß die Zeit der Ankunft des Messias da sei. Der Engel schwebt eine Zeitlang über der auserwählten Stadt und dem Tempel, wo sich jahrhundertelang die göttliche Gegenwart offenbart hat; doch auch hier herrscht dieselbe Gleichgültigkeit. Die Priester in ihrem Gepränge und Stolz bringen unreine Opfer im Tempel dar. Die Pharisäer wenden sich mit lauter Stimme an das Volk oder verrichten prahlerische Gebete an den Ecken der Straßen. In den Palästen der Könige, in den Versammlungen der Philosophen, in den Schulen der Rabbiner achtet gleichfalls keiner auf die wunderbare Tatsache, welche den ganzen Himmel mit Lob und Freude erfüllt, daß der Erlöser der Menschen im Begriffe stehe, auf Erden zu erscheinen.
Nirgends zeigt sich ein Beweis, daß Christus erwartet wird, daß Vorbereitungen für den Fürsten des Lebens getroffen werden. Erstaunt will der himmlische Bote mit der schmählichen Kunde wieder gen Himmel zurückkehren, als er einige Hirten entdeckt, welche ihre Herden bei Nacht bewachen und, zum sternbesäten Himmel aufblickend, über die Weissagung eines Messias, der zur Erde kommen soll, nachdenken und sich nach der Ankunft des Welterlösers sehnen. Hier sind Leute, die auf den Empfang der himmlischen Botschaft vorbereitet sind. Und plötzlich erscheint der Engel des Herrn und verkündigt die frohe Botschaft. Die ganze Ebene wird von himmlischer Herrlichkeit überflutet, eine unzählbare Schar von Engeln wird sichtbar und, als ob die Freude zu groß sei, von einem Boten vom Himmel gebracht zu werden, heben eine Menge Stimmen den Gesang an, den dereinst alle Erlösten singen werden: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ (Luk. 2, 14.)
0 welch eine Lehre birgt diese wunderbare Geschichte von Bethlehem! Wie straft sie unsern Unglauben, unsern Stolz und Eigendünkel! Wie warnt sie uns, auf der Hut zu sein, auf daß wir durch unsere Gleichgültigkeit nicht auch verfehlen, die Zeichen der Zeit zu verstehen und dadurch den Tag unserer Heimsuchung zu erkennen!
Nicht nur auf den Höhen Judäas, nicht allein unter den geringen Hirten fanden die Engel Seelen, welche der Ankunft des Messias entgegensahen. Im Heidenland waren ebenfalls etliche, die seiner harrten; dies waren weise, reiche und edle Männer: Philosophen des Ostens, Naturforscher und Magier hatten Gott in seiner Hände Werk erkannt. Aus den Hebräischen Schriften hatten sie von dem Stern gelernt, der aus Jakob aufgehen sollte, und mit begierigem Verlangen warteten sie seines Kommens; der nicht nur der „Trost Israels“, sondern auch ein „Licht zu erleuchten die Heiden“, das Heil „bis ans Ende der Erde“ sein sollte. (Luk. 2, 25. 32; Apg. 13, 47.) Sie suchten nach Licht, und das Licht von dem Throne Gottes erleuchtete den Pfad ihrer Füße. Während die Priester und Schriftgelehrten Jerusalems, die verordneten Hüter und Erklärer der Wahrheit, in Finsternis gehüllt waren, leitete der vom Himmel gesandte Stern diese heidnischen Fremdlinge zu der Geburtsstätte des neugeborenen Königs.
„Denen, die auf ihn warten,“ wird Christus „zum andernmal ohne Sünde erscheinen... zur Seligkeit.“ (Hebr. 9, 28.) Gleich der Kunde von der Geburt des Heilandes wurde auch die Botschaft von seiner Wiederkunft nicht den Leitern des religiösen Volkes anvertraut. Sie hatten es verfehlt, ihre Verbindung mit Gott zu bewahren und hatten das Licht vom Himmel von sich gewiesen; darum gehörten sie nicht zu der Zahl, zu der der Apostel Paulus sagt: „Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, daß euch der Tag wie ein Dieb ergreife. Ihr seid allzumal Kinder des Lichtes und Kinder des Tages; wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.“ (l. Thess. 5, 4. 5.)
Die Wächter auf den Mauern Zions hätten die ersten sein sollen, die Botschaft von der Ankunft des Heilandes zu vernehmen; die ersten, ihre Stimmen zu erheben, um seine Nähe zu verkündigen; die ersten, das Volk zu warnen, sich auf sein Kommen vorzubereiten. Aber sie ließen es sich wohl sein, träumten von Frieden und Sicherheit, während das Volk in seinen Sünden schlief. Jesus sah seine Gemeinde, dem unfruchtbaren Feigenbaum gleich im Schmuck der Blätter prangend, doch ohne köstliche Frucht. Prahlerisch beobachtete man die religiösen Formen, wogegen der Geist wahrer Demut, der Reue und des Glaubens, die allein den Dienst angenehm vor Gott machen konnten, fehlten. Anstatt der Früchte des Geistes bekundeten sich Stolz, Formenwesen, Ruhmredigkeit, Selbstsucht, Unterdrückung. Eine von Gott abgewichene Kirche verschloß den Zeichen der Zeit ihre Augen. Gott verließ sie nicht, ließ es auch nicht an seiner Treue fehlen; aber sie fiel von ihm ab und trennte sich von seiner Liebe. Da sie sich weigerte, den Bedingungen nachzukommen, gingen auch seine ihr gegebenen Verheißungen nicht in Erfüllung.
Das ist die sichere Folge, wenn man versäumt, das Licht und die Vorrechte, welche Gott schenkt, anzuerkennen und auszunutzen. Wenn die Gemeinde nicht den Weg verfolgt, den seine Vorsehung vor ihr auftut, einen jeglichen Lichtstrahl annimmt und jede ihr gezeigte Pflicht auf sich nimmt, wird die Religion unausbleiblich in einen Formendienst ausarten, und der Geist der lebendigen Gottseligkeit wird verschwinden. Diese Wahrheit hat die Geschichte der Kirche wiederholt veranschaulicht. Gott verlangt von seinem Volk Werke des Glaubens und des Gehorsams, den verliehenen Segnungen und Vorrechten entsprechend. Der Gehorsam verlangt ein Opfer und schließt ein Kreuz ein, und deshalb weigern sich auch so viele bekenntliche Nachfolger Christi, das Licht vom Himmel anzunehmen, und erkennen, gleich den Juden vor alters nicht die Zeit, darin sie heimgesucht werden. (Luk. 19, 44.) Ihres Stolzes und Unglaubens willen ging der Herr an ihnen vorüber und offenbarte seine Wahrheit denen, die, wie die Hirten Bethlehems und die Weisen aus dem Morgenland, alles Licht, das ihnen verliehen worden war, beachtet hatten.


 
KAPITEL 18

EIN GLAUBENSMANN DER LETZTEN ZEIT

Ein biederer und schlichter Landmann, der verleitet worden war, die Autorität der Heiligen Schrift zu bezweifeln, dennoch aufrichtig danach verlangte, die Wahrheit zu erkennen, wurde von Gott besonders auserwählt, in der Verkündigung des zweiten Kommens Christi eine leitende Stellung einzunehmen. Gleich vielen anderen Reformatoren hatte William Miller (siehe Anhang) in seiner Jugend mit Armut gekämpft und auf diese Weise Strebsamkeit und Selbstverleugnung gelernt. Die Glieder der Familie, der er angehörte, zeichneten sich durch einen unabhängigen, freiheitsliebenden Geist, durch Ausdauer und glühende Vaterlandsliebe aus Züge, welche auch in seinem Charakter hervorstechend waren. Sein Vater war ein Hauptmann in der Revolutionsarmee, und auf die Opfer, welche er in den Kämpfen und Leiden jener stürmischen Zeit brachte, können wohl die drückenden Verhältnisse in den ersten Lebensjahren Millers zurückgeführt werden.
Er hatte einen gesunden kräftigen Körperbau und zeigte schon in der Kindheit eine ungewöhnliche Verstandeskraft. Als er älter wurde, trat dies noch mehr hervor. Sein Geist war tätig und gut entwickelt, und ihn dürstete nach Kenntnissen. Obwohl er sich der Vorteile einer akademischen Bildung nicht erfreute, machten ihn doch seine Liebe zum Studium und die Gewohnheit sorgfältigen Denkens und scharfer Unterscheidung zu einem Mann von gesundem Urteil und umfassender Anschauung. Er besaß einen untadelhaften sittlichen Charakter, und einen beneidenswerten Ruf und war allgemein wegen seiner Rechtschaffenheit, Sparsamkeit und Wohltätigkeit geachtet. Durch seine Tatkraft und seinen Fleiß erwarb er sich schon früh sein Auskommen, wenngleich er seine Gewohnheit des Studiums noch immer aufrecht hielt. Er bekleidete mit Erfolg verschiedene bürgerliche und militärische Ämter, und der Weg zu Reichtum und Ehre schien ihm geöffnet zu sein.
Seine Mutter war eine Frau von echter Frömmigkeit, und er selbst war in seiner Kindheit für religiöse Eindrücke empfänglich. Im frühen Mannesalter jedoch geriet er in die Gesellschaft von Deisten, die einen so größeren Einfluß auf ihn ausübten, da die meisten gute Bürger, menschenfreundliche und wohltätige Leute waren, deren Charakter, da sie inmitten christlicher Einrichtungen wohnten, gewissermaßen das Gepräge ihrer Umgebung angenommen hatte. Die Vorzüge, die ihnen Achtung und Vertrauen gewannen, hatten sie der Bibel zu verdanken; und doch waren diese guten Gaben so verkehrt worden, daß sie einen dem Worte Gottes zuwiderlaufenden Einfluß ausübten. Der Umgang mit ihnen veranlaßte Miller, ihre Ansichten anzunehmen. Die gängige Auslegung der Schrift schien ihm unüberwindliche Schwierigkeiten zu bereiten, und doch bot sein neuer Glaube, indem er die Bibel beiseite setzte, nichts Besseres, das ihre Stelle hätte einnehmen können, und er war keineswegs befriedigt. Immerhin hielt er ungefähr zwölf Jahre an diesen Ansichten fest. Im Alter von 34 Jahren jedoch bewirkte der Heilige Geist in ihm die Überzeugung, daß er ein Sünder sei. Er fand in seinem früheren Glauben keine Gewißheit einer Glückseligkeit jenseits des Grabes. Die Zukunft war düster und unheimlich. Auf seine Gefühle zu jener Zeit bezugnehmend, sagte er später:
„Vernichtung war ein kalter, schauriger Gedanke, und die Verantwortlichkeit war ein sicherer Untergang für alle. Der Himmel über meinem Haupte war gleich Erz, und die Erde unter meinen Füßen wie Eisen. Die Ewigkeit - was war sie? Und der Tod – warum war er? Je mehr ich die Sache zu ergründen suchte, desto zerfahrener wurden meine Schlüsse. Ich versuchte es, dem Denken Einhalt zu tun, aber meine Gedanken ließen sich nicht beherrschen. Ich fühlte mich wahrhaft elend, verstand aber nicht die Ursache. Ich murrte und klagte, ohne zu wissen über wen. Ich war überzeugt, daß irgendwo ein Fehler lag, wußte aber nicht, wo oder wie das Richtige zu finden sei. Ich trauerte, jedoch ohne Hoffnung.“
In diesem Zustand verharrte er mehrere Monate. „Plötzlich“, sagt er, „wurde meinem Gemüte lebhaft der Charakter eines Heilandes eingeprägt. Es schien mir, daß es ein Wesen gebe, so gut und mitleidig, um sich selbst für unsere Übertretungen als Sühne anzubieten und dadurch uns von der Erleidung der Sündenstrafe zu retten. Sofort fühlte ich, wie liebreich ein solches Wesen sein müsse, und stellte mir vor, daß ich mich in die Arme eines solchen werfen und seiner Gnade vertrauen könnte. Aber die Frage erhob sich: Wie kann es erwiesen werden, daß es ein solches Wesen gibt? Ich fand, daß ich außerhalb der Bibel keinen Beweis für das Bestehen eines solchen Heilandes oder eines zukünftigen Daseins entdecken konnte. ...
„Ich sah, daß die Bibel gerade einen solchen Heiland darstellte, wie ich ihn nötig hatte, und ich wunderte mich, wie ein uninspiriertes Buch Grundsätze entwickeln konnte, die den Bedürfnissen einer gefallenen Welt so vollkommen angepaßt waren. Ich sah mich gezwungen zuzugeben, daß die Heilige Schrift eine Offenbarung von Gott sein müsse. Sie wurde mein Entzücken; und in Jesu fand ich einen Freund. Der Heiland wurde für mich der Auserkorene unter vielen Tausenden, und die Heilige Schrift, die zuvor dunkel und voller Widersprüche war, wurde meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege. Mein Gemüt wurde ruhig und zufrieden. Ich erkannte Gott den Herrn als einen Fels inmitten des Ozeans des Lebens. Die Bibel wurde nun mein Hauptstudium, und ich kann in Wahrheit sagen, ich durchforschte sie mit großer Freude. Ich fand, daß mir nie die Hälfte gesagt worden war. Es wunderte mich, daß ich ihre Schöne und Herrlichkeit nicht eher gesehen hatte, und ich erstaunte darüber, daß ich sie je verwerfen konnte. Mir wurde alles offenbart, was mein Herz sich wünschen konnte; ich fand ein Heilmittel für jeden Schaden meiner Seele. Ich verlor den Gefallen an anderem Lesestoff und ließ es mir angelegen sein, Weisheit von Gott zu erlangen.“ (Bliß, Erinnerungen an Wm. Miller, S. 65-67.)
Miller bekannte nun öffentlich seinen Glauben an die Religion, welche er ehedem verachtet hatte. Aber seine ungläubigen Gefährten waren nicht müßig, jene Beweisführungen vorzubringen, welche er selbst oft gegen die göttliche Autorität der Heiligen Schrift angewandt hatte. Er war damals nicht vorbereitet, sie zu beantworten, folgerte aber, daß die Bibel, wenn sie eine Offenbarung Gottes sei, mit sich selbst übereinstimmen müsse. Er entschloß sich, die Heilige Schrift selbst zu studieren und sich zu vergewissern, ob nicht die anscheinenden Widersprüche in Einklang gebracht werden könnten.
Indem er sich bemühte, alle vorgefaßten Ansichten beiseite zulegen, verglich er ohne irgendwelche Kommentare Bibelstelle mit Bibelstelle, wobei er sich der angegebenen ParalleIstellen und der Konkordanz bediente. Er verfolgte sein Studium in einer regelmäßigen und planmäßigen Weise; er fing mit dem ersten Buch Mose an, las Vers für Vers und ging nicht schneller voran, als sich ihm die Bedeutung der verschiedenen Stellen so erschloß, daß ihm nichts unklar an ihnen blieb. War ihm eine Stelle dunkel, so verglich er sie mit allen anderen Texten, die irgendwelche Beziehung zu dem in Betrachtung stehenden Gegenstand zu haben schienen. Jedes Wort prüfte er bezüglich seiner Stellung zum Gegenstand der Bibelstelle, und wenn seine Ansicht dann mit jedem gleichlaufenden Text übereinstimmte, so war die Schwierigkeit überwunden. Auf diese Weise fand er immer in irgendeinem anderen Teil der Heiligen Schrift eine Erklärung für eine schwer verständliche Stelle. Da er unter ernstem Gebet um göttliche Erleuchtung forschte, wurde das, was ihm vorher dunkel erschienen war, seinem Verständnis klar. Er erfuhr die Wahrheit der Worte des Psalmisten: „Wenn dein Wort offenbar wird, so erfreuet es und macht klug die Einfältigen.“ (Ps. 119, 130.)
Mit ungemeiner Wißbegier studierte er das Buch Daniel und die Offenbarung, wobei er dieselben Grundsätze zum Verständnis anwandte wie bei den anderen Teilen der Heiligen Schrift und fand zu seiner großen Freude, daß die prophetischen Sinnbilder verstanden werden konnten. Er sah, daß die schon erfüllten Weissagungen sich buchstäblich erfüllt hatten; daß all die verschiedenen Bilder, Gleichnisse, Ausdrücke usw., entweder in ihrem unmittelbaren Zusammenhang erklärt waren, oder daß die Worte, in welchen sie ausgedrückt waren, an anderen Stellen näher bestimmt wurden, und wenn auf diese Weise erklärt, buchstäblich verstanden werden sollten. Er sagt: „So wurde ich überzeugt, daß die Bibel eine Kette offenbarter Wahrheiten ist, so deutlich und einfach gegeben, daß selbst der einfache Mann nicht zu irren braucht.“ (Bliß, S. 70.) Das Verständnis einer Kette der Wahrheit nach der andern belohnte seine Anstrengungen, als er Schritt für Schritt die großen Umrisse der Weissagungen verfolgte. Engel des Himmels lenkten seine Gedanken und eröffneten das Wort Gottes seinem Verständnis.
Indem er die noch zu erfüllenden Weissagungen nach der Art und Weise beurteilte, wie die Prophezeiungen in der Vergangenheit sich erfüllt hatten, wurde er überzeugt, daß die volkstümliche Ansicht von der geistigen Regierung Christi - einem irdischen Tausendjährigen Reich vor dem Ende der Welt - nicht von dem Worte Gottes unterstützt wurde. Diese Lehre, welche auf ein Jahrtausend der Gerechtigkeit und des Friedens vor der persönlichen Wiederkunft des Herrn hinwies, schob die Schrecken des Tages des Herrn weit hinaus in die Zukunft. Wenngleich dies auch vielen sehr angenehm sein dürfte, so war es doch den Lehren Christi und seiner Apostel direkt zuwider, welche erklärten, daß der Weizen und das Unkraut zusammen wachsen müssen bis zur Zeit der Ernte, dem Ende der Welt; daß es „mit den bösen Menschen aber und verführerischen ... je länger je ärger“ wird, „daß in den letzten Tagen greuliche Zeiten kommen“ werden, und daß das Reich der Finsternis fortbestehen müsse bis zur Ankunft des Herrn, wenn es verzehrt werden soll mit dem Geist seines Mundes und seiner ein Ende gemacht werde durch die Erscheinung seiner Zukunft. (Matth. 13, 30. 38-41; 2. Tim. 3, 13. 1; 2. Thess. 2, 8.)
Die Lehre von der Bekehrung der Welt und der geistlichen Herrschaft Christi wurde von der apostolischen Kirche nicht geglaubt. Sie fand keine allgemeine Annahme unter den Christen bis ungefähr zu Anfang des 18. Jahrhunderts. Wie jeglicher andere Irrtum hatte auch dieser seine schlimmen Folgen. Er lehrte die Menschen, das zweite Kommen des Herrn erst in der fernen Zukunft zu erwarten, und hielt sie davon ab, die Zeichen, welche sein Herannahen verkündigen, zu beachten. Er erzeugte ein Gefühl der Sorglosigkeit und Sicherheit, dem ein guter Grund mangelte, und viele veranlaßte, die notwendige Vorbereitung, um ihrem Herrn begegnen zu können, zu vernachlässigen.
Miller fand, daß das buchstäbliche, persönliche Kommen Christi in der Heiligen Schrift deutlich gelehrt wird. Paulus sagt: „Denn er selbst, der Herr, wird mit einem Feldgeschrei und der Stimme des Erzengels und mit der Posaune Gottes hernieder kommen vom Himmel.“ (l. Thess. 4, 16.) Und der Heiland erklärt: „Und werden sehen kommen des Menschen Sohn in den Wolken des Himmels mit großer Kraft und Herrlichkeit.“ „Denn gleichwie der Blitz ausgeht vom Aufgang und scheint bis zum Niedergang, also wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes.“ (Matth. 24, 30. 27.) Er wird von all den Scharen des Himmels begleitet werden. Des Menschen Sohn wird kommen „in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm.“ „Und er wird senden seine Engel mit hellen Posaunen, und sie werden sammeln seine Auserwählten.“ (Matth. 25, 31. 32; 24, 31.)
Bei seinem Kommen werden die gerechten Toten auferweckt und die gerechten Lebenden verwandelt werden. Paulus sagt: „Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden; und dasselbe plötzlich, in einem Augenblick, zur Zeit der letzten Posaune. Denn es wird die Posaune schallen, und die Toten werden auferstehen unverweslich, und wir werden verwandelt werden. Denn dies Verwesliche muß anziehen die Unverweslichkeit, und dies Sterbliche muß anziehen die Unsterblichkeit.“ (l. Kor. 15, 51-53.) Und in seinem Brief an die Thessalonicher sagt er, nachdem er das Kommen des Herrn beschrieben hat: „Die Toten in Christo werden auferstehen zuerst. Danach wir, die wir leben und überbleiben, werden zugleich mit ihnen hingerückt werden in den Wolken dem Herrn entgegen in der Luft, und werden also bei dem Herrn sein allezeit.“ (l. Thess. 4, 16. 17.)
Nicht eher als bis zur Zeit der persönlichen Ankunft Christi kann sein Volk das Reich ererben. Der Heiland sagte: „Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden. Und er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!“ (Matth. 25, 31.34.) Wir haben aus den eben vorher angeführten Bibelstellen gesehen, daß wenn des Menschen Sohn kommt, die Toten unverweslich auferweckt und die Lebenden verwandelt werden. Durch die große Verwandlung werden sie zubereitet, das Reich zu ererben; denn Paulus sagt: „Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben; auch wird das Verwesliche nicht erben das Unverwesliche.“ (1. Kor. 15, 50.) Der Mensch in seinem gegenwärtigen Zustand ist sterblich, verweslich; das Reich Gottes hingegen wird unverweslich, ewigwährend sein. Deshalb kann der Mensch in seinem gegenwärtigen Zustand das Reich nicht ererben. Kommt aber Jesus, so wird er seinem Volk die Unsterblichkeit verleihen; und dann ruft er sie, das Reich einzunehmen, von dem sie bisher nur Erben gewesen sind.
Diese und andere Bibelstellen waren für Miller deutliche Beweise, daß die Ereignisse, von denen man allgemein annahm, daß sie vor dem Kommen Christi stattfinden sollten, wie die allgemeine Friedensherrschaft und die Aufrichtung des Reiches Gottes auf Erden, der Wiederkunft Christi nachfolgen müßten. Ferner fand er, daß alle Zeichen der Zeit und der Zustand der Welt der prophetischen Beschreibung der letzten Tage entsprachen. Er kam allein durch das Studium der Heiligen Schrift zu dem Schluß, daß die Zeit, die für das Fortbestehen der Erde in ihrem gegenwärtigen Zustand bestimmt war, dem Ende nahe sei.
„Ein anderer Beweis, der mich wesentlich beeinflußte,“ sagt er, „war die Zeitrechnung der Heiligen Schrift. ... Ich fand, daß vorhergesagte Ereignisse, welche in der Vergangenheit erfüllt worden waren, sich oft innerhalb einer bestimmten Zeit zutrugen. Die 120 Jahre der Sintflut (l. Mose 6, 3), die sieben Tage, die ihr vorhergehen sollten mit vierzig Tagen vorhergesagten Regens (l. Mose 7, 4), die 400 Jahre des Aufenthaltes des Samens Abrahams in dem fremden Lande (l. Mose 15, 13), die drei Tage in den Träumen des Mundschenken und des Bäckers (l. Mose 40, 12-20), Pharaos sieben Jahre (l. Mose 41, 28-54), die 40 Jahre in der Wüste (4. Mose 14, 34), die 3½ Jahre der Hungersnot (l. Kön. 17, 1; siehe Luk. 4, 25),... die 70 Jahre der Gefangenschaft (Jer. 25, 11), Nebukadnezars sieben Zeiten (Dan. 4, 13-16), und die sieben Wochen, die 62 Wochen und eine Woche, was zusammen 70 Wochen ausmacht, die für die Juden bestimmt waren (Dan. 9, 24-27): die durch diese Zeiten begrenzten Ereignisse waren alle einst nur Sache der Weissagung und wurden in Übereinstimmung mit den Vorhersagungen erfüllt.“ (B liß, S. 74. 75.)
Als er deshalb in seinem Bibelstudium verschiedene Zeitabschnitte fand, welche sich, wie er sie verstand, bis auf das zweite Kommen Christi erstreckten, konnte er sie nur als „zuvor bestimmte Zeiten“ ansehen, welche Gott seinen Knechten enthüllt hatte. Mose sagt: „Das Geheimnis [Verborgene] ist des Herrn, unsres Gottes; was aber offenbart ist, das ist unser und unserer Kinder ewiglich;“ und der Herr erklärt durch den Prophet Amos, er „tut nichts, er offenbare denn sein Geheimnis den Propheten, seinen Knechten.“ (5. Mose 29, 29; Amos 3, 7.) Die Forscher des Wortes Gottes dürfen deshalb zuversichtlich erwarten, die gewaltigsten Ereignisse, welche in der menschlichen Geschichte stattfinden sollen, in den Schriften der Wahrheit deutlich angegeben zu finden.
Miller sagt: „Da ich völlig überzeugt war, daß alle Schrift von Gott eingegeben, nützlich ist, daß sie nie aus menschlichem Willen hervorgebracht wurde, sondern daß die heiligen Menschen Gottes geredet haben, getrieben von dem Heiligen Geist, und uns zur Lehre schrieben, ’auf daß wir durch Geduld und Trost der Schrift Hoffnung haben;’ (2. Tim. 3, 16; 2. Petr. 1, 21; Röm. 15, 4.) konnte ich die chronologischen Teile der Bibel nicht anders als ebensosehr unserer ernsten Beachtung wert betrachten wie irgendeinen andern Teil der Heiligen Schrift. Ich dachte deshalb, daß ich in meinen Bemühungen, das zu verstehen, was Gott in seiner Barmherzigkeit für gut gefunden hatte, uns zu offenbaren, kein Recht habe, die prophetischen Zeitangaben zu übergehen.“ (Bliß, S. 75.)
Die Weissagung, welche die Z e i t der zweiten Ankunft Christi am deutlichsten vor Augen zu führen schien, war die in Dan. 8, 14: „Bis zweitausenddreihundert Abende und Morgen um sind; dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden.“ Seiner Regel getreu folgend, das Wort Gottes zu seinem eigenen Ausleger zu machen, lernte Miller, daß ein Tag in sinnbildlicher Weissagung ein Jahr bedeutet. (4. Mose 14, 34; Hes. 4, 6.) Er sah, daß der Zeitraum von 2300 prophetischen Tagen oder buchstäblichen Jahren sich weit über das des jüdischen Gnadenhaushaltes hinaus erstreckte und sich somit nicht auf das Heiligtum jenes Bundes beziehen konnte. Miller teilte die verbreitete Ansicht, daß im christlichen Zeitalter die Erde das Heiligtum sei, und verstand deshalb, daß [das Weihen oder] die Reinigung des Heiligtums, von der in Dan. 8, 14 gesprochen wird, die Reinigung der Erde durch Feuer beim zweiten Kommen Christi darstelle. Wenn also der richtige Ausgangspunkt für die 2300 Tage gefunden werden könnte, dann wäre man auch leicht imstande, meinte er, die Zeit der Wiederkunft Christi festzustellen. Auf diese Weise würde die Zeit jener großen Vollendung offenbart werden, die Zeit, da der gegenwärtige Zustand mit „all seinem Stolz und seiner Macht, seinem Gepränge und seiner Eitelkeit, seiner Gottlosigkeit und Unterdrückung ein Ende hat;“ da der Fluch „von der Erde hinweg genommen, der Tod vernichtet, die Knechte Gottes, die Propheten, die Heiligen und alle, die seinen Namen fürchten, belohnt, und jene, welche die Erde verderben, umgebracht werden sollen.“ (Bliß, S. 76.)
Mit erneutem und größerem Ernst setzte Miller die Prüfung der Weissagungen fort und widmete Tag und Nacht dem Studium dessen, was ihm von so gewaltiger Wichtigkeit und alles überragender Bedeutung zu sein schien. Im achten Kapitel Daniel konnte er keinen Anhalt für den Ausgangspunkt der 2300 Tage finden. Der Engel Gabriel, obgleich beauftragt, dem Daniel das Gesicht zu erklären, gab ihm nur eine teilweise Auslegung. Als der Prophet die schreckliche Verfolgung sah, welche die Gemeinde befallen würde, verließ ihn die körperliche Kraft. Er konnte nicht mehr ertragen, und der Engel verließ ihn einstweilen. Daniel „ward schwach und lag etliche Tage krank.“ „Und [ich] verwunderte mich des Gesichts,“ sagt er, „und niemand war, der mir’s auslegte.“
Doch Gott hatte seinem Boten befohlen: „Lege diesem das Gesicht aus, daß er’s verstehe.“ Dieser Auftrag mußte vollzogen werden, und deshalb kehrte der Engel später zu Daniel zurück und sagte: „Jetzt bin ich ausgegangen, dich zu unterrichten. ... So merke nun darauf, daß du das Gesicht verstehst.“ (Dan. 9, 22. 23. 2527.) In dem Gesicht des achten Kapitels war ein wichtiger Punkt nicht erklärt worden, nämlich die Zeit - der Zeitraum der 2300 Tage; deshalb verweilt der Engel in der Wiederaufnahme seiner Erklärung hauptsächlich bei dem Gegenstand der Zeit.
„Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt. ... So wisse nun und merke: von der Zeit an, da ausgeht der Befehl, daß Jerusalem soll wiederum gebaut werden, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen, so werden die Gassen und Mauern wieder gebaut werden, wiewohl in kümmerlicher Zeit. Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der Gesalbte ausgerottet werden und nichts mehr sein. ... Er wird aber vielen den Bund stärken eine Woche lang. Und mitten in der Woche wird das Opfer und Speisopfer aufhören.“
Der Engel war zu dem besonderen Zweck zu Daniel gesandt worden, um ihm den Punkt, welchen er in dem Gesicht vom achten Kapitel nicht verstanden hatte, zu erklären, nämlich die Angabe bezüglich der Zeit. „Bis Zweitausenddreihundert Abende und Morgen um sind, dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden.“ Nachdem er Daniel aufgefordert hatte, „so merke nun darauf, daß du das Gesicht verstehst,“ waren die ersten weiteren Worte des Engels: „Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt.“ Das hier mit „bestimmt“ wiedergegebene Wort bedeutet wörtlich „abgeschnitten“. Der Engel erklärt, daß siebzig Wochen, also 490 Jahre, abgeschnitten seien, als besonders den Juden gehörig. Wovon aber waren sie abgeschnitten? Da die 2300 Tage die einzige im achten Kapitel erwähnte Zeitspanne ist, so müssen die siebzig Wochen von diesem Zeitraum abgeschnitten sein und somit einen Teil der 2300 Tage ausmachen; und zwar müssen diese beiden Abschnitte zusammen anfangen. Die siebzig Wochen sollten nach der Erklärung des Engels mit dem Ausgehen des Befehls, Jerusalem wieder herzustellen, anfangen. Ließe sich das Datum dieses Befehls finden, so wäre auch der Ausgangspunkt der großen Periode von 2300 Tagen festgestellt.
Im siebenten Kapitel Esras befindet sich dieser Befehl. (Esra 7, 12-16.) Er ward in seiner vollständigen Form von Artaxerxes, dem König von Persien, im Jahre 457 v. Chr. erlassen. In Esra 6, 14 heißt es jedoch, daß das Haus des Herrn zu Jerusalem gebaut worden sei „nach dem Befehl des Kores [Cyrus], Darius und Arthahsastha [Artaxerxes], der Könige in Persien.“ Diese drei verfaßten, bestätigten und vervollständigten den Erlaß, der dann die für die Weissagung notwendige Vollkommenheit hatte, um den Anfangspunkt der 2300 Jahre zu bezeichnen. Indem das Jahr 457 v. Chr., in welchem das Dekret vollendet wurde, als Zeit des Ausganges des Befehls angenommen wurde, zeigte sich, daß jede Einzelheit der Weissagung hinsichtlich der siebzig Wochen erfüllt worden war.
„Von der Zeit an, da ausgeht der Befehl, daß Jerusalem soll wiederum gebaut werden, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen“ - also 69 Wochen oder 483 Jahre. Der Erlaß des Artaxerxes trat im Herbst des Jahres 457 v. Chr. in Kraft. Von diesem Zeitpunkt an gerechnet erstreckten sich 483 Jahre bis auf den Herbst des Jahres 27 n. Chr. (Siehe Anhang; siehe auch die Zeittafel.) Zu jener Zeit ging die Weissagung in Erfüllung. Im Herbst des Jahres 27 n. Chr. wurde Christus von Johannes getauft und empfing die Salbung des Heiligen Geistes. Der Apostel Petrus legt Zeugnis ab, daß „Gott diesen Jesus von Nazareth gesalbt hat mit dem Heiligen Geist und Kraft.“ (Apg. 10, 38.) Und der Heiland selbst erklärte: „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt zu verkündigen das Evangelium den Armen.“ (Luk. 4, 18.) Nach seiner Taufe „kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium vom Reich Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt.“ (Mark. 1, 14. 15.)
„Er wird aber vielen den Bund stärken eine Woche lang.“ Die hier erwähnte Woche ist die letzte der siebzig; es sind die letzten sieben Jahre der den Juden besonders zugemessenen Zeitspanne. Während dieser Zeit, welche von 27 - 34 n. Chr. sich erstreckt, ließ Jesus erst persönlich, dann durch seine Jünger die Einladung des Evangeliums ganz besonders an die Juden ergehen. Als die Apostel mit der frohen Botschaft vom Reich hinausgingen, war die Anweisung des Heilandes: „Gehet nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.“ (Matth. 10, 5.6.)
„Mitten in der Woche wird das Opfer und Speisopfer aufhören.“ Im Jahre 31 n. Chr., 3½ Jahre nach seiner Taufe, wurde der Herr gekreuzigt. Mit diesem großen auf Golgatha dargebrachten Opfer hörte jenes Opfersystem auf, welches vier Jahrtausende lang vorwärts auf das Lamm Gottes hingewiesen hatte. Der Schatten war im Wesen aufgegangen, und alle Opfer und Gaben des Zeremonialgesetzes sollten hier enden.
Die besonders für die Juden bestimmten siebzig Wochen oder 490 Jahre liefen, wie wir gesehen haben, im Jahre 34 n. Chr. ab. Zu jener Zeit besiegelte die Nation durch den Beschluß des jüdischen Hohen Rates ihre Verwerfung des Evangeliums, indem sie Stephanus steinigte und die Nachfolger Christi verfolgte. Dann wurde die Heilsbotschaft, die hinfort nicht länger auf das auserwählte Volk beschränkt war, der Welt verkündigt. Die Jünger, durch Verfolgung gezwungen, aus Jerusalem zu fliehen, „gingen um und predigten das Wort. Philippus aber kam hinab in eine Stadt in Samarien und predigte ihnen von Christo.“ (Apg. 8, 4. 5.) Petrus, von Gott geleitet, erschloß dem Hauptmann von Cäsarea, dem gottesfürchtigen Kornelius, das Evangelium, und der eifrige Paulus, für den Glauben Jesu gewonnen, wurde beauftragt, die frohe Botschaft „ferne unter die Heiden“ zu tragen. (Apg. 22, 21.)
Soweit ist jegliche Angabe der Weissagung auffallend erfüllt und der Anfang der siebzig Wochen ohne irgendwelchen Zweifel auf 457 v. Chr. und ihr Ablauf auf 34 n. Chr. festgelegt worden. Mittels dieser Angaben ist es nicht schwer, das Ende der 2300 Tage zu finden. Da die siebzig Wochen - 490 Tage - von den 2300 abgeschnitten sind, bleiben noch 1810 Tage übrig. Nach Beendigung der 490 Tage mußten die 1810 Tage noch erfüllt werden. Vom Jahre 34 n. Chr. erstrecken sich 1810 Jahre bis zum Jahr 1844. Nach dem Ablauf dieser großen prophetischen Zeitspanne sollte nach dem Zeugnis des Engels Gottes „das Heiligtum wieder geweiht [gereinigt] werden.“ Somit war die Zeit der Weihung oder Reinigung des Heiligtums - welches Ereignis, wie man beinahe allgemein glaubte, zur Zeit des zweiten Kommens stattfinden sollte - genau und bestimmt angegeben.
Miller und seine Mitarbeiter glaubten anfangs, die 2300 Tage würden im Frühling des Jahres 1844 ablaufen, wohingegen die Weissagung auf den Herbst jenes Jahres verweist. (Siehe die Angaben auf der Zeittafel und auch den Anhang.) Das Mißverständnis betreffs dieses Punktes brachte denen, welche das frühere Datum als die Zeit des Kommens des Herrn angenommen hatten, Enttäuschung und Unruhe. Aber dies beeinträchtigte auch nicht im geringsten die Kraft der Beweisführung, daß die 2300 Tage im Jahre 1844 zu Ende gehen, und daß das große, durch die Weihung (Reinigung) des Heiligtums bezeichnete Ereignis, dann stattfinden mußte.
Als Miller sich an das Studium der Heiligen Schrift gemacht hatte, um zu beweisen, daß sie eine Offenbarung von Gott sei, hatte er nicht die geringste Ahnung, zu dem Schluß zu kommen, den er jetzt erreicht hatte. Er konnte die Ergebnisse seiner Forschung selbst kaum glauben, aber der schriftgemäße Beweis war zu klar und zu stark, als daß er ihn hätte unbeachtet lassen können.
Er hatte zwei Jahre auf das Studium der Bibel verwandt, als er im Jahre 1818 zu der feierlichen Überzeugung kam, daß in ungefähr 25 Jahren Christus zur Erlösung seines Volkes erscheinen würde. „Ich brauche,“ sagte Miller, „nicht von der Freude zu reden, die im Hinblick auf die entzückende Aussicht mein Herz erfüllte, oder von dem heißen Sehnen meiner Seele nach einem Anteil an den Freuden der Erlösten. Die Bibel war mir nun ein neues Buch. Sie war mir in der Tat ein angenehmes geistreiches Gespräch; alles, was mir finster, geheimnisvoll oder dunkel war in ihren Lehren, war von dem hellen Licht, welches nun aus ihren heiligen Blättern hervorbrach, zerstreut worden; und o, wie glänzend und herrlich erschien die Wahrheit! Alle Widersprüche und Ungereimtheiten, die ich vorher in dem Worte gefunden hatte, waren verschwunden; und wenn auch noch viele Stellen da waren, von denen mir, wie ich überzeugt war, ein volles Verständnis mangelte, so war doch soviel Licht zur Erleuchtung meines vorher verfinsterten Gemütes daraus hervorgegangen, daß ich beim Studium der Heiligen Schrift ein Entzücken empfand, welches ich nie geglaubt hätte, aus ihren Lehren erlangen zu können.“ (Bliß, S. 76. 77.)
„Unter der feierlichen Überzeugung, daß so überwältigende Ereignisse, wie sie in der Heiligen Schrift vorhergesagt waren, sich in einem kurzen Zeitraum erfüllen sollten, trat mit gewaltiger Macht die Frage an mich heran, welche Pflicht ich angesichts der Beweise, die mein eigenes Gemüt ergriffen hatten, der Welt gegenüber habe.“ (Bliß, S. 81.) Miller fühlte, daß es seine Pflicht sei, das Licht, welches er empfangen hatte, andern mitzuteilen. Er erwartete seitens der Gottlosen Widerspruch anzutreffen, war aber von Zuversicht, daß alle Christen sich der Hoffnung freuen würden, dem Heiland, welchen sie liebten, zu begegnen. Seine einzige Befürchtung war, daß viele in der großen Freude auf die glorreiche Befreiung, die sich so bald erfüllen sollte, die Lehre annehmen würden, ohne hinreichend die Schriftstellen zu prüfen, die diese Wahrheit darstellten. Er zögerte noch, sie vorzutragen, damit er nicht, falls selbst im Irrtum, das Mittel werde, andere irrezuleiten. Dadurch wurde er veranlaßt, die Beweise seiner Schlüsse nochmals zu prüfen, und jede Schwierigkeit, die sich ihm entgegenstellte, sorgfältig zu betrachten. Er fand, daß die Einwände vor dem Licht des Wortes Gottes verschwanden wie der Nebel vor den Strahlen der Sonne. Nach fünf auf diese Weise zugebrachten Jahren war er vollständig von der Richtigkeit seiner Stellung überzeugt.
Jetzt drängte sich ihm mit neuer Kraft die Pflicht auf, anderen das bekannt zu machen, was, wie er glaubte, in der Heiligen Schrift klar gelehrt werde. Er sagte: „Wenn ich meinem Geschäft nachging, tönte es beständig in meinen Ohren: Geh und erzähle der Welt von ihrer Gefahr. Folgende Bibelstelle kam mir immer wieder in den Sinn: ’Wenn ich nun zu dem Gottlosen sage: Du Gottloser mußt des Todes sterben! und du sagst ihm solches nicht, daß sich der Gottlose warnen lasse vor seinem Wesen, so wird wohl der Gottlose um seines gottlosen Wesens willen sterben; aber sein Blut will ich von deiner Hand fordern. Warnst du aber den Gottlosen vor seinem Wesen, daß er sich davon bekehre, und er will sich nicht von seinem Wesen bekehren, so wird er um seiner Sünde willen sterben, und du hast deine Seele errettet.’ (Jes. 33, 8. 9.) Ich fühlte, daß falls die Gottlosen nachdrücklich gewarnt werden könnten, sehr viele Buße tun würden; daß aber, wenn sie nicht gewarnt würden, ihr Blut von meiner Hand gefordert werden möchte.“ (Bliß, S. 92.)
Miller fing an, seine Ansichten im stillen, wie die Gelegenheit sich ihm bot, zu verbreiten und betete, daß irgendein Prediger die Notwendigkeit erkennen und sich ihrer Verbreitung widmen möchte. Aber er konnte die Überzeugung nicht verbannen, daß er in der Verkündigung der Warnung eine persönliche Pflicht zu erfüllen habe. Beständig schwebten seinem Geiste die Worte vor: „Geh und sage es der Welt; ihr Blut werde ich von deiner Hand fordern.“ Neun Jahre wartete er, und immer noch lastete die Bürde auf seiner Seele, bis er im Jahre 1831 zum ersten Mal öffentlich die Gründe seines Glaubens darlegte.
Wie Elisa vom Treiben seiner Ochsen auf dem Felde weggerufen wurde, um den Mantel, der ihn zum Prophetenamt weihte, zu empfangen, so wurde William Miller aufgefordert, seinen Pflug zu verlassen und dem Volk die Geheimnisse des Reiches Gottes zu eröffnen. Mit Zittern trat er sein Werk an, indem er seine Zuhörer Schritt für Schritt durch die prophetischen Perioden hindurch zu dem zweiten Kommen Christi führte. Mit jeder Anstrengung gewann er Kraft und Mut, denn er sah das weitverbreitete Aufsehen, das durch seine Worte hervorgerufen wurde.
Nur durch das Anhalten seiner Glaubensbrüder, in deren Worten er den Ruf Gottes hörte, ließ sich Miller bewegen, seine Ansichten öffentlich vorzutragen. Er war nun 50 Jahre alt, des öffentlichen Redens ungewohnt und belastet mit einem Gefühl der Untauglichkeit für das vor ihm liegende Werk. Aber von Anfang an wurden seine Bemühungen in einer bemerkenswerten Weise zur Rettung von Seelen gesegnet. Seinem ersten Vortrag folgte eine religiöse Erweckung, in welcher dreizehn ganze Familien mit Ausnahme von zwei Personen bekehrt wurden. Er wurde sofort gebeten, an andern Orten zu sprechen, und beinahe überall erfolgte eine Wiederbelebung des Wortes Gottes. Sünder wurden bekehrt, Christen zu größerer Hingabe angeregt und Deisten und Ungläubige zur Anerkennung der Bibelwahrheiten und der christlichen Religion geführt. Diejenigen, unter denen er arbeitete, bezeugten: „Von ihm wird eine Klasse von Menschen erreicht, die sich von anderen Männern nicht beeinflussen lassen.“ (Bliß, S. 138.) Seine Predigt war dazu geeignet, das allgemeine Verständnis für die großen Dinge der Religion zu erwecken und die überhandnehmende Weltlichkeit und Sinnlichkeit der Zeit im Zaume zu halten.
Beinahe in jeder Stadt wurden infolge seiner Predigt viele, an etlichen Orten Hunderte, bekehrt. An vielen Orten wurden ihm die protestantischen Kirchen fast aller Bekenntnisse geöffnet, und die Einladungen an Miller kamen gewöhnlich von den Predigern der verschiedenen Gemeinden. Er machte es sich zur Regel, an keinem Ort zu wirken, wohin er nicht eingeladen worden war, doch sah er sich bald außerstande, auch nur der Hälfte der Gesuche, mit denen man ihn überhäufte, nachzukommen.
Viele, welche seine Ansichten hinsichtlich der genauen Zeit der zweiten Erscheinung Christi nicht annahmen, wurden doch von der Gewißheit und Nähe seines Kommens und der Notwendigkeit einer Vorbereitung überzeugt. In einigen der großen Städte machte Millers Wirken einen sichtbaren Eindruck. Schenkwirte gaben ihren Handel auf und verwandelten ihre Trinkstuben in Versammlungssäle; Spielhöllen wurden aufgehoben; Ungläubige, Deisten, Universalisten und selbst die verkommensten Bösewichte, von denen etliche jahrelang kein Gotteshaus betreten hatten, wurden reformiert. Gebetsversammlungen wurden von den verschiedenen Gemeinschaften in allen Stadtvierteln zu beinahe jeder Tagesstunde eingeführt, und Geschäftsleute versammelten sich am Mittag zum Gebet und Lobgesang. Es herrschte da keine schwärmerische Aufregung, sondern eine allgemeine Feierlichkeit ruhte auf den Gemütern des Volkes. Sein Wirken, gleich dem der früheren Reformatoren, überzeugte weit mehr das Verständnis und erweckte das Gewissen als nur die Gefühle zu erregen.
Im Jahre 1833 erhielt Miller von der Baptistenkirche, der er angehörte, die Erlaubnis zu predigen. Viele Prediger seiner Gemeinschaft billigten sein Werk, und kraft ihrer formellen Gutheißung setzte er sein Wirken fort. Er reiste und predigte unaufhörlich, wenn auch sein persönliches Wirken hauptsächlich auf Neuengland und die mittleren Staaten beschränkt war. Mehrere Jahre lang bestritt er sämtliche Auslagen aus seiner eigenen Kasse und erhielt auch später nicht einmal genügend, um die Reisekosten nach den verschiedenen Orten, wohin er geladen wurde, zu decken. Demnach belastete seine öffentliche Arbeit, anstatt ihm einen finanziellen Gewinn zu bringen, sein Eigentum, so daß es während dieses Abschnitts seines Lebens immer mehr abnahm. Er war Vater einer großen Familie, da aber alle genügsam und fleißig waren, so reichte sein Landgut sowohl für ihren als auch seinen eigenen Unterhalt aus.
Im Jahre 1833, zwei Jahre nachdem Miller angefangen hatte, die Beweise des baldigen Kommens Christi öffentlich zu verkündigen, erschien das letzte jener Zeichen, welche der Heiland als Vorläufer seiner Wiederkunft verheißen hatte. Jesus sagte: „Die Sterne werden vom Himmel fallen,“ und Johannes erklärte in der Offenbarung, als er im Gesicht die Vorgänge, welche den Tag Gottes ankündigen sollten, erblickte: „Die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, gleichwie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von großem Winde bewegt wird.“ (Matth. 24, 29; Offb. 6, 13.) Diese Weissagung erfüllte sich auffallend und eindrücklich in dem großen Meteorregen vom 13. Nov. 1833. Es war die ausgedehnteste und wunderbarste Entfaltung fallender Sterne, welche je berichtet worden ist. „Das ganze Himmelsgewölbe über die gesamten Vereinigten Staaten hin war damals stundenlang in feuriger Bewegung. Noch nie hatte sich von der ersten Ansiedlung an in diesem Land eine Naturerscheinung gezeigt, die mit solch großer Bewunderung von einem Teil der Bevölkerung und mit so viel Schaudern und Bestürzung von einem andern Teil betrachtet wurde.“ „Die Erhabenheit und feierliche Pracht lebt noch heute frisch in manchem Gedächtnis. ... Noch nie ist der Regen dichter auf die Erde gefallen als jene Meteore fielen; im Osten, Westen, Norden und Süden war es gleich. In einem Wort, das ganze Himmelsgewölbe schien in Bewegung zu sein. ... Das Schauspiel, wie Prof. Sillimans Journal es schildert, wurde in ganz Nordamerika gesehen. ... Bei vollkommen klarem und heiterem Himmel wurde von zwei Uhr bis zum hellen Tageslicht ein unaufhörliches Spiel blendend glänzender Lichtkörper am ganzen Himmel unterhalten.“ (Devens Fortschritt Amerikas, 28. Kap. Abschn. 1-5.)
„Keine Sprache kann der Pracht jenes herrlichen Schauspiels gerecht werden; ... niemand, der es nicht selbst gesehen, kann sich eine entsprechende Vorstellung von seiner Herrlichkeit machen. Es schien, als ob der ganze Sternenhimmel sich in der Nähe des Zenits in einem Punkt gesammelt hätte und mit Blitzesschnelle, gleichzeitig nach allen Richtungen des Horizonts hin seine Sterne hervorschieße; und doch wurden diese nicht erschöpft - Tausende folgten schnell der Bahn, die Tausende durcheilt hatten, als ob für diesen Anlaß erschaffen.“ (Christian Advocate and Journal, 13. Dez. 1833.) „Ein deutlicheres Bild von einem Feigenbaum, der seine Feigen abwirft, wenn er von einem heftigen Wind bewegt wird, kann nicht entworfen werden.“ (Portland Advertiser, 26. Nov. 1833.)
Im New Yorker „Journal of Commerce“ vom 14. Nov. 1833 erschien ein ausführlicher Artikel über diese wunderbare Naturerscheinung, worin es heißt: „Kein Weiser oder Gelehrter hat je, wie ich annehme, eine Erscheinung wie diejenige von gestern morgen mündlich oder schriftlich berichtet. Vor 1800 Jahren hat ein Prophet sie genau vorausgesagt, so wir uns nur die Mühe nehmen wollen, unter Sternenfall das Fallen von Sternen... in dem allein möglichen Sinne, in dem es buchstäblich wahr sein kann, zu verstehen.“
So spielte sich das letzte jener Zeichen seines Kommens ab, worüber Jesus seinen Jüngern sagte: „Also auch, wenn ihr das alles seht, so wisset, daß es nahe vor der Tür ist.“ (Matth. 24, 33.) Als das nächste große Ereignis, welches nach diesen Zeichen geschah, sah Johannes, daß der Himmel entwich wie ein zusammengerolltes Buch, während die Erde erbebte, die Berge und Inseln aus ihren Örtern bewegt wurden und die Gottlosen vor der Gegenwart des Menschensohnes entsetzt zu fliehen suchten. (Offb. 6, 12-17.)
Viele, welche Augenzeugen von dem Sternenfall waren, sahen ihn als den Vorboten des kommenden Gerichts an, „als ein fürchterliches Vorbild, einen sicheren Vorläufer, ein barmherziges Zeichen jenes großen und schrecklichen Tages.“ (Portland Advertiser, 26. Nov. 1833.) Auf diese Weise wurde die Aufmerksamkeit auf die Erfüllung der Weissagung gerichtet, und viele wurden dadurch veranlaßt, die Botschaft von dem zweiten Kommen Christi zu beachten.
Im Jahre 1840 erregte eine andere merkwürdige Erfüllung der Weissagung große Aufmerksamkeit. Zwei Jahre zuvor hatte Josia Litch, einer der leitenden Prediger, die das zweite Kommen Christi verkündigten, eine Auslegung des neunten Kapitels der Offenbarung veröffentlicht, in welcher der Fall des Osmanischen Reiches vorhergesagt wurde. Seiner Berechnung gemäß sollte diese Macht im Jahre 1840 im Monat August gestürzt werden; und nur wenige Tage vor dem Eintreffen schrieb er: „Wenn wir zugeben, daß die erste Zeitperiode, 150 Jahre, sich genau erfüllt hatte, ehe Konstantin XI. mit der Erlaubnis der Türken den Thron bestieg, und daß die 391 Jahre und 15 Tage am Schlusse der ersten Zeitperiode anfingen, so müssen sie am 11. August enden, wenn man erwarten darf, daß die Osmanische Macht in Konstantinopel gebrochen werden wird. Und ich glaube sicherlich, daß dies der Fall sein wird.“ (Signs of the Times and Expositors of Prophecy.’ 1. Aug. 1840.)
Genau zu der bezeichneten Zeit nahm die Türkei durch ihre Gesandten den Schutz der vereinigten Großmächte Europas an und stellte sich auf diese Weise unter die Aufsicht der christlichen Nationen. Dies Ereignis erfüllte die Vorhersagung genau. (Siehe Anhang.) Als es bekannt wurde, gewannen viele die Überzeugung, daß die Grundsätze der prophetischen Auslegung, wie Miller und seine Genossen sie angenommen hatten, richtig seien, und ein wunderbarer Antrieb wurde der Adventbewegung gegeben. Männer von Gelehrsamkeit und Rang vereinigten sich mit MilIer, um zu predigen und die Botschaft zu veröffentlichen, und von 1840 bis 1844 dehnte sich das Werk rasch aus.
William Miller besaß große geistige Gaben, geschult durch Nachdenken und Studium; und diesen fügte er die Weisheit des Himmels hinzu, indem er sich mit der Quelle der Weisheit in Verbindung setzte. Er war ein Mann von echtem Wert, der Achtung und Wertschätzung einflößen mußte, wo Rechtschaffenheit des Charakters und sittliche Vorzüge geschätzt wurden. Er besaß wahre Herzensfreundlichkeit, verbunden mit christlicher Demut und der Macht der Selbstbeherrschung, war aufmerksam und liebenswürdig gegen alle, bereit, auf die Meinungen anderer zu hören und ihre Beweisgründe zu erwägen. Ohne Leidenschaft oder Aufregung prüfte er alle Theorien und Lehren mit dem Wort Gottes; und sein gesundes Denken sowie seine gründliche Kenntnis der Heiligen Schrift setzten ihn in den Stand, den Irrtum zu widerlegen und die Lügen bloßzustellen.
Dennoch verfolgte er sein Werk nicht ohne schweren Widerstand. Es ging ihm wie den früheren Reformatoren: die Wahrheiten, welche er verkündigte, wurden von den bei dem Volk beliebten Lehrern nicht günstig aufgenommen. Da sie ihre Stellung nicht durch die Heilige Schrift aufrechterhalten konnten, waren sie gezwungen, ihre Zuflucht zu den Aussprüchen und Lehren der Menschen, den Überlieferungen der Väter zu nehmen. Aber Gottes Wort war das einzige von den Predigern der Adventwahrheit angenommene Zeugnis. „Die Bibel und die Bibel allein!“ war ihr Losungswort. Der Mangel an biblischen Beweisen seitens ihrer Gegner wurde durch Hohn und Spott ersetzt. Zeit, Mittel und Talent wurden angewandt, um diejenigen zu verunglimpfen, die nur dadurch Anstoß gaben, daß sie mit Freuden die Wiederkehr ihres Herrn erwarteten und danach strebten, ein heiliges Leben zu führen und andere zu ermahnen, sich auf sein Erscheinen vorzubereiten.
Ernstlich waren die an den Tag gelegten Bestrebungen, die Gemüter des Volkes von dem Gegenstand des zweiten Kommens Christi abzuziehen. Es wurde als Sünde, als etwas, dessen sich die Menschen schämen müßten, hingestellt, die Weissagungen zu erforschen, welche sich auf das Kommen Christi und das Ende der Welt beziehen. Auf diese Weise untergruben die beim Volk beliebten Prediger den Glauben an das Wort Gottes. Ihre Lehren machten die Menschen zu Ungläubigen, und viele fühlten sich frei, nach ihren eigenen gottlosen Gelüsten zu wandeln. Die Urheber des Übels aber legten alles den Adventisten zur Last.
Während Millers Name Scharen verständiger und aufmerksamer Zuhörer anzog, wurde er in der religiösen Presse selten genannt, ausgenommen um ihn ins Lächerliche zu ziehen oder zu beschuldigen. Die Gleichgültigen und Gottlosen, kühner gemacht durch die Stellung religiöser Lehrer, griffen in ihren Bemühungen, Schmach auf ihn und sein Werk zu häufen, zu schändlichen Ausdrücken, zu gemeinen und gotteslästerlichen Witzeleien. Der altersgraue Mann, der die Bequemlichkeiten seines häuslichen Herdes verlassen hatte, um auf seine eigenen Kosten von Stadt zu Stadt, von Flecken zu Flecken zu reisen, der sich unaufhörlich abmühte, der Welt die feierliche Warnung von dem nahestehenden Gericht zu verkündigen, wurde höhnisch als Schwärmer, Lügner und vorwitziger Schalk verschrieen.
Der auf ihn gehäufte Spott, die Verleumdungen und Schmähungen riefen sogar bei der weltlichen Presse einen entrüsteten Widerstand hervor. „Einen Gegenstand von so überwältigender Hoheit und furchtbaren Folgen“ mit Leichtfertigkeit und Scherz behandeln, erklärten weltlich gesinnte Männer, hieße nicht nur „mit den Gefühlen seiner Vertreter und Verteidiger sein Spiel treiben, sondern auch den Tag des Gerichtes ins Lächerliche ziehen, die Gottheit selbst verhöhnen und sich über die Schrecken jenes Gerichtshofes lustig machen.“ (Bliß, S. 183.)
Der Anstifter alles Übels versuchte nicht nur der Wirkung der Adventbotschaft entgegenzuarbeiten, sondern auch den Botschafter selbst umzubringen. Miller machte eine praktische Anwendung der biblischen Wahrheit auf die Herzen seiner Hörer, rügte ihre Sünden und beunruhigte ihre Selbstzufriedenheit, und seine einfachen, schneidenden Worte erregten ihre Feindschaft. Durch den bekundeten Widerstand der Kirchenglieder wurden die niederen Volksklassen ermutigt, weiterzugehen, und Feinde schmiedeten Pläne, ihm beim Verlassen der Versammlung das Leben zu nehmen. Doch heilige Engel waren unter der Menge und einer von ihnen, in Gestalt eines Mannes, nahm diesen Knecht Gottes beim Arm und geleitete ihn durch den zornigen Pöbelhaufen in Sicherheit. Sein Werk war noch nicht beendet, und Satan und seine Sendboten fanden sich in ihren Absichten getäuscht.
Trotz allem Widerstand hatte sich der Eindruck der Adventbewegung vertieft. Von Dutzenden und Hunderten waren die Versammlungen auf viele Tausende herangewachsen. Die verschiedenen Gemeinschaften hatten großen Zuwachs erfahren; nach etlicher Zeit aber offenbarte sich der Geist des Widerspruches auch gegen diese Bekehrten, und man fing an, diejenigen zu maßregeln, welche Millers Ansichten teilten. Dies Vorgehen rief eine Erwiderung aus seiner Feder in einer Denkschrift an die Christen aller Gemeinschaften hervor, worin er geltend machte, daß falls seine Lehren falsch seien, man ihm seinen Irrtum aus der Bibel beweisen solle.
„Was haben wir geglaubt,“ sagte er, „das zu glauben uns nicht durch das Wort Gottes geboten wurde, welches, wie ihr selbst zugebt, die Regel und zwar die einzige Regel unseres Glaubens und Wandels ist? Was haben wir getan, das solche giftige Anschuldigungen von der Kanzel und der Presse gegen uns herausfordern und euch eine gerechte Ursache geben sollte, uns [Adventisten] aus euren Kirchen und eurer Gemeinschaft auszuschließen?“ „Haben wir unrecht, so zeigt uns doch, worin unser Unrecht bestehe; zeigt uns aus dem Wort Gottes, daß wir im Irrtum sind. Der Verspottung haben wir genug gehabt, dadurch werden wir nie überzeugt, daß wir unrecht haben; das Wort Gottes allein kann unsere Ansichten ändern. Unsere Schlüsse wurden mit Überlegung und unter Gebet gemacht, da wir die Beweise in der Heiligen Schrift fanden.“ (Bliß, S. 250-252.)
Von Jahrhundert zu Jahrhundert sind den Warnungen, welche Gott durch seine Knechte der Welt gesandt hat, der gleiche Zweifel und Unglaube entgegengebracht worden. Als die Gottlosigkeit der vorsintflutlichen Menschen ihn veranlaßte, eine Wasserflut über die Erde zu bringen, tat er ihnen erst seine Absicht kund, damit sie Gelegenheit haben möchten, sich von ihren bösen Wegen abzuwenden. Hundertundzwanzig Jahre scholl der Warnungsruf in ihren Ohren, Buße zu tun, damit der Zorn Gottes sich nicht in ihrem Untergang offenbare. Aber die Botschaft schien ihnen wie eine eitle Mär, und sie glaubten ihr nicht. In ihrer Gottlosigkeit erkühnt, verspotteten sie den Boten Gottes, verschmähten seine Bitten und beschuldigten ihn sogar der Vermessenheit. Wie darf es ein Mann wagen, gegen alle Großen der Erde aufzutreten? Wäre Noahs Botschaft wahr, warum würde dann nicht alle Welt sie sehen und glauben? Was ist eines Mannes Behauptung der Weisheit von Tausenden gegenüber! Sie wollten weder der Warnung Glauben schenken noch Zuflucht in der Arche suchen.
Spötter wiesen auf die Dinge der Natur hin - auf die unveränderliche Reihenfolge der Jahreszeiten, auf den blauen Himmel, der noch nie Regen herab gesandt hatte, auf die grünen Gefilde, erfrischt durch den milden Tau der Nacht - und riefen aus: „Redet er nicht in Gleichnissen?“ Geringschätzend erklärten sie den Prediger der Gerechtigkeit für einen wilden Schwärmer, jagten eifriger ihren Vergnügungen nach und blieben beharrlicher denn je auf ihren bösen Wegen. Doch verhinderte ihr Unglaube nicht das vorhergesagte Ereignis. Gott duldete ihre Gottlosigkeit lange und gab ihnen reichlich Gelegenheit zur Buße; aber seine Gerichte ergingen zur bestimmten Zeit über die Verwerfer seiner Gnade.
Christus erklärt, daß ähnlicher Unglaube bezüglich seines zweiten Kommens bestehen werde. Die Menschen zu Noahs Zeiten „achteten’s nicht, bis die Sintflut kam und nahm sie alle dahin; also“, mit des Heilandes Worten, „wird auch sein die Zukunft des Menschensohnes.“ (Matth. 24, 39.) Wenn das bekenntliche Volk Gottes sich mit der Welt vereint, wandelt wie sie wandelt, und mit ihr teilnimmt an ihren verbotenen Vergnügungen; wenn die Üppigkeit der Welt zur Üppigkeit der Kirche wird; wenn die Hochzeitsglocken klingen und alle vielen Jahren weltlichen Gedeihens entgegensehen - dann, plötzlich wie der Blitz vom Himmel herabfährt, wird das Ende ihrer glänzenden Vorspiegelungen und trüglichen Hoffnungen kommen.
Wie Gott seinen Diener sandte, um die Welt vor der kommenden Sintflut zu warnen, so sandte er auserwählte Boten, um die Nähe des Jüngsten Gerichts bekanntzumachen. Und wie Noahs Zeitgenossen die Vorhersagungen des Predigers der Gerechtigkeit höhnend verlachten, so spotteten auch zur Zeit Millers viele sogar aus dem bekenntlichen Volke Gottes über die Warnung.
Und warum war die Lehre und das Predigen vom zweiten Kommen Christi den Kirchen so unwillkommen? Während die Ankunft des Herrn den Gottlosen Wehe und Verderben bringt, ist sie für die Gerechten voller Freude und Hoffnung. Diese große Wahrheit gereichte den Gottgetreuen durch alle Zeitalter hindurch zum Trost; warum war sie jetzt wie ihr Urheber seinem bekenntlichen Volk zu einem Stein des Anstoßes und einem Fels des Ärgernisses geworden? Hatte doch unser Heiland selbst seinen Jüngern die Verheißung gegeben: „Wenn ich hingehe, euch die Stätte zu bereiten, so will ich wiederkommen und euch zu mir nehmen.“ (Joh. 14, 3.) Als der mitleidsvolle Erlöser die Verlassenheit und den Kummer seiner Nachfolger voraussah, beauftragte er Engel, sie mit der Versicherung zu trösten, daß er persönlich wiederkommen werde, geradeso wie er in den Himmel aufgefahren war. Als die Jünger dort standen und zum Himmel aufschauten, um den letzten Schimmer von ihm, den sie liebten, zu sehen, wurde ihre Aufmerksamkeit auf die Worte gerichtet: „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr und sehet gen Himmel? Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.“ (Apg. 1, 11.) Durch die Botschaft des Engels wurde die Hoffnung neu angefacht. Die Jünger „kehrten wieder gen Jerusalem mit großer Freude und waren allewege im Tempel, priesen und lobten Gott.“ (Luk. 24, 52. 53.) Sie freuten sich nicht, weil Jesus von ihnen getrennt war und sie jetzt im Kampf mit den Prüfungen und Versuchungen der Welt allein standen, sondern sie frohlockten wegen der Versicherung des Engels, daß Jesus wiederkommen werde.
Die Verkündigung des Kommens Christi sollte nun, wie damals, als sie durch die Engel den Hirten von Bethlehem gemacht wurde, eine Botschaft großer Freude sein. Alle, die den Heiland wahrhaft liebhaben, können die auf Gottes Wort gegründete Botschaft, daß der, welcher der Mittelpunkt ihrer Hoffnungen des ewigen Lebens ist, wiederkommen soll - nicht um wie bei seinem ersten Kommen geschmäht, verachtet und verworfen zu werden, sondern um in Macht und Herrlichkeit sein Volk zu erlösen -, nur mit Freuden begrüßen. Alle, die den Heiland nicht lieben, wünschen, daß er wegbleiben möge, und es kann keinen folgerichtigeren Beweis dafür geben, daß die Kirchen von Gott abgefallen sind, als die Erbitterung und die Feindseligkeit, welche durch diese von Gott gesandte Botschaft erregt wird.
Wer die Botschaft von der Wiederkunft Christi annahm, erkannte die Notwendigkeit der Reue und Demütigung vor Gott. Viele hatten lange hin und her geschwankt zwischen Christo und der Welt, fühlten aber nun, daß es Zeit sei, einen festen Standpunkt einzunehmen. „Die Dinge der Ewigkeit nahmen für sie eine ungewöhnliche Wirklichkeit an. Der Himmel wurde ihnen nahe gebracht, und sie fühlten sich vor Gott schuldig.“ (Bliß, S. 146.) Christen erwachten zu neuem geistlichen Leben. Sie erfaßten es, daß die Zeit kurz sei und daß bald getan werden müsse, was sie für ihre Mitmenschen tun wollten. Das Irdische trat in den Hintergrund, die Ewigkeit schien sich vor ihnen aufzutun, und die Angelegenheiten, das ewige Wohl und Wehe der Seele betreffend, stellten alle zeitlichen Fragen in den Schatten. Der Geist Gottes ruhte auf ihnen und verlieh ihrem ernsten Aufruf an ihre Brüder und an Sünder zur Vorbereitung auf den Tag Gottes besondere Kraft. Das stille Zeugnis ihres täglichen Wandels war den scheinheiligen und unbekehrten Kirchengliedern ein beständiger Vorwurf. Sie wünschten, in ihrem Jagen nach Vergnügen, ihrem Hang zum Gelderwerb und ihrem Streben nach weltlicher Ehre nicht gestört zu werden. Auf diese Weise entstand Feindschaft und Widerstand gegen die Adventwahrheit und ihre Verkündiger.
Da sich die Beweisführungen aus den prophetischen Zeitperioden als unerschütterlich herausstellten, bemühten sich die Gegner, von der Untersuchung des Gegenstandes abzuraten, indem sie lehrten, die Weissagungen seien versiegelt. Also folgten die Protestanten den Fußstapfen der römisch katholischen Kirche. Während die päpstliche Kirche den Laien die Bibel (siehe Anhang) vorenthielt, behaupteten die protestantischen Kirchen, daß ein wichtiger Teil des heiligen Wortes - und zwar jener Teil, der insbesondere auf unsere Zeit verweisende Wahrheiten vorführt - nicht verstanden werden könnte.
Prediger und Volk erklärten, die Weissagungen Daniels und der Offenbarung seien unverständliche Geheimnisse. Aber Christus hatte seine Jünger bezüglich der Ereignisse, welche in ihrer Zeit stattfinden sollten, auf die Worte des Propheten Daniel verwiesen und gesagt: „Wer das liest, der merke darauf!“ (Matth. 24, 15.) Der Behauptung, daß die Offenbarung ein Geheimnis sei, das nicht verstanden werden könne, widerspricht schon der Titel des Buches: „Dies ist die 0ffenbarung Jesu Christi, die ihm Gott gegeben hat seinen Knechten zu zeigen, was in der Kürze geschehen soll. ... „ Selig ist, der da liest und die da hören die Worte der Weissagung und beha1ten, was darin geschrieben ist; denn die Zeit ist nahe.“ (Offb. 1, 1-3.)
Der Prophet sagt: „Selig ist, der da liest“ – es gibt welche, die nicht lesen wollen; der Segen ist nicht für sie. „Und die da hören“ – es gibt auch etliche, die sich weigern, etwas betreffs der Weissagungen zu hören; der Segen ist auch nicht für diese Klasse von Menschen. „Und bewahren, was darin geschrieben ist“ - viele weigern sich, auf die in der Offenbarung enthaltenen Warnungen und Unterweisungen achtzugeben; auch sie können den verheißenen Segen nicht beanspruchen. Alle, welche die Gegenstände der Weissagung ins Lächerliche ziehen und über diese feierlich gegebenen Sinnbilder spotten; alle, die sich weigern, ihr Leben umzugestalten und sich auf die Zukunft des Menschensohnes vorzubereiten, werden ohne Segen bleiben.
Wie können Menschen es wagen, im Hinblick auf das Zeugnis der Inspiration zu lehren, daß die Offenbarung ein Geheimnis sei, das über den Bereich des menschlichen Verständnisses hinaus liege? Sie ist ein offenbartes Geheimnis, ein geöffnetes Buch. Das Studium der Offenbarung richtet die Gedanken auf die Weissagungen Daniels, und beide enthalten höchst wichtige Unterweisungen, welche Gott den Menschen über die am Ende der Weltgeschichte stattfindenden Ereignisse gegeben hat.
Johannes wurde ein tiefer und ergreifender Einblick in die Erfahrungen der Gemeinde eröffnet. Er sah die Stellung, die Gefahren, die Kämpfe und die schließliche Befreiung des Volkes Gottes. Er hörte die Schlußbotschaften, welche die Ernte der Erde zur Reife bringen werden, entweder als Garben für die himmlischen Scheunen oder als Bündel für das Feuer der Vernichtung. Höchst wichtige Dinge wurden ihm besonders für die letzte Gemeinde offenbart, damit die, welche sich vom Irrtum zur Wahrheit wenden würden, hinsichtlich der ihnen bevorstehenden Gefahren und Kämpfe unterrichtet würden. Niemand braucht bezüglich der kommenden Ereignisse auf Erden in Finsternis zu sein.
Warum denn diese weitverbreitete Unkenntnis über einen wichtigen Teil der Heiligen Schrift? Woher diese allgemeine Abneigung, ihre Lehren zu untersuchen? Es ist die Folge eines wohlberechneten Planes des Fürsten der Finsternis, vor den Menschen das zu verbergen, wodurch seine Täuschungen offenbar werden. Aus diesem Grunde sprach Christus, der Offenbarer, den Kampf gegen das Studium der Offenbarung voraussehend, einen Segen über alle aus, die da lesen, hören und die Worte der Weissagung beachten.


 
KAPITEL 19

LICHT DURCH FINSTERNIS

Durch alle Jahrhunderte hindurch wiederholt sich das Werk Gottes auf Erden in jeder großen Reformation oder religiösen Bewegung mit auffallender Ähnlichkeit. Gott verfährt mit den Menschen stets nach denselben Grundsätzen. Die wichtigen Bewegungen der Gegenwart finden ihr Gegenstück in denen der Vergangenheit, und die Erfahrungen der Gemeinde früherer Zeiten bieten wertvolle Lehren für unsere eigene Zeit.
Daß Gott durch seinen Heiligen Geist seine Knechte auf Erden in ganz besonderer Weise in den großen Bewegungen zur Weiterführung des Heilswerkes lenkt, wird in der Bibel deutlich gelehrt. Menschen sind Werkzeuge in Gottes Hand; er bedient sich ihrer, um seine Absichten der Gnade und der Barmherzigkeit auszuführen. Jeder hat seine Aufgabe; einem jeden ist ein Maß des Lichtes verliehen, den Erfordernissen seiner Zeit entsprechend und hinreichend, um ihn zur Verrichtung des Werkes, das Gott ihm auferlegt hat, zu befähigen. Aber kein Mensch, wie sehr er auch vom Himmel geehrt werden mag, hat einen vollen Begriff von dem großen Erlösungsplan erlangt oder auch nur die göttliche Absicht in dem Werk für seine eigene Zeit völlig erkannt. Die Menschen verstehen nicht völlig, was Gott durch das Werk, welches er ihnen zu tun gibt, ausrichten möchte; sie begreifen die Botschaft, die sie in seinem Namen verkündigen, nicht in ihrer ganzen Tragweite.
„Meinst du, daß du so viel wissest, was Gott weiß, und wollest es so vollkommen treffen wie der Allmächtige?“ „Denn meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr; sondern soviel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege und meine Gedanken denn eure Gedanken.“ „Ich bin Gott, und keiner mehr, ein Gott, desgleichen nirgends ist, der ich verkündige zuvor, was hernach kommen soll, und vorlängst, ehe denn es geschieht.“ (Hiob 11, 7; Jes. 55, 8. 9; 46, 9. 10.)
Selbst die Propheten, welche durch die besondere Erleuchtung des Geistes begünstigt worden waren, erfaßten die Bedeutung der ihnen anvertrauten Offenbarungen nicht völlig. Der Sinn sollte von Zeit zu Zeit entfaltet werden, je nachdem das Volk Gottes die darin enthaltenen Belehrungen benötigen würde.
Petrus schrieb von der durch das Evangelium ans Licht gebrachten Erlösung und sagte: „Nach dieser Seligkeit haben gesucht und geforscht die Propheten, die von der Gnade geweissagt haben, so auf euch kommen sollte, und haben geforscht, auf welche und welcherlei Zeit deutete der Geist Christi, der in ihnen war und zuvor bezeugt hat die Leiden, die über Christum kommen sollten, und die Herrlichkeit darnach; welchen es offenbart ist. Denn sie haben's nicht sich selbst, sondern uns dargetan.“ (l. Petr. 1, 10–12.)
Doch während es den Propheten nicht verliehen war, die ihnen offenbarten Dinge völlig, zu verstehen, so suchten sie doch ernstlich, alles Licht zu gewinnen, welches Gott ihnen zu zeigen für gut fand. Sie suchten und forschten, auf welche und welcherlei Zeit der Geist Christi, der in ihnen war, deutete. Welch eine Lehre für die Kinder Gottes im christlichen Zeitalter, zu deren Nutzen diese Weissagungen seinen Knechten gegeben wurden! Nicht für sie selbst, sondern damit sie es uns darreichten. Schaut diese heiligen Männer Gottes an, die gesucht und geforscht haben bezüglich der ihnen gegebenen Offenbarungen für Geschlechter, die noch nicht geboren waren. Stellt ihren heiligen Eifer der sorglosen Gleichgültigkeit gegenüber, mit der die Bevorzugten späterer Jahrhunderte diese Gabe des Himmels behandeln. Welch ein Vorwurf für die bequemlichkeitssüchtige, weltliebende Sorglosigkeit, die sich zufrieden gibt mit der Erklärung, die Weissagungen können nicht verstanden werden!
Obgleich der beschränkte menschliche Verstand unzulänglich ist, in den Rat des Ewigen einzudringen oder das Ende seiner Absichten völlig zu verstehen, so ist es doch infolge eines Irrtums oder einer Vernachlässigung seitens der Menschen, daß sie die Botschaften vom Himmel nur so dunkel erfassen. Häufig sind die Gemüter, sogar der Knechte Gottes, durch menschliche Anschauungen, Satzungen und falsche Lehren so verblendet, daß sie die grollen Dinge, welche er in seinem Worte offenbart hat, nur teilweise erfassen können. So verhielt es sich mit den Jüngern Christi selbst dann, als der Heiland persönlich mit ihnen war. Ihr Verständnis war durchdrungen von den volkstümlichen Begriffen über den Messias als einen weltlichen Fürsten, der Israel auf den Thron eines Weltreiches erheben sollte, und sie konnten die Bedeutung seiner Worte, mit denen er seine Leiden und seinen Tod voraussagte, nicht fassen.
Christus selbst hatte sie mit der Botschaft hinaus gesandt: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich ist herbei gekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium.“ (Mark. 1, 15.) Diese Botschaft gründete sich auf Daniel 9. Der Engel erklärte dort, daß die 69 Wochen bis auf Christum, den Fürsten, reichen sollten; und mit hohen Hoffnungen und freudiger Erwartung blickten die Jünger vorwärts auf die Errichtung des messianischen Reiches in Jerusalem, das über die ganze Erde herrschen sollte.
Sie predigten die ihnen von Christo anvertraute Botschaft, obgleich sie selbst ihren Sinn mißverstanden. Während sich die Verkündigung auf Dan. 9, 25 stützte, sahen sie nicht in dem nächsten Vers des nämlichen Kapitels, daß der Gesalbte ausgerottet werden sollte. Von ihrer frühesten Jugend hing ihr Herz an der vorempfundenen Herrlichkeit eines irdischen Reiches, und dadurch wurde ihr Verstand verblendet, sowohl mit Rücksicht auf die Angaben der Weissagung als auch auf die Worte Christi.
Sie verrichteten ihre Pflicht, indem sie der jüdischen Nation die Einladung der Barmherzigkeit anboten und dann, gerade zu der Zeit, da sie erwarteten, daß ihr Herr den Thron Davids einnehmen werde, sahen sie ihn wie einen Übeltäter ergriffen, gegeißelt, verspottet, verurteilt und am Kreuz auf Golgatha erhoben. Welche Verzweiflung und Seelenqual marterte die Herzen der Jünger während der Tage, da ihr Herr im Grabe schlief!
Christus war zur genauen Zeit und auf die in der Weissagung angedeutete Art und Weise gekommen. Das Zeugnis der Schrift war in jeglicher Einzelheit seines Lehramtes erfüllt worden. Er hatte die Botschaft des Heils verkündigt, und „seine Rede war gewaltig.“ Die Herzen seiner Zuhörer hatten an sich erfahren, daß sie vom Himmel war. Das Wort und der Geist Gottes bestätigten die göttliche Sendung seines Sohnes.
Die Jünger hingen noch immer mit unveränderter Hingabe an ihrem geliebten Meister; und doch waren ihre Gemüter in Ungewißheit und Zweifel gehüllt. In ihrer Seelenangst gedachten sie nicht der Worte Christi, die auf seine Leiden und seinen Tod hinwiesen. Wäre Jesus von Nazareth der wahre Messias gewesen, würden sie dann auf diese Weise in Täuschung und Schmerz gestürzt worden sein? Diese Frage quälte ihre Seelen, als der Heiland während der hoffnungslosen Stunden jenes Sabbats, der zwischen seinem Tod und seiner Auferstehung lag, in seinem Grabe ruhte.
Obgleich die Nacht der Sorgen sich finster um diese Nachfolger Christi zusammenzog, so waren sie doch nicht verlassen. Der Prophet sagte: „So ich im Finstern sitze, so ist doch der Herr mein Licht... Er wird mich ans Licht bringen, daß ich meine Lust an seiner Gnade sehe.“ „Denn auch Finsternis nicht finster ist bei dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht.“ Gott hatte gesagt: „Den Frommen geht das Licht auf in der Finsternis.“ „Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen; ich will sie führen auf den Steigen, die sie nicht kennen; ich will die Finsternis vor ihnen her zum Licht machen und das Höckerige zur Ebene. Solches will ich ihnen tun und sie nicht verlassen.“ (Micha 7, 8. 9.; Ps. 139, 12; 112, 4; Jes. 42, 16.)
Die Verkündigung, welche die Jünger im Namen des Herrn gemacht hatten, war in jeder Hinsicht richtig, und die Ereignisse, auf welche sie verwiesen, spielten sich gerade dann ab. „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist herbei gekommen!“ war ihre Botschaft gewesen. Bei dem Ablauf der Zeit - der 69 Wochen von Daniel 9, welche bis auf den Messias, „den Gesalbten“, reichen sollten - hatte Christus nach seiner Taufe durch Johannes im Jordan die Salbung des Heiligen Geistes empfangen. Und das Himmelreich, welches sie als herbei gekommen erklärt hatten, wurde beim Tode Christi aufgerichtet. Dies Reich war nicht, wie man sie gelehrt hatte, ein irdisches Reich; auch war es nicht das zukünftige unvergängliche Reich, welches aufgerichtet werden wird, wann das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden wird, des Reich ewig ist, und alle Gewalt ihm dienen und gehorchen wird. (Dan. 7, 27.) In der Bibelsprache wird der Ausdruck „Himmelreich“ gebraucht, um beide, das Reich der Gnade und das Reich der Herrlichkeit, zu bezeichnen. Das Reich der Gnade wird uns von Paulus im Hebräerbrief vor Augen geführt. Nachdem er auf Christum, den mitleidsvollen Fürsprecher, der Mitleid mit unserer Schwachheit hat, hingewiesen, fährt der Apostel fort: „Darum lasset uns hinzutreten mit Freudigkeit zu dem Gnadenstuhl, auf daß wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden.“ (Hebr. 4, 16.) Der Gnadenstuhl oder Gnadenthron stellt das Gnadenreich vor, denn das Dasein eines Thrones setzt das Vorhandensein eines Reiches voraus. In vielen seiner Gleichnisse wendet Christus den Ausdruck „das Himmelreich“ an, um das Werk der göttlichen Gnade an den Herzen der Menschen zu bezeichnen.
So stellt der Stuhl der Herrlichkeit das Reich der Herrlichkeit vor; und auf dies Reich wird Bezug genommen in den Worten des Heilandes: „Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in seiner Herrlichkeit, und alle seine heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, und werden vor ihm alle Völker versammelt werden.“ (Matth. 25, 31. 32.) Dies Reich ist noch zukünftig. Es wird nicht aufgerichtet werden bis zur Zeit der zweiten Ankunft Christi.
Das Reich der Gnade wurde unmittelbar nach dem Sündenfall errichtet, als ein Plan zur Erlösung des schuldigen Menschengeschlechts entworfen wurde. Es bestand damals in der Absicht und der Verheißung Gottes, und durch den Glauben konnten die Menschen seine Untertanen werden. Tatsächlich wurde es jedoch nicht aufgerichtet bis zum Tode Christi. Noch nach dem Antritt seiner irdischen Mission hätte der Heiland, ermattet von der Hartnäckigkeit und Undankbarkeit der Menschen, sich von dem auf Golgatha darbringenden Opfer zurückziehen können. In Gethsemane zitterte der Leidenskelch in seiner Hand. Selbst da noch hätte er den Blutschweiß von seiner Stirn wischen und das schuldige Geschlecht in seiner Sünde zugrunde gehen lassen können. Dann aber hätte es keine Erlösung für den gefallenen Menschen gegeben. Doch als der Heiland sein Leben hingab und mit seinem letzten Atemzug ausrief: „Es ist vollbracht!“ da war die Durchführung des Erlösungsplanes sichergestellt. Die Verheißung des Heils, dem sündigen Paar in Eden gegeben, war bestätigt. Das Reich der Gnade, welches zuvor in der Verheißung Gottes bestanden hatte, war dann aufgerichtet.
Somit gereichte der Tod Christi - gerade das Ereignis, welches die Jünger als den gänzlichen Untergang ihrer Hoffnung betrachtet hatten dazu, diese für ewig sicherzustellen. Während der Tod ihnen eine grausame Enttäuschung bereitet hatte, war er der höchste Beweis, daß ihr Glaube richtig gewesen war. Das Ereignis, das sie mit Trauer und Verzweiflung erfüllt hatte, tat einem jeden Kind Abrahams die Tür der Hoffnung auf, und in ihm gipfelte das zukünftige Leben und die ewige Glückseligkeit aller Gottgetreuen aus allen Zeitaltern.
Absichten unendlicher Barmherzigkeit gingen dennoch durch die getäuschten Erwartungen der Jünger in Erfüllung. Während ihre Herzen von der göttlichen Anmut und Macht der Lehre dessen, „der da redete, wie noch nie ein Mensch geredet“ hatte, gewonnen worden waren, war doch noch mit dem reinen Gold ihrer Liebe zu Jesu die wertlose Schlacke weltlichen Stolzes und selbstsüchtigen Ehrgeizes vermengt. Schon im oberen Saal, der zum Essen des Passahlammes hergerichtet war, in jener feierlichen Stunde, da der Meister schon in den Schatten Gethsemanes eintrat, „erhob sich ein Zank unter ihnen, welcher unter ihnen sollte für den Größten gehalten werden.“ (Luk. 22, 24.) Vor ihren Augen schwebte das Bild des Thrones, der Krone und der Herrlichkeit, während unmittelbar vor ihnen die Schmach und Seelenangst des Gartens, das Richthaus und das Kreuz auf Golgatha lagen. Es war der Stolz ihres Herzens, ihr Durst nach weltlicher Ehre, wodurch sie verleitet wurden, hartnäckig die falschen Lehren ihrer Zeit festzuhalten und die Worte des Heilandes, welche die wahre Beschaffenheit seines Reiches beschrieben und auf seine Leiden und seinen Tod hinwiesen, unbeachtet zu lassen. Und diese Irrtümer hatten die schwere aber notwendige Prüfung zur Folge, die zu ihrer Besserung zugelassen wurde. Obgleich die Jünger den Sinn ihrer Botschaft verkehrt aufgefaßt hatten und sie ihre Erwartungen nicht verwirklicht sahen, so hatten sie doch die ihnen von Gott aufgetragene Warnung verkündigt, und der Herr wollte ihren Glauben belohnen und ihren Gehorsam ehren. Ihnen sollte das Werk anvertraut werden, das herrliche Evangelium von ihrem auferstandenen Herrn unter allen Völkern zu verbreiten. Um sie dazu geschickt zu machen, wurde die ihnen so bitter vorkommende Erfahrung zugelassen.
Nach seiner Auferstehung erschien Jesus seinen Jüngern auf dem Wege nach Emmaus und „fing an von Mose und allen Propheten und legte ihnen alle Schriften aus, die von ihm gesagt waren.“ (Luk. 24, 27.) Die Herzen der Jünger wurden bewegt. Der Glaube wurde angefacht. Sie wurden „wiedergeboren zu einer lebendigen Hoffnung“, noch ehe Jesus sich ihnen zu erkennen gab. Es lag in seiner Absicht, ihren Verstand zu erleuchten und ihren Glauben an das feste prophetische Wort zu begründen. Er wünschte, daß die Wahrheit in ihren Herzen feste Wurzel fasse, nicht nur weil sie von seinem persönlichen Zeugnis unterstützt war, sondern auch des untrüglichen Beweises willen, der in den Sinnbildern und Schatten des Zeremonialgesetzes sowie in den Weissagungen des Alten Testamentes lag. Es war für die Nachfolger Christi notwendig, einen verständnisvollen Glauben zu haben, nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch um die Erkenntnis Christi der Welt verkündigen zu können. Und für den allerersten Schritt in der Erteilung dieser Erkenntnis verwies Jesus die Jünger auf Mose und die Propheten. In der Weise zeugte der auferstandene Heiland von dem Wert und der Wichtigkeit der alttestamentlichen Schriften.
Welch eine Veränderung ging in den Herzen der Jünger vor, als sie noch einmal die geliebten Züge ihres Meisters erblickten! (Luk. 24, 32.) In einem vollkommeneren und vollständigeren Sinn als je zuvor hatten sie „den gefunden, von welchem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben.“ Die Ungewißheit, die Angst, die Verzweiflung wichen vor der vollkommenen Zuversicht, dem unumwölkten Glauben. Kein Wunder, daß sie nach seiner Auferstehung „waren allewege im Tempel, priesen und lobten Gott.“ Das Volk, das nur von des Heilandes schmachvollem Tod wußte, erwartete in ihren Blicken den Ausdruck von Trauer, Verwirrung und Niederlage zu finden; statt dessen sahen sie Freude und Siegesgefühl. Welch eine Vorbereitung hatten diese Jünger für das ihnen bevorstehende Werk empfangen! Sie hatten die schwerste Prüfung, die sie womöglich befallen konnte, durchgemacht und gesehen, daß das Wort Gottes, als nach menschlichem Urteil alles verloren war, sieghaft in Erfüllung ging. Was vermochte hinfort ihren Glauben zu erschüttern oder ihre glühende Liebe zu dämpfen? In ihren bittersten Ängsten hatten sie „einen starken Trost“, eine Hoffnung, „einen sicheren und festen Anker“ der Seele. (Hebr. 6, 18. 19.) Sie waren Zeugen der Weisheit und Macht Gottes gewesen und wußten „gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürstentümer noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine Kreatur“ sie zu scheiden vermochte „von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn.“ „In dem allen,“ sagten sie, „überwinden wir weit, um deswillen, der uns geliebt hat.“ (Röm. 8, 38. 39. 37.) „Aber des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit.“ „Wer will verdammen? Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auf erweckt ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns.“ (l. Petr. 25; Röm. 8, 34.)
Der Herr sagt: „Mein Volk soll nicht mehr zu Schanden werden.“ „Den Abend lang währt das Weinen, aber des Morgens ist Freude.“ (Joel 2, 26; Ps. 30, 6.) Als an seinem Auferstehungstage diese Jünger den Heiland trafen und ihre Herzen in ihnen brannten, da sie seinen Worten lauschten; als sie auf das Haupt, die Hände und Füße blickten, die für sie verwundet worden waren; als Jesus vor seiner Himmelfahrt sie hinaus bis gen Bethanien führte, segnend seine Hände erhob ihnen gebot: „Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur“, und dann hinzu setzte: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage“; (Mark. 16, 15; Matth. 28, 20.) als am Tage der Pfingsten der verheißene Tröster herabkam und die Kraft aus der Höhe verliehen wurde und die Seelen der Gläubigen von der bewußten Gegenwart ihres aufgefahrenen Herrn ergriffen wurden, hätten sie das, obgleich ihr Weg durch Opfer und Martertod führen würde, das Amt des Evangeliums seiner Gnade und „die Krone der Gerechtigkeit“, die sie bei seinem Erscheinen empfangen sollten, vertauscht gegen die Herrlichkeit eines irdischen Thrones, welche die Hoffnung ihrer früheren Jüngerschaft gewesen war? Der „aber, der überschwenglich tun kann über alles, das wir bitten oder verstehen,“ hatte ihnen mit der Gemeinschaft seiner Leiden auch die Gemeinschaft seiner Freude verliehen - der Freude, „viel Kinder zur Herrlichkeit“ zu führen; unaussprechliche Freude, „eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit“, der gegenüber, wie Paulus sagt, „unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist,“ „der Herrlichkeit nicht wert“ ist.
Die Erfahrung der Jünger, welche beim ersten Kommen Christi „das Evangelium vom Reich“ verkündigten, hat ihr Gegenstück in der Erfahrung derer, welche die Botschaft seiner Wiederkunft verbreiteten. Gleichwie die Jünger hinausgingen und predigten: „Die Zeit ist erfüllet, das Reich Gottes ist herbei gekommen“, so verkündigten Miller und seine Mitarbeiter, daß die längste und letzte prophetische Zeitperiode, welche die Bibel erwähnt, fast zu Ende sei, daß das Gericht unmittelbar bevorstehe und das ewige Reich bald anbrechen solle. Das Predigen der Jünger bezüglich der Zeit war auf die 70 Wochen von Daniel 9 gegründet. Die von Miller und seinen Genossen verbreitete Botschaft kündete den Ablauf der 2300 Tage von Dan. 8, 14 an, von welchen die 70 Wochen einen Teil bilden.
Somit hatten die Predigten beiderseits die Erfüllung eines, wenn auch verschiedenen Teiles derselben großen prophetischen Zeitspanne zur Grundlage.
Gleich den ersten Jüngern verstanden auch William. Miller und seine Genossen selbst nicht völlig die Tragweite der Botschaft, die sie verkündigten. Lange in der Kirche genährte Irrtümer verhinderten sie, zu der richtigen Auslegung eines wichtigen Punktes der Weissagung zu gelangen, und obgleich sie die Botschaft, welche Gott ihnen zur Verkündigung an die Welt anvertraut hatte, predigten, wurden sie dennoch durch die verkehrte Auffassung ihrer Bedeutung enttäuscht.
In der Erklärung von Dan. 8, 14: „Bis Zweitausenddreihundert Abende und Morgen um sind, dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden“, hatte Miller, wie bereits gesagt, die allgemein herrschende Ansicht angenommen, daß die Erde das Heiligtum sei, und er glaubte, daß die Weihung des Heiligtums die Läuterung der Erde durch Feuer am Tage der Zukunft des Herrn sei. Als er deshalb fand, daß der Ablauf der 2300 Tage bestimmt angegeben worden war, schloß er daraus, daß dies die Zeit der zweiten Ankunft offenbare. Sein Irrtum entstand dadurch, daß er bezüglich des Heiligtums die volkstümliche Ansicht annahm.
In dem Schattendienst, welcher ein Hinweis auf das Opfer und die Priesterschaft Christi war, machte die Weihe oder Reinigung des Heiligtums den letzten Dienst aus, der von dem Hohenpriester im jährlichen Amtszyklus verrichtet wurde. Es war dies das Schlußwerk der Versöhnung, ein Wegschaffen oder Abtun der Sünde von Israel, und versinnbildete das Schlußwerk im Amt unseres Hohenpriesters im Himmel, in welchem er die Sünden seines Volkes, die in den himmlischen Büchern verzeichnet stehen, wegnimmt oder austilgt. Dieser Dienst erfordert eine Untersuchung, ein Richten, und geht der Wiederkunft Christi in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit unmittelbar voraus; denn, wenn er erscheint, ist ein jeglicher Fall schon entschieden worden. Jesus sagt: „Mein Lohn [ist] mit mir, zu geben einem jeglichen wie seine Werke sein werden.“ (Offb. 22, 12.) Dieses der zweiten Ankunft unmittelbar vorausgehende Gericht wird in der ersten Engelsbotschaft von Offb. 14, 7 verkündigt: Fürchtet Gott und gebet ihm die Ehre; denn die Zeit seines Gerichts ist gekommen!“
Alle, welche diese Warnung verkündigten, gaben die richtige Botschaft zur rechten Zeit. Doch wie die ersten Jünger auf Grund der Weissagung in Daniel 9 erklärten: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbei gekommen“, und dennoch nicht erkannten, daß der Tod des Messias in der nämlichen Schriftstelle angekündigt wurde; so predigten auch Miller und seine Mitarbeiter die auf Dan. 8, 14 und Offb. 14, 7 gegründete Botschaft, ohne zu erkennen, daß in Offenbarung 14 noch andere Botschaften vorgeführt waren, welche ebenfalls vor der Wiederkunft des Herrn verkündigt werden sollten. Wie die Jünger sich über das Reich täuschten, welches am Ende der 70 Wochen aufgerichtet werden sollte, so irrten die Adventisten bezüglich des Ereignisses, welches sich am Ende der 2300 Tage zutragen sollte. In beiden Fällen war es eine Annahme oder vielmehr ein Festhalten - der volkstümlichen Irrtümer, wodurch der Sinn gegen die Wahrheit verblendet wurde. Jene sowie diese erfüllten den Willen Gottes, indem sie die Botschaft brachten, die verbreitet werden sollte, und beide Parteien wurden infolge der eigenen verkehrten Auffassung ihrer Botschaft enttäuscht.
Dennoch erreichte Gott seine eigene gute Absicht und ließ es zu, daß die Warnung des Gerichts auf die erwähnte Weise verkündigt wurde. Der große Tag war herbei gekommen, und in seiner Vorsehung wurden die Menschen in bezug auf die bestimmte Zeit geprüft, um ihnen zu offenbaren, was in ihren Herzen war. Die Botschaft war zur Prüfung und Reinigung der Gemeinden bestimmt. Sie sollten zur Einsicht gebracht werden, ob ihre Herzen auf diese Welt oder auf Christum und den Himmel gerichtet seien. Sie gaben vor, den Heiland zu lieben; nun sollten sie ihre Liebe beweisen. Waren sie bereit, ihre weltlichen Hoffnungen und ehrgeizigen Pläne fahren zu lassen und mit Freuden die Ankunft ihres Herrn zu erwarten? Die Botschaft war dazu bestimmt, sie zu befähigen, ihren wahren geistlichen Zustand zu erkennen; sie war in Gnaden gesandt worden, um anzuspornen, den Herrn mit Reue und Demut zu suchen.
Auch die Täuschung, obgleich sie die Folge ihrer eigenen verkehrten Auffassung der Botschaft war, welche sie verkündigten, sollte zum Besten gewendet werden. Sie stellte die Herzen, welche vorgegeben hatten, die Warnung anzunehmen, auf die Probe. Würden sie angesichts ihrer Enttäuschung ohne weiteres ihre Erfahrung aufgeben und ihr Vertrauen auf das Wort Gottes wegwerfen? Oder würden sie mit Gebet und Demütigung zu entdecken suchen, worin sie verfehlt hatten, die Bedeutung der Weissagung zu erfassen? Wie viele hatten aus Furcht, aus blindem Antrieb und in Erregung gehandelt? Wie viele waren halbherzig und ungläubig? Tausende bekannten, die Erscheinung des Herrn liebzuhaben. Würden sie, wenn berufen, Spott und Schmach der Welt zu leiden, Verzögerung und Enttäuschung zu ertragen, den Glauben verleugnen? Würden sie, weil sie Gottes Verfahren mit ihnen nicht gleich verstehen konnten, Wahrheiten beiseite setzen, welche auf den deutlichsten Aussagen seines Wortes beruhten?
Diese Probe sollte die Standhaftigkeit derer offenbaren, welche im Glauben gehorsam gewesen gegen das, was sie als Lehre des Wortes und des Geistes Gottes annahmen. Diese Erfahrung sollte, wie keine andere es tun kann, ihnen die Gefahr zeigen, Theorien und Auslegungen der Menschen anzunehmen, anstatt die Bibel zu ihrem eigenen Ausleger zu machen. In den Kindern des Glaubens wurden die aus ihrem Irrtum hervorgehenden Schwierigkeiten und Sorgen die nötige Besserung wirken; sie würden zu einem gründlicheren Studium des prophetischen Wortes veranlaßt werden, würden lernen, mit mehr Sorgfalt die Grundlagen ihres Glaubens zu prüfen und alles Unbiblische, wie weitverbreitet es in der Christenwelt auch sein mochte, zu verwerfen.
Diesen Gläubigen sollte, wie einst den ersten Jüngern, das, was dem Verständnis in der Stunde der Prüfung dunkel schien, später aufgeklärt werden. Würden sie „das Ende des Herrn“ sehen, dann würden sie auch wissen, daß trotz den aus ihren Irrtümern hervorgehenden Schwierigkeiten seine Absichten der Liebe ihnen gegenüber sich beständig erfüllt haben. Sie würden durch eine Segen bringende Erfahrung erkennen, daß der Herr „barmherzig und ein Erbarmer“ ist; daß alle seine Wege „eitel Güte und Wahrheit“ sind „denen, die seinen Bund und Zeugnis halten.“


 
KAPITEL 20

EINE GROSSE RELIGIÖSE ERWECKUNG

In der Weissagung von der ersten Engelsbotschaft in Offenbarung 14 wird unter der Verkündigung der baldigen Ankunft Christi eine große religiöse Erweckung vorhergesagt. Johannes sieht einen Engel fliegen „mitten durch den Himmel, der hatte ein ewiges Evangelium zu verkündigen denen, die auf Erden wohnen, und allen Heiden und Geschlechtern und Sprachen und Völkern." „Mit großer Stimme" verkündigte er die Botschaft: „Fürchtet Gott und gebet ihm die Ehre; denn die Zeit seines Gerichts ist gekommen! Und betet an den, der gemacht hat Himmel und Erde und Meer und die Wasserbrunnen." (Offb. 14, 6.7.)
Die Tatsache, daß ein Engel als der Herold dieser Warnung bezeichnet wird, ist bedeutungsvoll. Es hat der göttlichen Weisheit gefallen, durch die Reinheit, die Herrlichkeit und die Macht des himmlischen Boten die Erhabenheit des durch die Botschaft zu verrichtenden Werkes und die Macht und Herrlichkeit, welche sie begleiten sollten, darzustellen. Und das Fliegen des Engels „mitten durch den Himmel“, die „große Stimme“, mit der die Botschaft verkündigt wird, und ihre Verbreitung unter allen, „die auf Erden wohnen“, „allen Heiden und Geschlechtern und Sprachen und Völkern“ bekunden die Schnelligkeit und die weltweite Ausdehnung der Bewegung.
Die Botschaft selbst gibt Licht über die Zeit, wann diese Bewegung stattfinden soll. Es heißt, daß sie ein Teil des „ewigen Evangeliums“ sei; und sie kündigt die Eröffnung des Gerichts an. Die Heilsbotschaft ist in allen Zeitaltern verkündigt worden; aber diese Botschaft ist ein Teil des Evangeliums, das nur in den letzten Tagen verkündigt werden konnte, denn nur dann konnte es wahr sein, daß die Zeit des Gerichts gekommen ist. Die Weissagungen zeigen eine Reihenfolge von Ereignissen, welche bis zur Eröffnung des Gerichts reichen. Dies ist besonders der Fall mit dem Buch Daniel. Jenen Teil seiner Weissagung aber, welcher sich auf die letzten Tage bezog, sollte Daniel verbergen und versiegeln „bis auf die letzte Zeit.“ Erst dann, wann diese Zeit erreicht war, konnte die Botschaft des Gerichts, welche sich auf die Erfüllung dieser Weissagung gründet, verkündigt werden. Aber in der letzten Zeit, sagt der Prophet, „werden viele darüber kommen und großen Verstand finden.“ (Dan. 12, 4.)
Der Apostel Paulus warnte die Gemeinde, das Kommen Christi in seinen Tagen zu erwarten: „Denn er [der Tag Christi] kommt nicht, es sei denn, daß zuvor der Abfall komme, und offenbart werde der Mensch der Sünde.“ (2. Thess. 2, 3.) Erst nach dem großen Abfall und der langen Regierungszeit des „Menschen der Sünde“ dürfen wir die Ankunft unseres Herrn erwarten. Der „Mensch der Sünde“, auch das „Geheimnis der Bosheit“, „das Kind des Verderbens“ und der „Boshafte“ genannt, stellt das Papsttum dar, welches, wie in der Weissagung vorhergesagt, seine Oberherrschaft 1260 Jahre lang innehaben sollte. Diese Zeit endete im Jahre 1798. Das Kommen Christi konnte nicht vor jener Zeit stattfinden. Die Warnung Pauls erstreckt sich über die lange christliche Bundeszeit hinunter bis zum Jahr 1798. Erst nach diesem Jahr sollte die Botschaft von der Wiederkunft Christi verkündigt werden.
Eine solche Botschaft wurde in den vergangenen Zeiten nie gepredigt. Paulus verkündigte sie, wie wir gesehen haben, nicht; er verwies seine Brüder für das Kommen des Herrn in die damals weit entfernte Zukunft. Die Reformatoren verkündigten sie nicht. Martin Luther erwartete das Gericht ungefähr 300 Jahre nach seiner eigenen Zeit. Aber seit dem Jahre 1798 ist das Buch Daniel entsiegelt worden, das Verständnis der Weissagungen hat zugenommen, und viele haben die feierliche Botschaft von dem nahen Gericht verkündigt.
Wie die große Reformation im 16. Jahrhundert, so tauchte die Adventbewegung gleichzeitig in verschiedenen Ländern der Christenheit auf. Sowohl in Europa als auch in Amerika wurden Männer des Glaubens und Gebets zum Studium der Weissagungen geführt, und indem sie die inspirierten Berichte verfolgten, fanden sie überzeugende Beweise, daß das Ende aller Dinge nahe war. In verschiedenen Ländern entstanden vereinzelte Gruppen von Christen, welche allein durch das Studium der Heiligen Schrift zu dem Glauben gelangten, daß die Ankunft des Heilandes nahe sei.
Im Jahre 1821, drei Jahre nach dem Miller das Verständnis der Weissagungen, welche auf die Zeit des Gerichts hinwiesen, erlangt hatte, begann Dr. Joseph Wolff, „der Missionar für die ganze Welt“, das baldige Kommen des Herrn zu verkündigen. Wolff war aus Deutschland gebürtig und von Hebräischer Abkunft; sein Vater war Rabbiner. Schon sehr früh wurde er von der Wahrheit der christlichen Religion überzeugt. Von tätigem und forschendem Verstand, hatte er aufmerksam den im elterlichen Hause stattfindenden Gesprächen gelauscht, wenn fromme Hebräer sich täglich dort einfanden, um ihre Hoffnungen und die Erwartungen ihres Volkes, die Herrlichkeit des kommenden Messias und die Wiederaufrichtung Israels zu besprechen. Als er eines Tages den Namen Jesus von Nazareth hörte, fragte der Knabe, wer das sei. Die Antwort lautete: „Ein höchst begabter Jude; weil er aber vorgab, der Messias zu sein, verurteilte ihn das jüdische Gericht zum Tode.“ „Warum denn,“ fuhr der Fragesteller fort, „ist Jerusalem zerstört? und warum sind wir in Gefangenschaft?“ -„Ach ach,“ antwortete der Vater, „weil die Juden die Propheten umbrachten.“ Dem Kinde kam sofort der Gedanke: „Vielleicht war auch Jesus von Nazareth ein Prophet, und die Juden haben ihn getötet, obgleich er unschuldig war.“ (Reiseerfahrungen von J. Wolff, 1. Bd., S. 6 f.) So stark war dies Gefühl, daß, obgleich es ihm untersagt war, eine christliche Kirche zu betreten, er doch oft von außen stehen blieb, um der Predigt zuzuhören.
Als er erst sieben Jahre alt war, prahlte er einem betagten christlichen Nachbar gegenüber von dem zukünftigen Triumph Israels beim Kommen des Messias, worauf der alte Mann freundlich sagte: „Lieber Junge, ich will dir sagen, wer der wirkliche Messias ist: Es ist Jesus von Nazareth,... den deine Vorfahren kreuzigten, wie sie vor alters die Propheten umbrachten. Geh heim und lies das 53. Kapitel des Jesaja, und du wirst überzeugt werden, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist.“ (s. vorige Anm.) Sofort bemächtigte sich seiner die Überzeugung, daß dem so sei. Er ging heim und las den betreffenden Abschnitt, wobei er sich verwunderte, zu sehen, wie vollkommen er in Jesu von Nazareth erfüllt worden war. Konnten die Worte des Christen wahr sein? Der Knabe bat seinen Vater um eine Erklärung der Weissagung; dieser aber trat ihm mit einem so finsteren Schweigen entgegen, daß er es nie wieder wagte, jenen Gegenstand zu erwähnen. Immerhin verstärkte sich hierdurch sein Verlangen, mehr von der christlichen Religion zu erfahren.
Die Erkenntnis, welche er suchte, wurde in seinem jüdischen Familienkreis sorgfältig von ihm ferngehalten; aber als er elf Jahre alt war, verließ er sein Vaterhaus, um in die Welt hinauszugehen, sich eine Ausbildung zu verschaffen und sich seine Religion und seinen Beruf zu wählen. Er fand eine Zeitlang Unterkunft bei Verwandten, wurde aber bald als Abtrünniger von ihnen vertrieben und mußte allein und mittellos sich seinen Weg unter Fremden bahnen. Er zog von Ort zu Ort, studierte zu gleicher Zeit fleißig und unterhielt sich, indem er Unterricht im Hebräischen erteilte. Durch den Einfluß eines katholischen Lehrers wurde er bewogen, den päpstlichen Glauben anzunehmen und faßte den Entschluß, Missionar unter seinem eigenen Volk zu werden. In dieser Absicht besuchte er wenige Jahre später die Lehranstalt der Propaganda zu Rom, um daselbst seine Studien fortzusetzen. Hier trug ihm seine Gewohnheit, unabhängig zu denken und offen zu reden, den Vorwurf der Ketzerei ein. Er griff offen die Mißbräuche der Kirche an und drang auf die Notwendigkeit einer Umgestaltung. Obgleich er zuerst von den päpstlichen Würdenträgern mit besonderen Gunstbezeigungen behandelt worden war, mußte er doch nach einiger Zeit Rom verlassen. Unter der Aufsicht der Kirche ging er von Ort zu Ort, bis man sich überzeugt hatte, daß er nie dahin gebracht werden könnte, sich dem Joch des Romanismus zu unterwerfen. Er wurde als unverbesserlich erklärt und man ließ ihn gehen, wohin er wollte. Er schlug nun den Weg nach England ein und trat, indem er den protestantischen Glauben annahm, der Landeskirche bei. Nach einem Studium von zwei Jahren trat er im Jahre 1821 seine Mission an.
Während Wolff die große Wahrheit von der ersten Ankunft Christi als „des Allerverachtetsten und Unwertesten, voller Schmerzen und Krankheit“ annahm, sah er, daß sie Weissagungen mit gleicher Deutlichkeit über sein zweites Kommen in Macht und Herrlichkeit vor Augen führten. Und während er sein Volk zu Jesu von Nazareth als den Verheißenen führen und sein Erscheinen in Niedrigkeit als ein Opfer für die Sünden der Menschen zeigen wollte, wies er sie gleichzeitig auf sein zweites Kommen als König und Befreier hin.
Er sagte: „Jesus von Nazareth, der wahre Messias, dessen Hände und Füße durchbohrt wurden, der wie ein Lamm zur Schlachtbank geführt wurde, der ein Mann der Schmerzen und mit Leiden bekannt war, der zum erstenmal kam, nachdem das Zepter von Juda und der Herrscherstab von seinen Füßen gewichen war, wird zum zweiten male kommen in den Wolken des Himmels mit der Posaune des Erzengels“ (Wolff, Forschungen und Missionswirken, S. 62) „und auf dem Ölberge stehen; und jene Herrschaft über die Schöpfung, die einst Adam zugewiesen und von ihm verwirkt wurde (l. Mose 1, 26; 3, 17), wird Jesu gegeben werden. Er wird König sein über die ganze Erde. Das Seufzen und Klagen der Schöpfung wird aufhören, und Lob- und Danklieder werden gehört werden. ... Wenn Jesus kommt in der Herrlichkeit seines Vaters mit seinen heiligen Engeln,... werden die toten Gläubigen zuerst auferstehen. (l. Thess. 4, 16; 1. Kor. 15, 23.) Dies nennen wir Christen die erste Auferstehung. Dann wird die Tierwelt ihren Charakter ändern (Jes. 11, 6-9) und wird Jesu untertan werden. Psalm 8. Allgemeiner Friede wird herrschen.“ (Wolffs Tagebuch, S. 378. 379.) „Der Herr wird wiederum auf die Erde nieder schauen und sagen: Siehe, es ist sehr gut.“ (Ebd., S. 294.)
Wolff glaubte, daß das Kommen des Herrn nahe sei. Seine Auslegung der prophetischen Zeitperioden wich nur um wenige Jahre von der Zeit ab, da Miller die große Vollendung erwartete. Denen, welche auf Grund der Stelle: „Von dem Tage aber und von der Stunde weiß niemand,“ geltend zu machen suchten, daß die Menschen hinsichtlich der Nähe der Wiederkunft Christi nichts wissen sollten, antwortete Wolff: „Sagte unser Herr, daß der Tag und die Stunden nie bekannt werden sollten? Hat er uns nicht Zeichen der Zeit gegeben, auf daß wir wenigstens das Herannahen seines Kommens wissen möchten, wie man an dem Feigenbaum, wenn er Blätter treibt, weiß, daß der Sommer nahe ist? Matth. 24, 32. Sollen wir jene Zeit nie kennen, obgleich er selbst uns ermahnt, den Propheten Daniel nicht nur zu lesen, sondern auch zu verstehen? Gerade in Daniel heißt es, daß diese Worte bis auf die Zeit des Endes verborgen bleiben sollten (was zu seiner Zeit der Fall war), und daß ’viele darüber kommen’ würden (ein Hebräischer Ausdruck für betrachten und nachdenken über die Zeit), und ’großen Verstand’ hinsichtlich der Zeit finden. Dan. 12, 4. Überdies will unser Herr damit nicht sagen, daß das Herannahen der Zeit nicht bekannt sein soll, sondern von dem bestimmten Tage und der Stunde weiß niemand. Er sagt, es soll genug durch die Zeichen der Zeit bekannt werden, um uns anzutreiben, uns auf seine Wiederkunft vorzubereiten, gleichwie Noah die Arche herstellte.“ (Forschen und Missionswirken, S. 404. 405.)
Hinsichtlich der volkstümlichen Auslegung oder Verdrehung der Heiligen Schrift schrieb Wolff: „Der größere Teil der christlichen Kirche ist von dem deutlichen Sinne der Heiligen Schrift abgewichen und hat sich der buddhistischen Lehre von Trugbildern zugewandt, welche vorgibt, daß das zukünftige Glück der Menschen in einem Hin- und Herschweben in der Luft bestehe; sie nehmen an, daß wenn sie lesen Juden, sie Heiden darunter verstehen müssen; und wenn sie lesen Jerusalem, die Kirche gemeint sei; und wenn es heißt Erde, es Himmel, bedeute; und daß sie unter dem Kommen des Herrn den Fortschritt der Missionsgesellschaften verstehen müssen; und daß auf den Berg des Hauses Gottes gehen, eine große Versammlung der Methodisten bedeute.“ (Tagebuch, S.96.)
Während der 24 Jahre von 1821 bis 1845 reiste Wolff weit umher; in Afrika besuchte er Ägypten und Abessinien; in Asien durchreiste er Palästina, Syrien, Persien, Buchara und Indien. Auch besuchte er die Vereinigten Staaten, nachdem er auf der Hinreise auf der Insel St. Helena gepredigt hatte. Im August des Jahres 1837 kam er in New York an; und nachdem er in jener Stadt gesprochen, predigte er in Philadelphia und Baltimore und ging schließlich nach Washington. „Hier wurde mir”, sagt er, „auf Vorschlag des Ex-Präsidenten John Quincy Adams in einem der Häuser des Kongresses einstimmig die Benützung des Kongreßsaales zum Zweck eines Vortrages zur Verfügung gestellt, den ich an einem Samstag, beehrt durch die Gegenwart sämtlicher Mitglieder des Kongresses, des Bischofs von Virginien sowie der Geistlichkeit und der Bürger von Washington hielt. Die nämliche Ehre wurde mir seitens der Regierungsmitglieder von New Jersey und Pennsylvanien zuteil, in deren Gegenwart ich Vorlesungen hielt über meine Forschungen in Asien, desgleichen über die persönliche, Regierung Jesu Christi.“ (Ebd., S. 398. 399.)
Dr. Wolff bereiste die unzivilisierten Länder ohne den Schutz irgendeiner europäischen Regierung; er erduldete viele Mühsale und war von zahllosen Gefahren umgeben. Er bekam Stockschläge auf die Fußsohlen, mußte hungern, wurde als Sklave verkauft und dreimal zum Tode verurteilt. Er wurde von Räubern angefallen und kam zuweilen beinahe vor Durst um. Einmal wurde er aller seiner Habe beraubt und mußte zu Fuß Hunderte von Meilen durch die Berge wandern, während der Schnee ihm ins Gesicht schlug und seine nackten Füße durch die Berührung mit dem gefrorenen Boden erstarrten.
Warnte man ihn davor, unbewaffnet unter wilde und feindselige Stämme zu gehen, so erklärte er, daß er mit Waffen - Gebet, Eifer für Christum und Vertrauen in seine Hilfe - versehen sei. „Ich habe auch“, sagte er, „die Liebe zu Gott und meinem Nächsten im Herzen, und die Bibel in meiner Hand.“ (Adams, Oft in Gefahren, S. 192 f.) Eine Hebräische und eine Englische Bibel führte er bei sich, wohin er auch ging. Von einer späteren Reise sagt er: „Ich... hielt die Bibel offen in meiner Hand. Ich fühlte, daß meine Kraft in dem Buche war, und daß seine Macht mich erhalten würde.“ (Ebd., S. 192f.)
Auf diese Weise harrte er in seiner Arbeit aus, bis die Botschaft des Gerichts über einen großen Teil des bewohnten Erdballs gegangen war. Unter Juden, Türken, Parsen, Hindus und vielen anderen Nationalitäten und Stämmen teilte er das Wort Gottes in den verschiedenen Sprachen aus und verkündigte überall die kommende Herrschaft des Messias.